von Wolfram Adolphi
Über die Bedeutung Mao Zedongs für das heutige China zu sprechen heißt auch über die Bedeutung Mao Zedongs für die heutige Welt zu sprechen. Denn Mao war ein Mann, der die Welt verändert hat. Er war einer der herausragenden Revolutionäre des 20. Jahrhunderts, war Staatsgründer im größten Gemeinwesen der Welt, und er stand im Zweiten Weltkrieg, jener globalen Auseinandersetzung um die Zukunft der Menschheit, auf der Seite des Antifaschismus.
1. Das Schlüsselereignis antijapanischer Befreiungskrieg
Am 23. Juni 1941, einen Tag nach dem Überfall des faschistischen Deutschland auf die Sowjetunion, erklärte er: „Dieser verbrecherische, treubrüchige Aggressionsakt ist nicht nur gegen die Sowjetunion, sondern auch gegen die Freiheit und Unabhängigkeit aller Nationen gerichtet. Der heilige Widerstandskrieg der Sowjetunion gegen die faschistische Aggression dient nicht nur ihrer eigenen Verteidigung, sondern auch der Verteidigung aller Nationen, die den Befreiungskampf gegen die faschistische Unterjochung führen.“ Für seine Partei, die Kommunistische Partei Chinas, die ich im Folgenden mit ihrem chinesischen Namen Gongchandang bezeichnen werde, formulierte er folgende drei Aufgaben: „1. An der antijapanischen nationalen Einheitsfront festzuhalten, auf der Zusammenarbeit zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei zu beharren, die japanischen Imperialisten aus China zu verjagen und damit der Sowjetunion Beistand zu leisten; 2. jede antisowjetische und antikommunistische Tätigkeit der reaktionären Elemente in den Reihen der Großbourgeoisie entschieden zu bekämpfen; 3. auf dem außenpolitischen Gebiet sich zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind mit all jenen in England, in den USA und in anderen Ländern zusammenzuschließen, die gegen die faschistischen Machthaber Deutschlands, Italiens und Japans auftreten.“
Es gehört zu den Eigenarten des heutigen westlichen „Zeitgeistes“, solche grundsätzlichen Fragen des 20. Jahrhunderts gern auszublenden. Darum scheint es umso notwendiger, sie immer wieder ins Bewusstsein zu rücken. Wer ist sich in Europa heute schon dessen gewahr, dass man den Beginn des Zweiten Weltkrieges nicht überall auf den 1. September 1939 datiert? Jiang Jieshi – das ist Tschiang Kaischek –, der erste bedeutende Erbe des Sun Yatsen, der später dem zweiten, Mao Zedong, weichen musste, notierte am 22. September 1931 in sein Tagebuch: „Mit der japanischen Aggression in China hat der Zweite Weltkrieg begonnen. Ich frage mich, ob sich die Staatsmänner der Welt dessen bewusst sind.“ Auf der Konferenz von San Francisco, mit der 1945 die UNO begründet wurde, nahm Außenminister Song Ziwen diese Lesart auf: China wolle den Erfolg der Konferenz gerade deshalb gewährleisten, „da heute überall anerkannt wird, dass ein zweiter Weltkrieg begann, als Japan 1931 in der Mandschurei einfiel und somit China 30 Millionen seiner Einwohner und reicher Naturschätze beraubte, die für seine nationale Existenz so lebensnotwendig waren.“
Warum an dieser Stelle die Gegner Maos zitieren? Weil mit diesen Zitaten die Tragweite der Entscheidung der von Mao geführten Gongchandang vom Juli 1937 deutlich wird. Am 7. Juli 1937 war Japan zur umfassenden Aggression in China übergegangen. Spätestens hier ist es angezeigt, vom Beginn des Zweiten Weltkrieges zu sprechen, denn Japan hatte sich im November 1936 mit Deutschland im Anti-Komintern-Pakt zu einem gemeinsamen Vorgehen verständigt. Die von Mao geführte Gongchandang rief Jiang Jieshi und die Guomindang im Juli 1937 zur Einheitsfront gegen Japan auf, und dieser Ruf hatte eine solche Kraft, dass Jiang Jieshi im November/Dezember 1937 einem groß angelegten japanischen Friedensangebot nicht Folge zu leisten vermochte. Bei einer Annahme der japanischen Forderungen, so schätzte der deutsche Botschafter Trautmann damals ein, wäre „die chinesische Regierung von der öffentlichen Meinung hinweggefegt“ worden. Deutschland selbst hatte sich bei der chinesischen Regierung als „Briefträger“ für die japanischen Forderungen, die auf nichts anderes als auf einen blutigen Raubfrieden hinausliefen, stark gemacht. Mit einem klaren Eigeninteresse: Man hoffte ja auf ein starkes, durch einen Krieg in China möglichst wenig geschwächtes Japan, das später die Kraft haben würde, die Sowjetunion vom Osten her anzugreifen. Die Politik und die Aktionen Maos und der Gongchandang waren wesentlich dafür, dass Japan nicht zum erhofften Raubfrieden kam und durch den chinesischen Widerstand gebunden blieb. Mao und seine Partei vollbrachten, indem sie diese und auch spätere Friedensofferten der Japaner zurückwiesen, eine gewaltige Leistung. Denn Jiang Jieshis oberste Priorität war der Kampf gegen die Gongchandang geblieben, sein Widerstand gegen Japan nur, wie der japanische Historiker Saburo Ienaga bezeugt, „wenig mehr als eine Konzession an den wachsenden Nationalismus der chinesischen Massen“. Er war nicht willens, seine Hauptkräfte gegen Japan zu senden, „wollte Frieden mit Tokio machen und zurückkehren zur Ausrottung der Roten.“ Man stelle sich – gerade hier in Deutschland – für einen Augenblick vor, die Sowjetunion wäre, wie es von der faschistischen Führung kalkuliert worden war, in einen Zweifrontenkrieg geraten. Mao Zedong, von dem hier vor allem die Rede sein soll, hat seinen Anteil daran, dass es dazu nicht kam.
2. Revolution und Staatsgründung
Die Gongchandang als nunmehr bereits sechzig Jahre lang China in Alleinherrschaft führende Partei sieht in Mao Zedong vor allem den Staatsgründer, den Reichseiniger. Und die Gründung der VR China am 1. Oktober 1949 ist ja auch ein ganz herausragendes weltgeschichtliches Ereignis. Nur ein halbes Jahrhundert zuvor, nach der Zerschlagung des Aufstandes der Yihetuan – der „Boxer“ – 1900/1901, liegt China vollständig am Boden. Die frühere Weltmacht China ist nicht nur schon längst keine Weltmacht mehr, sondern nicht mal mehr eine Macht. Sie ist führungslose Beute der imperialistischen Mächte, und als 1911 die von Sun Yatsen geführte Revolution siegt, bleibt dieser Sieg für die Kraft und den internationalen Status des Landes noch lange ohne Folgen. Die zwanziger Jahre sind durch die Kämpfe der Junfa, der Warlords, der Kriegsherren untereinander und durch die fortgesetzte Ausbeutung durch die imperialistischen Mächte geprägt, die dreißiger Jahre durch das Vorrücken der Japaner und den Kampf zwischen Guomindang und Gongchandang. 1945 gehört China, obwohl noch immer zwischen Guomindang und Gongchandang gespalten, zu den Siegermächten im Zweiten Weltkrieg. Jiang Jieshi, nachdem er China aus einer Position der Schwäche heraus unter Nutzung des deutsch-sowjetischen Neutralitätspaktes vom August 1939 durch geschicktes Manövrieren mit der einst von Sun Yatsen begründeten Option des Kontinentaldreiecks China-Sowjetunion-Deutschland 1941 zum Bestandteil der Anti-Hitler-Koalition gemacht hatte, repräsentiert den Sieg außenpolitisch, sieht 1946 auch im Bürgerkrieg mit der Gongchandang wie der sichere Sieger aus, wird dann aber von der von Mao Zedong geführten Volksbefreiungsarmee buchstäblich überrannt, und das ist trotz zunächst zahlenmäßig beträchtlicher Überlegenheit möglich, weil die Guomindang allen Rückhalt im Volk verloren hat.
Es entstand – so beschreibt es mit John K. Fairbank einer der bedeutendsten amerikanischen China-Historiker – im Lande und in der Partei der Eindruck, es sei tatsächlich der Auftrag des Himmels, den die Gongchandang jetzt erfülle. Joachim Schickel hat das 1967 einmal trefflich dargestellt: Der chinesische Begriff für Revolution ist geming, das heißt „den Auftrag ändern“. Im Zeichen – Schickel sagt in Anlehnung an Marcel Granet: Emblem – im Emblem ming also „gebot der Himmel selbst: er erteilte den ‚Auftrag’ zur Herrschaft, er erneuerte den Auftrag, dass schlechte Herrschaft abgelöst werde; der Mittler war das Volk. Die chinesische Staatslehre, zu Zeiten der Dynastien wie der Republik, schloss daher die Legalität eines Umsturzes nicht a priori aus; noch 1949 galt, was immer gegolten hatte: der Auftrag, von der Kuo-min-tang (KMT) verwirkt, ging an die Kommunisten.“ Mit dem Rückhalt der Mehrheit des Volkes gelang es der Gongchandang unter Maos Führung, etwas zu schaffen, was es seit dem Eindringen der imperialistischen Mächte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr gegeben hatte: das gesamte Festlandsterritorium Chinas (mit Ausnahme des winzigen Festlandteils von Macao und Hongkong) unter eine einheitliche Macht und Regierung zu bringen.
Das Volk weiß, was Mao will. Er hat es mitten im Bürgerkrieg, am 25. Dezember 1947, noch einmal unmissverständlich dargestellt: „Der Bodenbesitz der Feudalklasse wird beschlagnahmt und geht in den Besitz der Bauern über; das Monopolkapital unter der Führung von Tschiang Kaischek, Song Ziwen, Kong Xiangxi und Chen Lifu wird enteignet und geht auf den neudemokratischen Staat über; Industrie und Handel der nationalen Bourgeoisie werden geschützt.“ Die „neudemokratische Volkswirtschaft“ werde sich zusammensetzen aus: „1. der staatlichen Wirtschaft, dem führenden Sektor; 2. der Landwirtschaft, die sich Schritt für Schritt von der Einzel- zur Kollektivwirtschaft entwickeln wird; 3. der Wirtschaft der kleinen selbständigen Handel- und Gewerbetreibenden und der kleinen und mittleren privatkapitalistischen Wirtschaft.“ Eingebettet sieht Mao dies alles in einen weltweiten Prozess, „da in der ganzen Welt der Kapitalismus und Imperialismus ihrem Untergang und der Sozialismus und die Volksdemokratie ihrem Sieg entgegengehen“. Nun kann man an solcher Stelle stets geltend machen, dass es sich wohl um eine sehr vereinfachte, schwarz-weiße Weltsicht handele. Aber es ist die Erfahrung dieser Zeit in China, von der Mao getragen wird. Die USA haben sich im Bürgerkrieg mit massiver Waffenhilfe und logistischer Unterstützung durch ihre Kriegsmarine vollständig auf die Seite von Jiang Jieshi geschlagen. General Albert C. Wedemeyer hat in diesem Zusammenhang vor dem Kongress in Washington erklärt, dass es „unwichtig“ sei, ob Jiang als „ein wohlwollender Despot, ein Demokrat oder Republikaner“ daher komme; „entscheidend“ sei, dass er „sein ganzes Leben lang gegen den Kommunismus gekämpft habe“. Folgerichtig sieht Mao mit dem Sieg im Bürgerkrieg „das Rad der Konterrevolution des USA-Imperialismus und seiner Lakaien, der Tschiang-Kaischek-Banditen, zurückgedreht“, sieht er jetzt „den Punkt, an dem sich die zwanzigjährige konterrevolutionäre Herrschaft Tschiang Kai-scheks“ und zugleich auch „die über 100 Jahre währende imperialistische Herrschaft in China vom Aufstieg zum Untergang wendet“.
3. Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit
Als sich Mao Ende der neunzehnhundertfünfziger Jahre von der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion löst, ist das viel stärker eine Konsequenz seiner bis dahin vollzogenen Entwicklung, als es dem unbefangenen Betrachter scheinen mag. Aus den in den neunziger Jahren an die Öffentlichkeit gelangten Dokumenten zum Verhältnis zwischen KPdSU, Komintern und China erhellt sehr eindrucksvoll der tiefe Konflikt, der Mao praktisch von Beginn an von der Linie der KPdSU und der Komintern trennte, und sie belegen auch die von Stalin mehrfach unternommenen Versuche, den in der Gongchandang hoch angesehenen Mao Zedong von der Führungsposition zu verdrängen. 1932/33 erreichen diese Versuche einen ersten Höhepunkt. In einem 2005 in der VR China erschienenen Buch des Historikers Yang Kuisong über Maos „Hassliebe zu Moskau“ wird der Gongchandang-Führer mit dem Satz zitiert: „Nachdem die Männer, die in ausländischen Villen gelebt hatten“ – gemeint sind die in Moskau ausgebildeten jungen chinesischen Parteiführer um Bo Gu und Luo Fu, die in der Literatur oft als „28 Bolschewiken“ bezeichnet werden –, „angekommen waren, wurde ich in die Jauchegrube geworfen. (…) Wirklich, es sah ganz so aus, als müsste ich mich langsam auf meine Beerdigung vorbereiten.“ Vor diesem Hintergrund wird verständlich, welche ungeheure Bedeutung der Zunyi-Konferenz, abgehalten im Januar 1935 während des Langen Marsches, zukommt. Auf dieser Konferenz eroberte Mao die Spitze der Gongchandang und der Militärführung, und es war dieser Sieg der am Ende für die Selbstständigkeit des Weges der Gongchandang entscheidende.
Die Geringschätzung, mit der Stalin Mao bei dessen Besuch in der Sowjetunion – es war Maos erste Auslandsreise überhaupt – von Dezember 1949 bis Februar 1950 behandelte, und die Art, wie Stalin Mao in den Koreakrieg drängte, taten zur Verschärfung der Gegnerschaft ein Übriges. Dass in den neunzehnhundertsechziger und neunzehnhundertsiebziger Jahren die sowjetisch-chinesische Feindschaft die Dimension eines globalen und mehrfach friedensgefährdenden Konflikts annahm, kann hier nur festgestellt, nicht aber weiter ausgeführt werden. Aus der chinesischen Sicht – und um die muss es, wenn von der Bedeutung Maos für das heutige China die Rede ist, gehen – hat sich der Kurs des Ausspielens der sowjetisch-amerikanischen Feindschaft für die eigenen Zwecke am Ende als erfolgreich erwiesen. Mao ist hier in gewisser Weise Jiang Jieshi gefolgt. Wie dieser im Zweiten Weltkrieg aus einer anfänglichen Position der Schwäche am Ende die eines Mitglieds der siegreichen Koalition gemacht hatte, so konnte Mao an seinem Lebensende 1976 feststellen, dass er die wirtschaftlich und weltpolitisch weit überlegenen USA zur Anerkennung der Volksrepublik und die damals ebenfalls wirtschaftlich und weltpolitisch stärkere Sowjetunion zur Akzeptanz der chinesischen Selbstständigkeit gezwungen hatte.
Als wesentlicher Unterschied in der Gesellschaftskonzeption zwischen der KPdSU respektive der Komintern auf der einen Seite und der von Mao geführten Gongchandang auf der anderen gilt gemeinhin der Umgang mit der Bauernschaft, und in der Tat konzentriert sich hier sehr Vieles. Aus der Fülle von Anregungen, die sich zu diesem Thema in der Literatur finden lassen, sei hier auf diejenigen verwiesen, die Rudi Dutschke 1974 gegeben hat. Dutschke schrieb damals in Auseinandersetzung mit dem Konzept der Kaderpartei, dass Lenin, der sich bei deren Schaffung auf die Arbeiterklasse und die mit ihr verbundene Intelligenz stützte, die „asiatische Wirklichkeit“ Russlands mit seiner Bauernschaft „als eine Qual und nicht als eine gesellschaftlich-geschichtliche Realität mit einer revolutionären Perspektive“ wahrgenommen habe. Gegen dieses Konzept machte Dutschke die „gesellschaftliche ‚Individuation’“ geltend – eine „geschichtlich angemessene, über Klassenkampf vermittelte Selbstveränderung“, die Marx „in Russland am ehesten [bei den Bauern] für möglich“ gehalten habe. Für Lenin hingegen sei eine solche Entwicklung der Bauern „ein Problem jenseits seines Denkens“ geblieben. Mao hingegen gründete seinen Weg ganz und gar auf diese Bauernschaft und deren „über Klassenkampf vermittelte Selbstveränderung“. Diese Perspektive nahmen in Deutschland auch Menschen ganz anderer politischer Provenienz als Dutschke ein. So schrieb der ehemalige Botschafter der BRD Erwin Wickert in seinen Erinnerungen: Eine der „größten Leistungen“ Maos war, „dass er, von dem sowjetischen Konzept, ja auch von Karl Marx abweichend und gegen den Widerstand der Komintern und seiner eigenen Parteiführung, sich in dem revolutionären Kampf nicht auf das schwache Proletariat, sondern auf die Bauern stützte und sie für sich gewann. … Seine Stärke war, die Mitstreiter und große Teile des Volkes von seinen Ideen zu überzeugen, als er vom Siege noch weit entfernt war.“
4. Revolutionäres Potenzial der Bauernschaft und Erbe
Und hier wird nun interessant, was aus dieser Selbstveränderung nach Maos Tod, im Zuge also der von Deng Xiaoping 1978 eingeleiteten Reformen, geworden ist. Der britische Historiker Perry Anderson hat dazu jüngst (New Left Review, 61, 2010) eine brillante Anregung geliefert.Sie beginnt mit der bemerkenswerten Feststellung, dass seit dem Verschwinden der UdSSR keine Formel so kanonisiert worden sei wie die vom „Zusammenbruch des Kommunismus“, dass dies aber zwanzig Jahre später „ein wenig eurozentrisch“ wirke. Es gebe „auch eine Sicht, in der sich sagen lässt, dass der Kommunismus nicht nur einfach überlebt hat, sondern zur Erfolgsstory des Jahrhunderts geworden ist“. Betrachte man „Charakter und Ausmaß dieser Leistung“, dann sei da „natürlich mehr als nur eine bittere Ironie“. „Keinen Zweifel“ aber könne es darüber geben, „dass aber das Schicksal der Revolutionen in China und Russland ein ganz unterschiedliches ist“.
Und nun zur Bauernfrage. Weil die Gongchandang „ihre Wurzeln in den ländlichen Regionen hatte, wo die Bauernschaft im Großen und Ganzen das Vertrauen in ihre Führungskraft bewahrte“, sei sie in den neunzehnhundertfünfziger Jahren in der Lage gewesen, „innerhalb weniger Jahre eine rasche und vollständige Kollektivierung … durchzuführen, ohne jene Katastrophe heraufzubeschwören, die sich in Russland ereignet hatte“. Und über die Bauern kommt Anderson zur Entwicklung der geplanten Wirtschaft überhaupt. Als 1978 – so seine These – die Reformen eingeleitet wurden, geschah das auf dem Fundament einer Planung, „die immer sehr viel lockerer gewesen war als ihre sowjetische Schablone“. Mao Zedong habe „früh erkannt, dass es unmöglich war, der chinesischen Wirtschaft mit ihren viel stärkeren regionalen Traditionen und ihrer schwächeren Infrastruktur die allgegenwärtigen Direktiven von GOSPLAN überzustülpen“. Von Beginn an hätten die regionalen und lokalen Autoritäten „eine größere Autonomie besessen, als das jemals im sowjetischen System der Fall war“. In der Kulturrevolution sei die Zentrale noch um ein Weiteres geschwächt worden, und im Ergebnis habe man „ein stark dezentralisiertes System“ vorgefunden, in dem „die Zahl der zugeteilten Waren, deren Preise in Beijing festgelegt wurden, selbst in ihrem Maximum 600 nicht überstieg – was ein Hundertstel des entsprechenden sowjetischen Wertes ausmachte“. Diese Strukturfrage – so Anderson weiter – war mit einer sozialen Frage verbunden, in der China einen „gewaltigen, entscheidenden Vorteil“ gegenüber der Sowjetunion geltend machen konnte: „Die Bauernschaft war nicht wie in Russland ein lustloser, mürrischer Rumpf jener Klasse, die sie einst gewesen war. Sie war weder erschöpft noch entfremdet, sondern voller Energie, darauf wartend, diese – wie die Zukunft zeigen sollte – auch freisetzen zu können. … Die ländliche Gesellschaft, im Norden lange atomisiert und im Süden durch den Taiping-Aufstand durchgeschüttelt, konnte sich vom Großen Sprung erholen, weil sie Jahrhunderte alte Marktimpulse in sich trug.“ In der Frage, wieso diese Marktimpulse auch in der Reform freigesetzt werden konnten, verweist Anderson auf den hochinteressanten Umgang der Gongchandang-Führung unter Deng Xiaoping mit dem Mao-Erbe.
In zeitgeistigen Jahrhundert-Betrachtungen tritt uns nicht selten eine Gleichsetzung von Hitler, Stalin und Mao entgegen. Drei Diktatoren – und Schluss. Es wäre sehr viel zu einem solchen Herangehen zu sagen; der Raum dafür ist hier aber nicht gegeben. Wie immer man aber die Dinge im Einzelnen bewertet, was immer man von solchen Gleichsetzungen hält: Eine Tatsache ist es, dass die chinesische Gesellschaft auf eine einmalige Weise sich noch immer auf ihren Diktator bezieht, mit seinem Erbe lebt, sich zu seinem Erbe bekennt und den Diktator nicht aus der Gesellschaft herauslöst. Während die Entstalinisierung 1956 in der Sowjetunion – schreibt Anderson – „der sensationelle, aber heimlich vorbereitete Akt eines einzelnen Führers“ – Nikita Chruschtschows – gewesen war, waren an der Entstehung der 1981 veröffentlichten Stellungnahme zur Kulturrevolution 4000 Funktionäre und Historiker beteiligt, und ganz anders als im Falle Chruschtschows habe das Zentralkomitee der Partei seine „Mitverantwortung für die Herrschaft des modernen Autokraten akzeptiert“ und „keinen Versuch unternommen, dessen Beitrag für die chinesische Revolution als Ganzes zu verkleinern“. Im Original hieß das 1982 auf dem XII. Parteitag der Gongchandang im Bericht von Hu Yaobang so: „Die ‚linken’ Fehler vor und während der ‚Kulturrevolution’ übten einen breiten und tiefen Einfluss aus und brachten schwere Schäden mit sich. Während wir die zwei konterrevolutionären Cliquen um Lin Biao und Jiang Qing eingehend entlarvten und kritisierten, mussten wir solche Fehler allseitig liquidieren. Das betraf unvermeidlich die Fehler, die Genosse Mao Zedong in seinen späteren Jahren begangen hatte. Genosse Mao Zedong hat große und unvergängliche Beiträge für die chinesische Revolution geleistet, und daher genoss er seit vielen Jahren in der Partei und im Volk ein hohes Ansehen, was auch weiterhin so bleiben wird. Der Schlüssel dafür, ob wir die Dinge ins Lot bringen konnten, bestand darin, ob wir den Mut der Marxisten hatten, eine Selbstkritik der Fehler unserer Partei, einschließlich der Fehler des Genossen Mao Zedong, zu üben, und ob diese Selbstkritik historisch und korrekt geübt wurde.“ Und weiter: „Die Partei hat, gestützt auf die kollektive Weisheit der Kader und der Volksmassen, einerseits die ‚linken’ Fehler, die lange Zeit dominiert hatten, sowie die Fehler, die Genosse Mao Zedong in seinen späteren Jahren begangen hatte, auf wissenschaftliche Weise analysiert und kritisiert, andererseits die von der Partei in langjährigem Kampf entwickelten guten Traditionen entschlossen behauptet, die wissenschaftliche Wahrheit der Maozedongideen verteidigt und die historische Stellung des Genossen Mao Zedong aufrechterhalten. Dies hatte zur Folge, dass zwischen richtig und falsch unterschieden und die Einheit unserer Reihen gestärkt wurde. Dadurch wurde die grundlegende Garantie für die gesunde Entwicklung von Revolution und Aufbau auf allen Gebieten geschaffen.“
Dass die Rede von der kollektiven Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution und der Rolle Mao Zedongs keine hohle Phrase ist, findet man an überraschender Stelle bestätigt. So findet sich in einer von Susanne Messmer im Jahre 2009 erarbeiteten Sammlung von Gesprächsprotokollen mit chinesischen Achtzigjährigen in der Erzählung des Lehrers für Pekingoper Li Fuchun zur Kulturrevolution der bemerkenswerte Satz: „Der Erste Vorsitzende ist damals völlig verrückt geworden, die ganze Regierung war verrückt, das chinesische Volk war verrückt.“ Eine ganz ausgezeichnete Darstellung dieser „Verrücktheit“ des ganzen Volkes, das heißt: nicht nur des Hineingerissenseins, sondern auch des begierigen Mitmachens von Millionen und Abermillionen hat der Schriftsteller Mo Yan mit seinem Epos „Shengsi Pilao“ – „Der Überdruss“ – geschaffen.
Das von Perry Anderson herausgearbeitete Besondere – die kollektive Verantwortungsübernahme – haben wir in der DDR damals übrigens nicht so explizit herausgearbeitet. Wie auch. War doch der Weg durch die Tabuisierung von Stalin und des Stalinismus versperrt und ein öffentlicher Vergleich mit sowjetischen Entwicklungen ganz und gar ausgeschlossen. Sachlich dargestellt wurde das Kollektive aber durchaus. So formulierten wir in der 1989 fertig gestellten „Chronik der VR China 1979-1989“ zur von Anderson gemeinten „Resolution über einige Fragen zur Geschichte der KPCh seit 1949“: „Erstmals wird in einem offiziellen Parteidokument erklärt, dass die ‚Kulturrevolution’ von Mao Zedong persönlich initiiert und geführt wurde und dass er dafür die Hauptverantwortung trug. Die Mao-Zedong-Ideen werden neu definiert und als ‚Produkt der allgemeinen Grundsätze des Marxismus-Leninismus mit der konkreten Praxis der chinesischen Revolution’ und als kollektive Weisheit der Partei verstanden. Die fehlerhaften Anschauungen Maos ‚in seinen letzten Lebensjahren’ werden als nicht zu den Mao-Zedong-Ideen gehörig angesehen, statt dessen werden theoretische Arbeiten anderer Parteiführer in das System hineingenommen.“
Anderson zieht nun eine Verbindung zwischen dem ideologischen Umgang mit dem Mao-Erbe und der Wirkung der unter Mao geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen für die heutige Entwicklung. Zu Maos fruchtbarstem Erbe zähle, so meint er, eben jene „Dezentralisierung der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft“, aus der die Reformen heute so entscheidenden Nutzen ziehen. Nicht nur sei das „Planungsimperium“, das zu reformieren war, viel kleiner gewesen als das in der Sowjetunion, sondern es habe in den Provinzen bereits „ein Netz von autonomen Zentren des wirtschaftlichen Handelns“ gegeben, und als diese noch weitergehend aus der Beijinger Kontrolle entlassen waren, „legten die Provinzregierungen sofort einen höheren Gang ein und schufen jede erdenkliche Art Anreiz, um zu neuen Investitionen zu gelangen und Wachstum zu schaffen“. Vieles sei dann durchaus „irrational“ gewesen: „Dopplung von Industrieanlagen, Gigantomanie bei öffentlichen Aufträgen, rasche Ausbreitung von informellem Protektionismus – ganz zu schweigen von einer steuerlichen Schwächung der Zentrale“. Und dennoch, meint Anderson, ändere das nichts am positiven Gesamtergebnis. Der Wettbewerb zwischen den Provinzen sei – „nicht anders als einst die Rivalität zwischen den Städten in Italien“ – „eine Quelle wirtschaftlicher Vitalität“. Russland führe den Begriff der Föderation in seinem Namen, sei aber zentralisiert geblieben wie eh und je. Die VR China hingegen sei föderal nicht vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus, wohl aber in seiner ökonomischen Realität, und sie sei „nicht weniger ein Beispiel für dynamischen Förderalismus als die Vereinigten Staaten“.
5. Wie weiter?
„Mao“, so schrieb ein anderer ehemaliger Botschafter der BRD in China, Konrad Seitz, im Jahre 2000, „hinterließ ein wahrhaft schweres Erbe. Und dennoch bot dieses Erbe durch die ‚List der Vernunft’ – wie Hegel sagen würde – die Voraussetzung für Chinas phänomenalen Aufstieg unter Deng Xiaoping.“ Mao habe – so Seitz weiter, und das bietet Raum zu breitester Diskussion – „sowohl die alte konfuzianische Kultur wie den neuen kommunistischen Glauben zerstört und damit die Barrieren für die wirtschaftliche Entwicklung Chinas beseitigt“. Er habe die unwissende Bauernbevölkerung einst als „weißes, unbeschriebenes Blatt“ bezeichnet – nun habe er tatsächlich ein „weißes Blatt“ hinterlassen, „auf das Deng Xiaoping vorsichtig, Strich für Strich, die Konstruktionszeichnung einer Marktwirtschaft auftragen konnte“. Maos Vorahnungen hätten sich erfüllt: China habe sich „auf den Weg in den Kapitalismus“ begeben. Das mit dem „Weg in den Kapitalismus“ ist nun heftig umstritten. Nur ein paar Beispiele. Der marxistische Analytiker Theodor Bergmann sieht die VR China als „sozialistisches Land, das sich unter der Leitung einer KP auf den langen Weg des Sozialismus begeben hat“ und dessen Wirtschaftspolitik „der NÖP von Lenin und der KPdSU“ entspricht. Dem Nestor der DDR-Chinaforschung Helmut Peters zufolge vollzieht sich die „Realisierung des Eigentums an Produktionsmitteln“ über ein „von der Regierung dominiertes System der Marktwirtschaft (einschließlich des Arbeitsmarktes und des gesamten Finanzmarktes)“, und die darauf basierende „Orientierung der KPCh auf eine bestimmte soziale Balance“ und „Bündelung der Kräfte für die nationale Modernisierung und den gesellschaftlichen Fortschritt“ wirkten „objektiv im Sinne einer sozialistischen Orientierung“.
Diese Darstellungen liegen nahe bei offiziösen chinesischen. Nach Cheng Enfu zum Beispiel geht das Land einen „chinesischen Weg der sozialistischen Selbstvervollkommnung“, der sich darauf gründet, „dass der in öffentlichem Eigentum befindliche Teil der Ökonomie“ den Kern der „sozialistischen Marktwirtschaft“ darstellt. Andere lehnen eine Deutung der chinesischen Entwicklung als sozialistisch ab, kommen aber implizit immer wieder auf Planungsvorgänge und die Frage der Kommandohöhen zurück. Zu eindeutig ist der Befund, dass der Reformprozess, der dem Land – wie die aus Südkorea stammende Hyekyung Cho formuliert – einen „beispiellosen Wachstums- und Modernisierungserfolg“ und damit den „Ruhm als Wirtschaftswunderland“ bescherte, nicht auf das unkontrollierte Wirken der Marktkräfte zurückzuführen ist, sondern durch die Gongchandang in – so sieht es Stefan Schmalz – „erstaunlicher Steuerungsfähigkeit“ mittels einer spezifischen Transformationsstrategie geleitet, kontrolliert und realisiert wird. Als herausragendes Ergebnis dieser Steuerung gilt die relative Stabilität des Transformationsprozesses und die Vermeidung schwerwiegender, den Kurs in Frage stellender Rückschläge. Hansjörg Herr konstatierte im Jahre 2000, dass ein „Big Bang“, wie er in Umsetzung des von Weltbank und IWF geförderten „Washington-Konsensus“ von 1990 etwa in Russland stattgefunden hat, in China als Transformationsstrategie „zu keinem Zeitpunkt … auch nur in der Diskussion“ gewesen sei; statt dessen habe man auf „graduelle institutionelle Veränderungen und eine große Experimentierfreudigkeit“ gesetzt, „in der als falsch erachtete Entwicklungen auch wieder zurückgedrängt wurden“. Dem bedeutenden amerikanischen Zeithistoriker und Ökonomen Giovanni Arrighi zufolge sei die „Schlüsselreform“ eben „nicht Privatisierung“ gewesen, sondern die Tatsache, „dass Staatsunternehmen dem Wettbewerb untereinander, mit ausländischen Unternehmen und vor allem mit einer Mischung aus neu geschaffenen privaten, halbprivaten und in öffentlicher Hand befindlichen Unternehmen ausgesetzt wurden“. Obwohl der Anteil der Staatsunternehmen an der Beschäftigung und Produktion im Reformverlauf „steil“ zurückgegangen sei, habe sich die Rolle der Regierung bei der Entwicklungsförderung nicht verringert. Und noch einmal Hyekyung Cho: Der von der Gongchandang geführte Zentralstaat sei nur ganz allmählich „von der planwirtschaftlichen Intervention und Kommandofunktion“ im Produktions- und Umverteilungsprozess „abgerückt“ und habe sich „zu einem regulierenden Staat des zunehmend marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftssystems“ gewandelt. Konrad Seitz resümiert, dass im Ergebnis all dessen China in der „Asienkrise“ 1997/98 „wie ein Fels im Abwertungsstrudel der Region“ gestanden habe, und der Gongchandang-Führung sei es gelungen, den „Zusammenbruch des Wachstums, der ein Ende der Reform erzwungen hätte“, zu verhindern.
Ein großes Problem für die Entwicklung insgesamt wie auch für die Entwicklung demokratischer Strukturen stellt die rasche Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich dar. In der Wirtschaftssonderzone Shenzhen mit ihrer „massiven Konzentration von Niedriglohnbetrieben“ werde, meint Boy Lüthje 2006, das von Marx beschriebene „’Sweating System’ (Ausschweißungssystem)“ mit seinem „Zwischenschieben von Parasiten zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter, Unterverpachtung der Arbeit“ in „gigantischem“ Maße in die Tat umgesetzt. Der „unter dem schädlichen Einfluss des Neoliberalismus … neu entstandene kapitalistische Zweig“ der chinesischen Volkswirtschaft, meint Bingyan Li 2008, trage „Züge von Wildheit und Grausamkeit, die durchaus an den Frühkapitalismus erinnern“. Und Hekyung Cho resümiert: Der Staat „konzentriert sich auf technologie- und kapitalintensive Schlüsselbranchen und überlässt die restlichen dem Markt – mit verheerenden sozialen und ökonomischen Folgen“.
Die diktatorische Alleinherrschaft der KPCh, die unter Mao Zedong der Niederhaltung von Privatinteressen gedient hatte, dient jetzt der Niederhaltung von Protest gegen die Folgen der kapitalistischen Entwicklung wie auch von oppositionellen Kräften, die auf deren Grundlage Kritik am Herrschaftssystem üben. Dabei konnte die Gongchandang bislang verhindern, dass sich die zahlreichen und zunehmend gewaltiger werdenden sozialen Eruptionen zu einem Flächenbrand ausweiten. Die Gongchandang habe, meint Lüthje, die Fähigkeit entwickelt, ihr Herrschaftssystem so zu gestalten, dass die „kapitalismustypischen Klassenwidersprüche“, die durch ihre Transformationsstrategie „auf die Tagesordnung“ gesetzt wurden, „in spezifischer, oftmals widersprüchlicher Weise … ‚kleingearbeitet’ werden“ – soll heißen: entschärft, reguliert, zum Teil überwunden. Gesellschaftliche Gegenkräfte können sich kaum artikulieren. Die Arbeiterklasse sei, meint Bingyan Li, „pauperisiert, geschwächt und zersplittert“. Helmut Peters zufolge müsse man eine „relative Schwäche der Basis der Partei unter den Arbeitern und Bauern“ konstatieren sowie eine „trotz aller Fortschritte nach wie vor unzureichende Praktizierung der in der Verfassung fixierten Bürgerrechte und der demokratischen Beziehungen zwischen Regierung und Bürgern“. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass die Gongchandang die Verfügung über die Kommandohöhen der politischen Macht auch hier zu Veränderung nutzt. Thomas Heberer zufolge unternimmt sie den Versuch, in einer Art von „autoritärem Kommunitarismus“ „staatlich initiiert eine Zivilgesellschaft entstehen“ zu lassen.
Von einem Sozialismus, der dem von Marx formulierten „kategorischen Imperativ“ folgt, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, ist das alles weit entfernt. Weil, meint Hyekyung Cho, der Gehalt des shehuizhuyi – Sozialismus – „nach der jeweiligen Reformstufe neu definiert“ worden sei, bedeute Sozialismus „am Ende … nichts anderes als Wirtschaftswachstum“. Mit ihrem 2006 gefassten Beschluss über den Aufbau einer „harmonischen sozialistischen Gesellschaft“ – siehe shehuizhuyi – entwickelt die Gongchandang Helmut Peters zufolge jedoch ein Konzept, mit dem sie auf die sich vertiefenden sozialen Widersprüche reagiert und auf eine „langfristig stabile Gesellschaft“ zielt, „in der sich alle sozialen Kräfte auf der Grundlage eines gesetzlich verankerten Interessenausgleichs in einem nationalen Übereinklang befinden, ‚ein jeder seinen Platz hat’ und seine ganze Kraft für die ‚Renaissance der chinesischen Nation’ einsetzt“. Heberer verweist auf die Chancen, die sich daraus ergeben, dass in diesem Konzept das alte „konfuzianische Ideal der ‚Großen Harmonie’“ den Platz des „abstrakten Ziels des ‚Kommunismus’“ einnehmen solle, womit ihm mehr Lebenskraft zuwachsen könne.
Zu den offenen Fragen gehört freilich auch die, die sich bereits im Falle der NÖP in der Sowjetunion der neunzehnhundertzwanziger Jahre wie dann auch im Falle der darauf folgenden stalinistischen Planwirtschaft gestellt hat und von der Geschichte jeweils negativ beantwortet worden ist: ob Sozialismus in einem Land überhaupt möglich ist, oder ob künftige alternative Lösungen nicht notwendig globale sein müssen. Minqi Li bietet mit dem Verweis auf das „klassische Gemeingüterproblem oder ‚Gefangenendilemma’“ des Systems einer „Weltwirtschaft mit multiplen politischen Strukturen“ einen überzeugenden Ansatz für diese Debatte: Jeder Staat, der überdurchschnittliche soziale oder ökologische Leistungen zu erbringen versuche, „manövriert sich auf dem Feld der weltweiten Kapitalakkumulation in eine nachteilige Position gegenüber anderen Staaten“. Dies könne von „Zentrumsländern“ noch ausgeglichen werden, da sie einen Teil der Kosten dieser Leistungen „durch ungleiche Austauschverhältnisse auf die peripheren und semiperipheren Staaten abwälzen“ könnten. Für China jedoch, das nach wie vor ein Land der Peripherie sei, existiere diese Option nicht. Es ist daher mit Giovanni Arrighi jetzt nicht die vorrangige Frage, ob China „’reformierten Sozialismus’ statt einer Variante des Kapitalismus praktiziert“, sondern ob es der Gongchandang gelingt, mittels der Verfügung über die Kommandohöhen und damit verbundener Wirtschafts- und gesellschaftlicher Planung China eine Entwicklung zu ermöglichen, die der chinesischen und der Weltbevölkerung zum Vorteil gereicht. Arrighi meint, dass es dazu der Wiederbelebung der „Traditionen der selbstzentrierten marktorientierten Entwicklung, der Akkumulation ohne Enteignung, der Mobilisierung menschlicher statt nicht-menschlicher Ressourcen“ sowie einer „Regierung durch Mitwirkung der Massen beim Entwerfen politischer Grundsätze“ bedürfe. Der Ausgang dieser Entwicklungen ist offen; dass er nicht nur von überragender globaler Bedeutung ist und diese Entwicklungen daher global günstige Bedingungen brauchen, hingegen nicht.
Und was hat Mao Zedong mit all dem zu tun? In Beijing lief im Januar 2010 im Fernsehen eine zehnteilige Serie, die Mao und seine Umgebung (Zhou Enlai, Liu Shaoqi, Zhu De, Peng Dehuai, Deng Xiaoping und viele andere) auf eine Weise verherrlichte, wie sie aus dem chinesisch-altsozialistischen Stil bestens bekannt ist. Mao als Zhuxi, als der Große Vorsitzende, dem die Verknüpfung aus bescheiden-revolutionärer Verbindung mit dem Volk und hochintellektueller, nahezu unfehlbarer staatsmännischer Weitsicht zugeschrieben wurde. Das ist die Darstellung mit Blick auf die große Herausforderung, die gesellschaftliche Stabilität zu wahren, die auf dem Boden einer großen revolutionären Tradition gewachsen ist, maßgeblich gestaltet von und unter Mao Zedong.
So sollen zum Schluss noch einmal drei unterschiedliche Beobachter des politischen Wirkens von Mao Zedong zu Wort kommen. Erwin Wickert resümierte 1982 in Erinnerung an die Trauerzeremonie für Mao im September 1976: „Er war ein Mann, ohne den China heute nicht wäre, was es ist. Er war groß in dem, was er geschaffen hat, groß in seinen Fehlern, groß in seinen Widersprüchen. Wir verbeugten uns vor dem Toten und wussten, dass das Urteil über ihn stets schwanken, dass die chinesische Geschichte ihn trotzdem zu ihren größten Gestalten zählen und dass sein Bild noch lange auf dem chinesischen Volk lasten wird.“ Der Mao-Biograph Ross Terrill meinte Ende der 1970er Jahre: „Er wird daher einen großen Platz in der Geschichte Chinas und der Welt einnehmen. Er war der Anführer einer Revolution, die das alte China tötete, das Land in einen Veränderungsprozess trieb, der vielleicht einschneidender war als jeder vorangegangene gesellschaftliche Umbruch in irgendeiner großen Nation und der die Unabhängigkeit des ältesten und größten Staatswesens in der Welt wiederherstellte. Wer im 20. Jahrhundert die beherrschende Persönlichkeit der bevölkerungsreichsten Gesellschaft der Welt ist, ist automatisch ein Titan.“ Und Frank Deppe stellt in seinem großen Zyklus über das politische Denken im 20. Jahrhundert 2003 zu Mao fest: Die Gongchandang könne „selbstbewusst ihre führende Rolle im Transformationsprozess des Landes behaupten“, denn die „Kontinuität ihrer Führungsgruppen seit den späten 20er Jahren bis in die Gegenwart“ sei „Moment ihres historischen Selbstbewusstseins“.
Für die so offensichtlich krisengeschüttelte Welt stellt sich die Frage, wohin der chinesische Kurs führen wird. Wird die chinesische Entwicklung dazu beitragen, dass sich in der Welt ein „noch extremer hierarchisches und polarisierendes System herausbildet“, oder einen, mit dem das Land in Richtung auf eine „relativ demokratische, relativ egalitäre Welt“ wirksam werden kann? Die Antwort ist von größter Bedeutung.
Der Autor hielt diesen Vortrag auf der Wissenschaftlichen Tagung der Freien Akademie „Die neuen Weltmächte? China und Indien in ihrem Verhältnis zu Europa“ (13.-16. Mai 2010 in Wandlitz).
Siehe auch: W. Adolphi, Mao. Eine Chronik, verlag neues leben, Berlin 2009, 192 S., 12,90 Euro.
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