von Thomas Ruttig
„Bin Laden hatte vorwiegend noch eine symbolische Rolle inne, und seine Beseitigung beeinflusst eine Organisation, die weitgehend dezentralisiert ist, nicht. Das Schicksal Ayman al-Zawahiris, der zweiten Mann von al-Qaeda, bleibt unbekannt, aber er wird wohl bin Laden ersetzen. Eine interne Krise wie die der pakistanischen Taliban (nach dem Tod Baitullah Messuds – der Autor) ist unwahrscheinlich“, schrieb Gilles Dorronsoro von der Carnegie Foundation am Tag, als Bin Laden starb. Man möchte nur die Frage „welche Organisation“ hinzufügen. Denn oft erscheint es einem, als ob al-Qaida gar nicht mehr wirklich existiere, außer vielleicht in den Köpfen zunehmend erfolgloser jihadistischer Möchtegern-Terroristen wie dem „Schuh-“ und dem „Unterhosenbomber“ oder der Sauerland-Gruppe. Und in den Analysen der Geheimdienste, die ja davon leben.
Hier soll natürlich keinen Verschwörungstheorien das Wort geredet werden. Nur sollte man/frau nicht übersehen, dass das, was US-Analysten „al-Qaida Central“ nennen, nämlich Bin Laden, Zawahiri und ein paar andere Männer in einer Höhle (oder einer etwas komfortableren Vorort-Villa in einer pakistanischen Garnisonsstadt) wahrscheinlich kaum noch eine Rolle spielt im internationalen jihadistischen Terrorismus.
Von der Einzelkämpfern abgesehen, besteht der aus zwei Komponenten: erstens aus lokalen Terrorgruppen wie im Maghreb oder auf der Arabischen Halbinsel, deren Antrag auf Mitgliedschaft im Netzwerk die Männer in der Höhle stattgegeben haben, ohne dass sie real viel zu deren Aktivitäten beitragen. Geld besorgt man sich durch Entführungen, Spendensammlungen in radikalen Moscheen und sicher auch durch Schutzgelder mancher arabischer Regime. Das Personal wurde in den Folterkellern der Mubarak, Ben Ali und Gaddafi rekrutiert. Den Rest trägt eine US-Politik bei, die man nicht ganz zu Unrecht als „anti-muslimisch“ bezeichnen kann – nämlich Regime zu fördern, die den Muslimen Freiheit und Demokratie verwehren und dann auch noch zu behaupten, Muslime seien „nicht demokratiefähig“.
Zum zweiten handelt es sich um Gruppen wie die Taliban in Afghanistan oder Lashkar-e Taiba in Pakistan, die ihre Existenz oder ihren Aufstieg dem pakistanischen Geheimdienst ISI verdanken. Der brauchte sie als Stellvertreter-Jihadis gegen Indien.
Die Taliban aber hielten sich vor und nach 9/11 bewusst organisatorisch von al-Qaida fern. Weder traten sie der „Weltweiten Islamischen Front für den Jihad gegen Juden und Kreuzfahrer“ bei, die Bin Laden im Februar 1998 mit Gruppen aus Bangladesch, Ägypten und Pakistan gründete, noch der Post-9/11-al-Qaida. Will man die Folgen des Todes Bin Ladens für den Krieg in Afghanistan abschätzen, ist also eine genaue, ideologiefreie Analyse dessen nötig, welche Ziele al-Qaida und die afghanischen Taliban jeweils verfolgen, wo und wie sie operieren und wie viel Überschneidungen es dabei gibt.
„Wir sind das eine, und al-Qaida ist etwas anderes“, sagte der offizielle Taliban-Sprecher schon im Mai 2009. „Sie sind global, wir operieren nur in der Region“, mit dem Ziel, das 2001 im Zuge der US-geführten Militärintervention gestürzte Islamische Emirat Afghanistan wieder aufzurichten. In der Tat: Unter den Terroristen des 11. September waren keine Afghanen, und auch danach gibt es keinen einzigen Fall, in dem ein afghanischer Talib sich an Terrorakten außerhalb Afghanistans beteiligt hätte. Es gibt keine Afghanen in der al-Qaida-Führung und keine Araber in der Kommandostruktur der afghanischen Taliban. In jihadistischen Begriffen: Al-Qaida konzentriert sich auf den „fernen Feind“, die USA und ihre Verbündeten auf deren eigenem Gebiet, während die Taliban den „nahen Feind“ in ihrem eigenen Land bekämpfen – die Kabuler Regierung und was sie als Okkupationstruppen auf „muslimischem“ Territoriums betrachten. Weder die USA noch die EU oder die UNO haben die Taliban je als terroristische Organisation gelistet.
Die symbiotischen Beziehungen zwischen al-Qaida und Taliban unmittelbar nach 2001, als beide von den US-Schlägen extrem geschwächt waren, existieren so heute nicht mehr. Inzwischen sind die Taliban allein handlungsfähig: Sie haben genug eigene Kampferfahrung und kontrollieren oder beeinflussen weite Teile Afghanistans, haben systematisch Strukturen einer Parallelregierung aufgebaut und erheben Steuern – auch auf westlich gesponserte Projekte und die milliardenschwere Militärkontrakte. Der mangelnde Enthusiasmus der afghanischen Taliban für die globale Jihad-Agenda al-Qaidas lässt sich darauf zurückführen, dass sie angesichts des angekündigten Abzugs der westlichen Truppen aus Afghanistan bis 2014 nicht ihren Fehler von vor 2001 wiederholen und sich von der internationalen Gemeinschaft auf Dauer isolieren wollen – für den Fall der angestrebten Wiederübernahme der Macht.
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