von Reinhard Wengierek
„Der Regisseur ist ein Penner, der von den Almosen der Schauspieler lebt.“ Das Zitat hat die Jury für den Theaterpreis Berlin, den die altehrwürdige „Stiftung Preußische Seehandlung“ nunmehr zum 24. Mal im Rahmen des Best-of-Festivals „Theatertreffen“ auf einer Feier im Deutschen Theater vergab, bei Heiner Müller geklaut. Und zwar für ihre Begründung, die Ehrung nicht nur einem, sondern gleich vier Theaterleuten zukommen zu lassen: nämlich dem Regisseur Dimiter Gotscheff sowie den drei Schauspielern Almut Zilcher, Samuel Finzi und Wolfram Koch.
Es ist doch so: Eine jede solche Auswahlkommission wie ein jeder Theatergänger überhaupt steckt bei der Frage, wem wohl bei einer grandiosen Aufführung die Palme gebühre, in dem Dilemma: Ist’s die Regie oder sind’s die Spieler? Wer wohl hat da wen inspiriert und beflügelt? Doch das ist nicht auseinander zu klamüsern!
Also vergab die pfiffige Jury den Preis an einen seit Jahrzehnten kongenial zusammenwirkenden Vierer-Trupp, eben die Gotscheff-Familie. Dem faszinierenden Zentrum so sagenhafter Inszenierungen wie, um nur zwei signifikante Berliner Beispiele zu nennen, Tschechows „Iwanow“ (Volksbühne) oder Aischylos‘ „Die Perser“ (DT).
Klaus Wowereit, Regierender Kulturbürgermeister und Überreicher des Preises (plus 20.000 Euro), lästerte angesichts der grandiosen Teamarbeit des Quartetts über Müllers Begriff vom „Almosen“: Die drei Spieler hätten dem Regisseur schließlich alles gegeben, was sie haben und in sich tragen, also alles andere als Kleinigkeiten. Und Gotscheff, der besagtes Almosen-Zitat überlieferte, klärt auf: Er habe Müller geantwortet: „Da musst du aber sehr gut betteln können!“ Müller daraufhin murmelnd: „Hhm.“
Ansonsten war auf dieser denkwürdigen, tout Theater-Berlin versammelnden Feier im Deutschen Theater ganz viel von Freundschaft und Liebe die Rede. Aber auch – Dialektik des Lebens wie der Kunst! ‑ von Hölle und Horror, von Rudel und Familienbande, von Abstürzen, Ängsten, Kälte und Verlorenheit – und von Behutsamkeit, Wärme, Rettung. Von Paradiesvögeln und Spielkameraden, von wechselnden Verhältnissen zwischen solide und desolat. „Aber an jedem neuen Tag stecken sie wieder unter einer Decke“, sagte der Bühnenbildner Mark Lammert. Und fand in seiner Laudatio die schöne Formel vom „Glutkern mit kontrollierter Kernspaltung“.
Auch wurde viel gesungen, vor allem Bulgarisches; Gotscheff und Finzi stammen von dort. Finzi spielte denn auch trefflich mit dem Begriffsungetüm Migrationshintergrund. Er meinte, „Migration“ könne man sich sparen, er sei „mit Hintergrund“. Oder noch besser: sei einfach „Schauspieler mit Grund“. Dann feierte er die perfekt geschmierte deutsche Theatermaschinerie und lästerte über die künstliche, typisch deutsche Trennung von Kopf und Bauch. Man müsse den Text nur durch sich durchlaufen lassen. Der Leib müsse was erleben und erzählen. „Aus den Gedärmen soll die Sprache kommen.“ Gratulantin Margit Bendokat verschenkte Whisky und sprach eine das Existenzielle auf den Leben-und-Tod-Punkt bringende Szene aus „Germania. Stücke“. Sie stammt vom großen Raucher, Zyniker und Whiskytrinker Heiner Müller, Gotscheffs Entdecker, Förderer und Bruder im Geiste.
Eine Filmcollage erinnerte noch einmal an alte Ruhmestaten damals in Köln, Düsseldorf, Salzburg, Berlin. Noch einmal die Zilcher in ihrem unvergesslichen Solo als die alles, sonderlich die Männer und sich selbst beschimpfende crazy Lady Hasbeen in „Volpone“ (DT). Noch einmal der alles Irdische erfassende Vergeblichkeitskampf von Finzi & Koch gegeneinander und mit der ewig im Kreis delirierenden Mauer, die unsere Daseinswelt so schmerzlich teilt und doch wiederum im innersten zusammenhält. Gleichsam das Kunst- und Lebensmotto der Verführungs-Viererbande: Der Kampf auf verlorenen Posten findet statt.
Am Ende Mark Lammerts Erinnerung an die Vielfachbedeutung dieses tollen Theaterfesttags: Der 8. Mai sei Tag der Niederlage, des Sieges, der Befreiung. Irgendwie gelte das als Credo für Jedermann. ‑ „Komm, gehen wir schuften“, wird „Oma Gotscheff“ von Ehefrau Zilcher zitiert zum Finale. Aber erst einmal flossen dank generöser Sponsoren Whisky und Weißwein in Strömen. Fortspülend die glückselige Rührung, die alle im Saal – Künstler wie Publikum gleichermaßen ‑ ergriffen hat. Was bleibet aber, stiften die Dichter. Wieder war Heiner Müller verantwortlich für den immerwährenden Tagesbefehl, schlitzohrig in Fragen gekleidet; sinnigerweise aus seinem Geniestück „Quartett“: „Was ist. Spielen wir weiter? Spielen wir? Was weiter?“
Schlagwörter: Deutsches Theater, Dimiter Gotscheff, Heiner Müller, Klaus Wowereit, Reinhard Wengierek, Theaterpreis Berlin