von Holger Politt, Warschau
Wenn Warschau und Moskau sich in den zurückliegenden Jahren sehr misstrauisch beäugten, dann lag es häufig an einer dritten Seite, die bei schneller Aufzählung der gegenseitigen Irritationen meistens vergessen wird. Kiew ist eine der wichtigsten Adressen der polnischen und der russischen Außenpolitik. Das ganze Moskauer Konzept des nahen Auslands, also eines Raums, welcher eigentlich dazu gehört, ist in erster Linie auf die Ukraine gemünzt, mit der zusammen eine strategische Partnerschaft aufgebaut werden sollte, die ihrem Namen entspräche. Und wenn Polen die Ausdehnung der Europäischen Union nach Osten für noch nicht beendet hält, dann meint das die Ukraine.
Dabei ist Kiew selbst in diesem Streit eher nicht parteiisch, denn es braucht – pragmatisch gesehen – beide Seiten, sucht die guten Kontakte gleichermaßen an der Moskwa und an der Weichsel. Die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine, die der Fläche nach größer als Frankreich ist und der Einwohnerzahl nach fast an Großbritannien heranreicht, aber ist ein Fakt, an dem nicht mehr zu rütteln ist. Daran trug und trägt Moskau schwer. Einen signifikanten Ausdruck fand das in dem nur schwer nachvollziehbaren Gedanken, die Auflösung der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe im 20. Jahrhundert. Öffentlich geäußert hat ihn Wladimir Putin, als er noch russischer Staatspräsident war. Wie ernst es ihm damit als nunmehriger Ministerpräsident Russlands noch immer ist, verriet im Sommer des letzten Jahres eine Geste, die es in sich hatte.
An der Spitze eines Motorradkonvois, der aus Russland kommend die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim aufsuchte, zeigte sich Putin – den starken Mann spielend, in der Hand demonstrativ das russische Banner haltend. Was heißen soll, auch hier gehe es um russische Interessen. Also im Kleinen, fast im Privaten eine Machtprobe, denn natürlich sind auf der Krim, die erst in den 1950er Jahren in den Bestand der damaligen Sowjetukraine überging, in besonderer Weise russische Empfindlichkeiten berührt. Die Russen stellen die Bevölkerungsmehrheit, die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte hat für Moskau mehr als eine strategische Bedeutung. Doch noch immer denkt Moskau hier vor allem in postsowjetischen Maßstäben, will die Unabhängigkeit der anderen soweit akzeptieren, wie die eigenen und selbst definierten Interessen nicht berührt werden. In erster Linie ist es allerdings ein Kräftespiel, erst in zweiter das von historischen Befindlichkeiten und Ansprüchen.
Solange die Sowjetunion bestand, zeigte in Polen kaum jemand Interesse, Kiew auf die außenpolitische Rechnung zu setzen. Was über eine mögliche unabhängige Ukraine gedacht wurde, hatte Platz in den verschiedensten Bereichen – nicht aber in der ernsthaften Politik. Dennoch gehörte Polen vor allem aus historischen Gründen zu jenen Ländern, in denen das Begreifen der Ukraine als eines gesonderten gesellschaftlichen Faktors vergleichsweise lebendig geblieben war. Ein Blick etwa in verschiedene alte Ausgaben der für Polen so wichtigen Exil-Zeitschrift „Kultura“ mag da genügend Aufschluss geben.
Als Polen sich dann anschickte, der Europäischen Union beizutreten, wurde – egal wer gerade regierte – im historischen Kostüm signalisiert, die Erweiterung der Union nach Osten sei für das Land erst abgeschlossen, wenn auch die anderen Gebiete der früheren Adelsrepublik in die Union aufgenommen wären. Auf die erstaunten Rückfragen aus dem Westen, um was oder wen es dabei gehe, antwortete Warschau sachgerecht, um die Belarus und die Ukraine. Seinen Höhepunkt feierte diese emotionsgeladene Welle in der Orangen-Revolution, als Warschauer Politiker aller Couleur, von Aleksander Kwaśniewski bis Lech Kaczyński, sich am Kiewer Maidan die Klinke in die Hand gaben.
Seitdem ist zwar viel Wasser den Dnepr hinuntergeflossen, doch an der prinzipiellen Sicht Moskaus und Warschaus hat das wenig geändert. Allerdings heißt die realistische Politik, der sich Warschau in Richtung Moskau seit einiger Zeit befleißigt, auch, bestimmte Emotionen im bilateralen Verhältnis zur Ukraine zurückzuhalten. Denn wie wahrscheinlich kann auf absehbare Zeit eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine sein, wenn eine deutliche Mehrheit seiner Bevölkerung eine NATO-Mitgliedschaft des Landes entschieden ablehnt? Bisher gibt es keinen einzigen Fall eines ehemaligen sozialistischen Landes, welches ohne vorherige NATO-Mitgliedschaft in die EU aufgenommen worden wäre. Warum sollte das im Falle der Ukraine plötzlich anders sein?
Bleibt einstweilen die Sphäre der Symbole, denn die Option einer EU-Mitgliedschaft des großen östlichen Nachbarn bleibt für die polnische Außenpolitik eines der wichtigsten Ziele. Gleichwohl versteckt sich das im soeben durch Außenminister Radosław Sikorski vorgestellten Programm für die EU-Ratspräsidentschaft, die Polen am 1. Juli 2011 für ein halbes Jahr antritt, hinter der vernünftigen Absicht, die EU-Nachbarschaftspolitik nach Osten weiter zu gestalten. Und es bleibt in bereits absehbarer Zeit ein sportliches Großereignis, welches dann für mehrere Wochen Polen und die Ukraine in den Augen vieler Europäer nahe zusammen sein lassen wird – die gemeinsam ausgerichtete Fußball-Europameisterschaft 2012.
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