14. Jahrgang | Nummer 5 | 7. März 2011

Kenntlichkeit

von Erhard Crome

In einem der Fernsehsender wird gerade ein inzwischen nicht mehr unbekannter Soziologe befragt. Es geht um die Zunahme von Übergriffen auf Mitarbeiter von Ämtern, speziell des Sozialamtes. „Ja, das hat seit der Einführung von Hartz IV zugenommen“, sagt der Mann. Der vom Beamtenbund fordert, „die Politik“ müsse handeln. Wie denn? Bewaffnete Sicherheitskräfte auf jeder Etage? Handschellen für jeden Bittsteller, der ins Amt kommt, die ihm unten am Eingang angelegt und erst beim Verlassen des Hauses wieder abgenommen werden? „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Besteht die nur darin, diese Handschellen nicht angelegt zu bekommen? Oder besteht das Problem darin, dass bei der Übertragung der Bittsteller-Rolle von Amts wegen der Stand der Würde eingezogen wurde? Und wenn das Gesuch dann abschlägig beschieden wird …
„Bestimmte Kernnormen der Gesellschaft haben sich aufgelöst“, doziert der Soziologe weiter. Haben sich, oder wurden? Von oben? Oder von unten? „Der Geist der Zeit ist stets der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“, heißt es bei Goethen im Faust. Das wird meist interpretiert als Hinweis darauf, dass die „Herren“ auch das gesellschaftliche Bewusstsein machen, weil sie über Kanzeln, Richtertische, Schulen, Zeitungsredaktionen und Fernsehsender verfügen. Es sei denn, es bilden sich Gegenmächte heraus, zum Beispiel in Gegenkirchen, Gegenparteien, Gegenschulen, Gegenzeitungen und so weiter. Heute auch über das Internet, wenngleich dessen unsichtbare, vermachtete Strukturen und Voraussetzungen oft im Dunkeln bleiben.
Je weniger der Geist der Zeit als der Herren Geist reflektiert wird, desto ungestörter herrscht er. Die Witzerin Anke Engelke sagt im Radio, befragt, was sie denn tun würde, wenn sie die Bundeskanzlerin wäre, sie würde „etwas für die Kinder“ tun, „die können ja nichts dafür, wenn die Eltern die Sachen nicht auf die Kette kriegen“. Ach? Sind an den Millionen armer Kinder – zweieinhalb Millionen Kinder, jedes sechste Kind, leben in Deutschland von Sozialhilfe und damit in Armut – die Millionen Eltern schuld? Jeder einzeln und jeder für sich? Oder sind es vielleicht doch die Verhältnisse in dieser real existierenden Gesellschaft? Wenn die Herren immer weniger Steuern zahlen, müssen es schließlich die Knechte tun, und dann sind deren Kinder eben arm.
Das versteht so jemand wie Frau Engelke nicht. Wahrscheinlich sprechen mit ihr darüber weder der Psychologe noch der Steuerberater. Die sind dafür aber auch nicht zuständig. Das sind die Soziologen. Die kommen in den Redaktionen, die Frau Engelke betreuen, aber wohl nicht vor. Interessant ist, dass in Zeiten des Neoliberalismus auch eine neoliberal orientierte, zumindest apolitische Witzerszene entstanden ist; Dieter Nuhr statt Dieter Hildebrandt, nicht einmal mehr Richling. Früher hieß es, Kabarett könne nur links sein. Der Herren Geist hat, zumindest über die entsprechenden Personalentscheidungen, jetzt überwiegend das Gegenteil erwirkt. Die schlimmsten Flachwitzer füllen die größten Stadien. Und der örtliche Pöbel klopft sich auf die Schenkel.
Nein, der Satz mit dem Geist der Zeit meint auch die Setzung von „Kernnormen“. Wurden sie einst geteilt, von Herren und Knechten, so rutschen sie zusammen, wenn die Herren sie aufkündigen. Dann gelten sie auch für die Knechte nicht mehr. Nur manchmal funktioniert das nicht, besonders dann, wenn der Herr über die Stränge schlägt. Am Ende wurde über die sogenannte Schwarmintelligenz des Internets, wie es in den „Holzmedien“ so schön hieß, ermittelt, dass in der Doktorarbeit des fränkischen Barons an die zwei Drittel abgeschrieben waren. Dieser höchstselbst sprach von der Doktorarbeit immer in einem distanzierten Ton, in der dritten Person, so als sei sie gar nicht sein Kind, zumal er ja in der Zeit, da er diese Arbeit geschrieben haben wollte, neben der anstrengenden Gartenarbeit auf seinem Schloss, der ebenfalls ziemlich aufreibenden Arbeit als Abgeordneter auch noch seine Kinder von Fleisch und Blut gewickelt haben will, so dass er am Ende nicht mehr wusste, wie ihm die Sätze in die Arbeit gekommen waren. Oder wer sie ihm reingeschrieben hatte. Vielleicht der Schlossgeist. Jedenfalls hat er an einer bestimmten Stelle der Entwicklung seinen Doktortitel, der ihm eigentlich zustand, wie sein Name und sein Auto, huldvoll zurückgegeben. Bevor die Universität ihm den entzogen hat. Die prüft jetzt den Vorsatz des Betruges und die strafrechtliche Relevanz. Im Gefolge der französischen Revolution von 1789 können auch in Deutschland Angehörige des Adels vor ein bürgerliches Gericht zitiert werden. Zwischenzeitlich hat der Herr Minister seinen Rücktritt erklärt.
Dabei gab es viele Versuche der Hilfestellung zu dem Zwecke, dies zu vermeiden. Vornweg die BILD-Zeitung. Aber es gab auch Schreibtischtäter mit honorigem Ruf. Götz Aly, der in einer früheren Phase seines Lebens profiliert, kenntnisreich und solide geschichtswissenschaftliche Arbeitsergebnisse vorgelegt hatte, die sich besonders mit NS-Themen befassten, fühlte sich auf dem Höhepunkt des Schlagabtausches um zu Guttenberg bemüßigt, die Kritiker von dessen Plagiatsübungen in der Berliner Zeitung unin der Frankfurter Rundschau zu denunzieren. Die Fußnote als solche entstamme „der mittelalterlichen Marginalistik“. Und nur weil der reaktionäre Historiker Leopold von Ranke vor fast zweihundert Jahren die Fußnote „durchgesetzt“ habe, um die Geschichtswissenschaft aus einer Sparte der Belletristik zu einer objektivierten Quasi-Naturwissenschaft zu machen, spiele die überhaupt eine Rolle.
Mit anderen Worten: Die Fußnote ist Ausdruck des deutschen Sonderweges, eine Marotte deutschnationaler Kleingeister, und es schreibt sich viel besser ohne ihr. Damit hat sich Götz Aly wahrscheinlich ein Lob der Frau Kanzlerin verdient, die ja mit der ganzen Autorität ihres Amtes betont hatte, sie habe den Baron als Minister und nicht als wissenschaftlichen Assistenten berufen. Das allerdings hatte zur Folge, dass plötzlich und unerwartet tausende wissenschaftliche Assistenten, Hilfskräfte und sonstige Kleinknechte des neoliberalen Universitätsbetriebes – am besten bringen die alle noch Geld von zu Hause mit –, die sich allerdings redlich mühen, eigengeschriebene Doktorarbeiten zu verfertigen, um den erworbenen Titel dann auch lebenslang führen zu können, mit hoch erhobenen Schuhen all‘ Arrabbiata vor dem Bundeskanzlerinnenamt protestierten und dann auch noch eine Petition mit tausenden Unterschriften einreichten.
Spätestens an dieser Stelle des Lust- oder Trauerspiels war klar, dass die Herrschenden bzw. Regierenden in diesem unserem Lande ohnehin kein Verhältnis zu ordentlicher Arbeit, zu Sorgfalt und Ehrlichkeit haben. Wahrscheinlich war das der eigentliche Punkt des öffentlichen Aufbegehrens. Das erinnerte an einen anderen zornigen jungen Mann aus Trier, der 1844 geschrieben hatte: „Man muss den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewusstsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert.“ So kommen die Verhältnisse zur Kenntlichkeit.
Aber vielleicht war ja überhaupt alles ganz anders. Die Frau Kanzlerin hat nun jedenfalls nicht mehr zu gegenwärtigen, dass auf der Beliebtheitsskala, die der spätbürgerliche Medienrummel regelmäßig produziert, jemand dauerhaft vor ihr rangiert. Der Baron sitzt jetzt auf seinem Schloss und wartet. Vielleicht wird er ja doch noch gerufen, vielleicht als nächster bayerischer Ministerpräsident. Dann stört er in Berlin auch nicht.