Aufstand spielen im DT
Im Berliner Deutschen Theater darf man – vorausgesetzt man löst ein Ticket für Jette Steckels „Kleinbürger“-Inszenierung nach Maxim Gorki (nicht „von“, hier irrt das Programmheft) – nach entsprechender Aufforderung durch Felix Goeser (Nil) in der zweiten Hälfte des Abends aufstehen und ganz laut rufen: “Ich werde das alles nicht länger hinnehmen, die Dinge müssen sich ändern.” Wahlweise kann man sich dann als Teil eines großen aufbegehrenden Ganzen – gegen was und wen auch immer – fühlen. Oder aber peinlich betroffen nach unten blicken: „Theater als Wohlfühloase für saturierte Protest-Freunde. Hier ist der Wutbürger bei sich selber angekommen. Kein schöner Anblick.“ So zumindest erlebte das Peter Laudenbach für die Süddeutsche Zeitung und so sieht das auch der Rezensent. Was Steckel und ihre Dramaturgin Anika Steinhoff auf die Bretter der einstigen Reinhardt-Bühne bringen, ist nicht Gorkis noch stark von Tschechowscher Melancholie geprägter, gegen eine erstarrte Welt aufbegehrender Bühnenerstling aus dem Jahre 1901. Hier wird zwar Revolte inszeniert – aber es ist die Revolte junger Spießer gegen die alt gewordenen Spießer, gespielt auf die Bedürfnisse eines spießerhaften Publikums hin, das denn auch reflexartig bei jedem Witzchen aufkichert. Die Ästhetik der Kurt-Kroemer-Show und einer Cindy aus Marzahn ist in der Berliner Hochkultur angekommen. Mit Gesellschaftskritik hat das Ganze wenig zu tun. Einem Steckel-Gorki hätte selbst Zar Nikolai nicht den Akademie-Eintritt verweigert. Dabei hat die Inszenierung starke Momente. Ganz zu Anfang, der Saal liegt im Dunklen liest Natali Seelig (Tatjana) aus Ingeborg Bachmanns „Undine geht“. Dabei hätte man es die folgenden zweieinhalb Stunden belassen sollen. Aber der Eindruck ist zu stark, um nicht sofort durch ein rhythmisch herumhampelndes Ensemble kaputt gemacht zu werden. Diese Patchwork-Dramaturgie bestimmt die Inszenierung. Trotz großer Schauspielerleistungen. Barbara Schnitzlers (Akulina Iwanowna) banaler Satz „Wollen wir nicht erst essen?“ bringt ganze mühselig aufgebaute Bedeutungsgerüste zum Einsturz. Und wenn Peter Jordan (Teterew) psychisch zusammenbrechend feststellt: „Es wird immer enger, immer kleiner“ – dann ist dies die kürzeste, aber treffendste Kritik einer überflüssigen Inszenierung. Manche Zuschauer befolgten den Vorschlag des Malers Nil, den dieser vor der Pause mit großen roten Buchstaben auf eine Leinwand pinselt: „Pojechali!“ Das waren offenbar die Russischkundigen. Sie gingen.
WB
Berliner Kinderlied
Auf einem Markt im Friedrichshainchen
Steht eine Bauersfrau mit Kuchen und mit Pfläumchen.
Und derweil sie die Pfläumchen misst,
Hat ein Hund ihr in den Korb jepißt.
„Wat kann man bei ’nem Hund vor Bildung suchen“,
Fragt die Bauersfrau und trocknet ab den Kuchen,
Stellt ihn dann an einen andern Ort.
„Wenn er trocken is, denn jeht er ooch mit fort!“
19. Jahrhundert, anonym
„Destruktives Anspruchsverhalten“
Man mag es kaum glauben, aber die Schweiz, der Hort der plebiszitären Demokratie kann zugleich auch in einem erstaunlichen Maße konservativ sein. Vor allem die Jüngeren unter uns dürften jedenfalls überrascht gewesen sein, als das Alpenland gerade den 40. Jahrestag des Frauenwahlrechts feierte. In der Tat: Erst 1971 ließ sich im fast schon demokratieversessenen Volk der Helvetier durchsetzen, was – außer damals in Liechtenstein – in Europa längst Praxis war: Die Stimme der Frau bei allen Entscheidungen, die für das Leben aller, in den Gemeinden, Kantonen und im Staat, relevant sind, hat den gleichen Wert wie die des Mannes. Ein Umstand, der seinerzeit selbst in Afghanistan oder Haiti zumindest rechtskräftig war. 66 Prozent der schweizerischen Herren hatten sich 1971 dafür entschieden, dass ihre Frauen künftig ebenfalls an die Wahlurnen treten dürfen. Vorausgegangen waren dem langwierige und ziemlich aufgeheizte Scharmützel – Konservatismus von fast schon alttestamentarischer Provenience; organisierte demütige Frauen als Gegnerinnen übrigens inklusive. Dieser Widerstand hat sich bis heute auch keineswegs völlig erledigt. Nunmehr kämpfen „Altgläubige“ – zum Beispiel im „Verein Antifeministen“ – gegen das „destruktive Anspruchsverhalten“ der Frauen. Denn immerhin, im kollektiven Regierungsorgan, dem Bundesrat, hat die Weiblichkeit bereits die Mehrheit, auch im zentralen Parlament spielt sie allein quantitativ eine wahrhaft gleichberechtigte Rolle. Lediglich in den Kantonsparlamenten beträgt der Frauenanteil erst ein Drittel.
Die Antifeministen blasen nunmehr zum Sturm gegen soviel Gleichberechtigung. Sie verlangen die Schließung von Gleichstellungsbüros und drohen mit der Veröffentlichung der Adressen von Frauenhäusern, da deren Existenz die Männer in Scheidungsfällen benachteiligen würden. Man mag solche Attacken belächeln, aber sie reflektieren durchaus, dass auch nach 40 Jahren des Wahlrechts für Frauen deren wirkliche Gleichberechtigung keinesfalls rundum akzeptiert wird. Daran erinnert auch der Umstand, dass im Kanton Appenzell das besagte Stimmrecht erst 1990 eingeführt worden ist; nicht durch Volksabstimmung, die dies bis dahin verhindert hatte, sondern durch das Schweizer Bundesgericht.
Heinz W. Konrad, Graubünden
Federico Sánchez ging
„Ich bin nur ein Überlebender von Buchenwald“, so bezeichnete sich Jorge Semprún einmal. Buchenwald hat ihn geprägt. Der Schriftsteller und Politiker Semprún ist aber nicht auf diese traumatische Erfahrung zu reduzieren: Da ist die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Franco-Faschismus – Federico Sánchez war sein Deckname als KP-Koordinator der illegalen Arbeit in Madrid –, da ist die politische Biografie eines Kommunisten, der an seiner Partei fast zerbrach, für den die Massengräber der Faschisten mitnichten die „Leichenäcker des Kommunismus“ („Schreiben oder Leben“, 1994) legitimierten, da ist das Wirken eines der großen europäischen Intellektuellen. Und da ist ein schriftstellerisches Werk, dessen Lektüre Schmerzen bereitet und das dennoch wieder und wieder gelesen werden muss. Semprún wusste, dass das Vergessen und Verdrängen mörderischer Erfahrungen immer der erste Schritt zur Neuauflage blutiger Unternehmungen ist. Dagegen schrieb er mit einer in unserer Zeit fast allgegenwärtiger Korrumpierbarkeit selten gewordenen Geradlinigkeit an. Jorge Semprún starb am 8. Juni in Paris. Federico Sánchez ging, endgültig.
W. Brauer
Medien-Mosaik
„Guter Wachdienst hilft die Ernte sichern!“ Diese Parole aus den fünfziger Jahren hat nichts von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt. Sie fand sich auf einem Zündholzetikett aus Riesa. Martina Schlosser hat diese Etiketten gesammelt, auch solche aus Coswig, und Wilfried Schlosser hat sie zu einem fast streichholzschachtelgroßen Band zusammengestellt, in den er auch zeitgenössische politische Witze aufgenommen hat. Manche sind hübsch, andere Geschmackssache. Dafür entschädigen die Etiketten-Texte: „Arbeiter und Bauern lernen schießen, funken, fliegen, Auto fahren, um ihre Errungenschaften zu verteidigen“. Damit warb die GST. Aber sogar dafür musste man werben: „Fernsehen – dabeisein“. Schön sind auch: „Höher das Banner des nationalen Kampfes – III. Konsumgenossenschaftstag Leipzig Mai 1955“ und „Rauchen und Abkochen im Wald verboten – auch für DICH!“ Man trifft Feuerwehrmann Fix oder den Toto-Max wieder und wüsste auch gern, wer diese Gebrauchsgrafik geschaffen hat. Aber darüber schweigt das kleine, äußerst handliche Bändchen. Ein Geschenk – nicht nur für Raucher! (Wilfried Schlosser (Hg.), Kleine Funken aus Sachsen, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2010, 5,00 Euro)
Der Regisseur Gregg Araki ist ein Geheimtipp auf dem Gebiet des amerikanischen Independent-Films. Sein neuer Film „Kaboom“, preisgekrönt in Cannes, ist auf Verwirrung aus. Was als pointenreiche Komödie mit sexuellen Einlagen beginnt, wandelt sich im Lauf der Handlung zu einem Weltuntergangsszenario einer mystischen Sekte. Von Anfang an zeigt der Regisseur, dass man seinem Film nicht trauen darf, nichts ist festgelegt. Nicht der schwule Held, der auch mit Mädchen schläft, nicht die handfesten Situationen, die sich plötzlich als Traum erweisen, und der abrupte Schluß ist vielleicht nicht ernst gemeint. Aber, so weiß der Zuschauer, so könnte die Weltverschwörung vielleicht enden. Thomas Dekker spielt die Wandlung vom unbedarften Studenten zu einem jungen Mann, der plötzlich auf ein falsches Leben zurückblickt, überzeugend, und das männliche Super-Model Chris Zylka beginnt hier seinen Weg als Schauspieler und zeigt dabei alles, was er zu bieten hat. (Kaboom, französisch-amerikanische Ko-Produktion, ab 16.6. in zahlreichen deutschen Kinos.)
bebe
Telefonitis
„Ich telefoniere, also bin ich “, ließe sich längst als adaptierte Philosophie eines immer größer werdenden Teils unserer Mitmenschen definieren. Der Tag, an dem – dann freilich noch kleinere Handys – den Babys bereits im Kreissaal implantiert werden, um dann nahezu organisch mit aller Welt kommunizieren zu können, dürfte nicht mehr weit weg sein. Nützlich wäre eine solche Technologie auch für jene zwei Schweizer Damen gewesen, die soeben erst den Weltrekord im Dauertelefonieren gebrochen haben und nun ins „Guinnes-Buch der Rekorde“ Einzug halten werden. Sarah Capauk und Myriam Thomann aus der Graubündner Kantonshauptstadt Chur haben sage und schreibe 43 Stunden, acht Minuten und 55 Sekunden pausenlos – und vom veranstaltenden Radiosender penibel überwacht, der auch die Themen vorgab –miteinander getratscht. Dass die beiden Damen noch sehr jung sind, versteht sich fast von selbst. Und dass ihr bescheuerter Sport großzügige Sponsoren hatte ebenfalls. Einem Telekommunikationsunternehmen (Überraschung!) war das Gequassel jedenfalls je 10.000 Franken wert. Mal sehen, wann das bei soviel Unterstützung als olympische Disziplin anerkannt wird.
HWK
Die Müllecke
Am 30. Mai veröffentlichte die Berliner Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) den neuen Berliner Mietspiegel. Die durchschnittliche Steigerungsrate der Kaltmieten in Berlin ist dramatisch. Es gab schon während der Pressekonferenz der Senatorin Protest – von jungen Hausbesetzern, die eh keine Miete bezahlen. dpa berichtete wie folgt: „Etwa zehn junge Demonstranten entrollten … ein Transparent …“ Auf der Titelseite (!) der am darauf folgenden Tage erschienenen Ausgabe des Neuen Deutschland las sich das so: „Viele junge Berliner wollten das gestern nicht hinnehmen.“ Und die neuen Revolutionen finden im Saale statt: „Im Publikum stand etwa ein Dutzend junger Menschen auf, um mitzudiskutieren.“ Auch ND. Aber so schlimm kann es nicht gewesen sein. „Nach einigen Minuten verließen sie von selbst den Raum“, notierte dpa. Kennen Sie das noch: „Eins, zwei, viele …“? Kinder lernen so zählen. In einer Dreieinhalbmillionen-Metropole sind zwölf eben schon viele.
Eine knappe Woche später gab ein gewisser Philipp Mißfelder, Vorsitzender der Jungen Union, der Berliner Morgenpost ein Interview, in dem er für die CDU angesichts der jüngste Kette von Wahlniederlagen weniger einen Personen- als vielmehr einen Strategiewechsel einforderte. Die Zeitung konfrontierte ihn unter anderem mit dem Vorschlag des CDU-Generalsekretärs Hermann Gröhe, doch bei künftigen Wahlen auch „interessante Köpfe“ aufzustellen, die beispielsweise „in der Kunstszene verortet“ seien. Missfelder ganz staatsmännisch: „Bürger, die sich in Vereinen engagieren, sind geborene Kandidaten für öffentliche Ämter. Aber Künstler? Vielleicht sollten wir es mit einem Clown versuchen.“ Soviel klare Ansage an die Adresse der Künstler gab es seit langem nicht mehr.
Selbigen Tages berichtete DER SPIEGEL über das „Fest der Linken“ in Berlin, auf dem ein anderer Politiker über fortgesetzte Wahlniederlagen „laut nachdachte“: der für den Aufbau West der Partei zuständige MdB Ulrich Maurer. Dieser vortreffliche Vordenker meinte, die Pleiten und Pannen seiner Partei in der letzten Zeit lägen am Zeitgeist und den müsse man ignorieren: „Der Zeitgeist wandelt sich ständig.“ Wie erklärte den, nicht den Genossen Maurer, sondern den Zeitgeist, ein gewisser Heinrich Faust seinem Famulus Wagner?
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Da ist’s denn wahrlich oft ein Jammer!
(Goethe, Faust I)
Die auch niederlagenerfahrene Saskia Ludwig (CDU-Landesvorsitzende in Brandenburg) äußerte sich zu diesem Problem: „Es ist immer gut, den Zeitgeist zu begreifen, aber nicht ihm hinterherzulaufen.“ Da sage mal noch einer, dass Politiker nicht lernwillig seien.
Günter Hayn
Schlagwörter: Deutsches Theater, Frauenwahlrecht, Günter Hayn, Heinz W. Konrad, Jorge Semprún, Kaboom, Kinderlied, Telefonitis, Zeitgeist, Zündholzetiketten