von Erhard Crome
Der 22. Juni 1941, an dem Hitlerdeutschland und seine Satelliten die Sowjetunion überfielen, war ein Sonntag. Und es begann im Morgengrauen. Die Deutschen hatten im Grunde alles an Truppen zusammengezogen, was sie nicht für Besatzungszwecke in anderen Teilen Europas für unabkömmlich hielten: die größte Aggressionsarmee, die es bis dahin in der Weltgeschichte gegeben hatte. Die Militärhistoriker haben alle Zahlen und Fakten mehrfach hin- und her gewendet, die Kriegsplanungen der beiden Seiten analysiert. Es wurde die Frage debattiert, warum Stalin die Informationen zum Beispiel Richard Sorges, der als deutscher Kommunist in Japan für den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet hatte, über den baldigen Angriff ignorierte. Stalin, den der aus Ungarn stammende US-amerikanische Historiker John Lukacs dem Sinn seiner Politik nach für einen russischen Nationalisten, nicht für einen kommunistischen Internationalisten hält, verdrängte bis zum Überfall diese Hinweise, weil er der Warnung Bismarcks geglaubt hatte, Deutschland solle keinen Zweifrontenkrieg führen. So dumm, meinte Stalin, würde Hitler doch wohl nicht sein.
Auch siebzig Jahre nach Beginn dieses Krieges bewegt nach wie vor die Frage, wie die Deutschen überhaupt auf die Idee kommen konnten, Russland oder die Sowjetunion besiegen zu können. Den Ersten Weltkrieg hatten die Deutschen verloren. In einem Ermattungskrieg, weil sie den raschen Bewegungskrieg, den sie geplant hatten, nicht führen konnten. Auch nach der Eroberung eines großen Teils des europäischen Kontinents und der Verwandlung der nicht besetzten Länder in abhängige, hätte ein Blick auf die Weltkarte, die harten Bevölkerungs- und Wirtschaftsdaten und die Verteilung der Ressourcen in der Welt zeigen müssen, dass Deutschland auch einen zweiten Ermattungskrieg gegen das – 1941 nach wie vor bestehende – britische Weltreich, die USA und die Sowjetunion zusammen genommen nicht gewinnen konnte. Und der Krieg gegen Großbritannien war ja im Juni 1941 nicht beendet, im Gegenteil, die Deutschen hatten es zunächst aufgegeben, Britannien zeitnah erobern zu können, und hatten an der französischen Küste einen „Westwall“ errichtet, der eine riesige Verteidigungsanlage war.
Auch die Frage, was die Deutschen mit ihren Kriegen des 20. Jahrhunderts bezweckten, ist nicht abschließend beantwortet. Heinrich Mann schrieb in seinem berühmten Buch „Ein Zeitalter wird besichtigt“, das 1947 im Berliner Aufbau Verlag erschien, allerdings rückwärts, auf den Krieg von 1870/71 projiziert: „die militärischen Auseinandersetzungen mächtiger Nationen sind vergeblich, sie entscheiden nichts, da immer dieselben, wenigen Gegner, soweit man zurückdenkt, aufeinanderstoßen. Die Kriege in Europa hatten bisher – nur bis auf uns – einen begrenzten, einmaligen Zweck, – der auch anders zu erreichen war.“ Manns Einschränkung „nur bis auf uns“ verwies auf das Problem: Die von Deutschland angezettelten beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts fallen heraus aus der gemeinten Reihung. „Der Anzettler und Führer des letzten Rückfalles der Deutschen in ihre Angriffskriege… hat den vorigen Angriffskrieg noch überboten mit einem zweiten, der nichts mehr zu beweisen hatte. Bewiesen war, dass Deutschland nicht siegen kann… In dem trostlosen Bewußtsein, dass er, um es mit Europa aufzunehmen, weder der Stärkere noch der Berufene sei, hat Hitler… zu der Auskunft der Verzweiflung gegriffen. Blitzkrieg – ist das Eingeständnis, man könne nur mit einem Tag Vorsprung an das Ziel kommen, dann nie wieder. Totaler Krieg – heißt deutlich, dass die lebenden Nationen niemals wirklich besiegt sind: man muss sie umbringen. Verzweifelte Betrüger allein gehen sogar in einen Krieg, der eine äußerste Erprobung ihres Volkes sein soll, mit lauter Lügen. Aber Herrenvolk, Lebensraum, Geopolitik und jeder andere Schwindel sind verspätete Antworten auf das eine machtvolle Wort, das Europa einst wirklich erobert hat: Freiheit.“
Zu einer solchen Bewertung kamen auch Fachhistoriker, etwa der westdeutsche Ludwig Dehio. Er verwies 1952 darauf, dass Deutschland im Ersten Weltkrieg keine handlungsleitende Idee hatte, auf die es sich zum Zwecke der Kriegsführung ideologisch hätte berufen können, „wie einst die spanische dank der Gegenreformation, dann die französische Dank der Revolution, jetzt die angelsächsische dank des freien insularen Menschentums, bald die russische dank des Kommunismus. Deutschland verfügte über keinen vergleichbaren ostensiblen Missionsauftrag an die Menschheit schlechthin.“ Auch die Kriegsziele waren ja nicht wirklich klar; in der Schule lernten wir immer, wie bereits die Kriegszieldebatten Deutschlands im ersten Weltkrieg völlig maßlos waren und immer maßloser wurden. Nur: Diese Debatten wurden alle nach Ausbruch des Krieges geführt. Erst hatte der Kaiser das Land in den Krieg manövriert, und danach wurde in den unterschiedlichen Kreisen der herrschenden Klassen, die alle die Reichsleitung beeinflussen wollten, debattiert, was man mit diesem Krieg eigentlich wollte. Hinzu kam dann, dass in dem Maße, wie der Blitzkrieg zur raschen Eroberung von Paris gescheitert war, und sich die Front vor Verdun festfraß und unglaubliche Opfer kostete, die Deutschen bereits im Ersten Weltkrieg alle Kriegsverbrechen erfanden, die im 20. Jahrhundert eine Rolle spielen sollten: der Einsatz von Giftgas – also einer Massenvernichtungswaffe – in den Schützengräben, der Bombenkrieg gegen London, zunächst mit Luftschiffen, dann mit Flugzeugen, der U-Boot-Krieg zwecks Versenkung von Handelsschiffen.
Nach der Niederlage von 1918 kamen verschiedene Faktoren auf unselige Weise zusammen: der Generalstab bereitete den Revanchekrieg militärisch vor, die „Dolchstoßlegende“ schob die Verantwortung für die Niederlage der Arbeiterbewegung und den demokratischen Parteien zu, Rassismus und Antisemitismus ordneten diese Niederlage in eine gegen Deutschland gerichtete Weltverschwörung ein. Hitler, der zunächst von der Reichswehr als Volksredner engagiert worden war, schuf mit der Nazipartei und dann dem NS-Staat die Bedingungen für den Revanchekrieg: die Arbeiterparteien und Gewerkschaften wurden verboten, ihre Aktivisten umgebracht beziehungsweise in Lager gesperrt, die Rechte der Weimarer Verfassung wurden aufgehoben, die Wehrmacht kriegsfähig gemacht, die Wirtschaft auf Kriegszwecke ausgerichtet und die rassistische Ideologie sollte die geistigen Grundlagen schaffen, deren Fehlen Dehio in Bezug auf den ersten Weltkrieg benannt hatte. Die geistig und materiell entwurzelten Männer, die aus dem ersten Weltkrieg zurückgekommen waren, und die jüngeren, die das Fiasko des Reiches miterlebt hatten, boten die Grundlage dafür, dass die Nazis eine Massenbewegung in Deutschland sein konnten.
Vor diesem Hintergrund, der „Siege“ seit dem „Anschluss“ Österreichs, der Zerschlagung der Tschechoslowakei und dem Überfall auf Polen 1939 wurde die Entscheidung getroffen, 1941 die Sowjetunion zu überfallen. Erinnerlich waren der Nazi-Führung wie den deutschen Militärs, wie deutsche Truppen 1918 noch riesige Teile Russlands besetzt hatten. Das meinten sie, könnte wiederholt werden. Die Deutschen seien ohnehin überlegen, und da nun nicht mehr kaiserliche Beamte, sondern Kommunisten das Land regierten, müsste es noch schwächer sein als im ersten Weltkrieg. Im Juni 1941 kamen weder Hitler noch seine Generäle auf die Idee, dass man die Sowjetunion nicht durch einen Blitzfeldzug niederwerfen könnte. Lukacs zitiert Bismarck: „Russland ist nie so stark oder so schwach, wie es scheint.“ Der 9. Mai 1945 war die Konsequenz des 22. Juni 1941. Die Idee der Unfreiheit hat die geistige Leere des deutschen Eroberungsdranges nicht füllen können.
Schlagwörter: Erhard Crome, Kriegsziele, Sowjetunion, Überfall, Unfreiheit, Zweiter Weltkrieg