von Wolfgang Schwarz
„Soviel Abrüstung war noch nie in der NATO“, jubelte Bundesaußenminister Guido Westerwelle zum Abschluss des Paktgipfels in Lissabon Ende November vergangenen Jahres. Dass die NATO sich jetzt ebenfalls dem Ziel eines weltweiten Abbaus der Atomwaffen verpflichten wolle, so Westerwelle gegenüber der Financial Times, sei „wirklich revolutionär“. Westerwelle suggerierte damit, die NATO habe sich praktisch die Vision des US-Präsidenten Barack Obama von einer kernwaffenfreien Welt zueigen gemacht. Dem Vernehmen nach wird sich der Nordatlantikpakt sogar ein neues Gremium geben – einen Abrüstungsausschuss. Doch der Blick auf das in Lissabon verabschiedete Neue Strategische Konzept (NSK) der NATO und sein Umfeld dämpft nicht nur jeden Anflug von Optimismus in Sachen atomare Abrüstung, sondern gibt vielmehr zu der Befürchtung Anlass, dass die Abrüstungsrhetorik des Paktes nicht viel mehr ist als eben Rhetorik.
Das ist im vorliegenden Fall keine Bagatelle, denn Experten sind sich darüber einig, dass das internationale Regime zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (Nonproliferation Treaty – NPT) nur am Leben zu erhalten sein wird, wenn die Kernwaffenstaaten – drei der vier wichtigsten sind die NATO-Länder USA, Frankreich, Großbritannien – ihrer Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung aus Artikel VI des NPT endlich so energisch nachkommen, dass dies für so genannte Schwellenländer tatsächlich zu einer politisch-moralischen Hürde und zu einem sicherheitspolitischen Anreiz wird, die eigenen nuklearen Möglichkeiten und Ambitionen aufzugeben. Setzt sich hingegen die seit Jahrzehnten zu verzeichnende schleichende Aushöhlung des NPT-Regimes fort, dann wird die Weiterverbreitung von Kernwaffen über die fünf ursprünglichen Atommächte sowie Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea und möglicherweise bald Iran in Zukunft weit hinausgehen – verbunden mit einem entsprechend wachsenden Risiko, was den möglichen Einsatzes von Atomwaffen anbetrifft.
Was die NATO in ihrem nun geltenden strategischen Konzept zu Kernwaffen formuliert hat, gleicht dem Versuch der Quadratur des Kreises. Dem verbalen Bekenntnis „zu dem Ziel, die Bedingungen für eine Welt ohne Kernwaffen zu schaffen“ folgt – im selben Absatz – der erklärte Wille zur Beibehaltung eben dieser Waffen: Solange Nuklearwaffen existierten, werde die NATO „eine nukleare Allianz bleiben“. Das ist quasi die Aufforderung an alle anderen Atommächte und Schwellenländer, ihrerseits komplett abzurüsten; dann werde die NATO folgen. Wenn Kritiker nun unterstellen, dass Obama bereits bei der Verkündung seiner Vision von einer atomwaffenfreien Welt eine solche Logik im Hinterkopf hatte, dann kann dieser Unterstellung nach Lissabon zumindest noch weniger überzeugend widersprochen werden als zuvor. Zu nuklearer Abrüstung in Richtung „Zero“ wird die NATO-Logik jedenfalls mit ziemlicher Sicherheit nicht führen.
Hinzu kommt, dass die NATO sich über die Abschreckungsfunktion von Kernwaffen hinaus die Option auf den Einsatz derartiger Waffen ausdrücklich offen hält und diese Option nicht einmal auf Staaten beschränkt, die nicht dem NPT angehören oder die ihrerseits Atomwaffen einsetzen oder damit drohen. So ebenfalls zu entnehmen dem NSK. Daran ändert auch der abschwächende Zusatz, dass denkbare „Umstände“, in denen ein Kernwaffeneinsatz in Erwägung gezogen werden könnte, „in extreme Ferne“ gerückt seien, nichts.
Hinzu kommt des Weiteren, dass der französische Präsident Nicolas Sarkozy auf dem Lissaboner Gipfel erklärte, Frankreich werde niemals auf seine nukleare Bewaffnung verzichten. Dass dieses Statement Reaktionen anderer NATO-Partner ausgelöst hätte, ist nicht bekannt. So liegt die Vermutung nahe, dass Sarkozy wieder einmal nur das ausgesprochen hat, was auch in anderen führenden Paktstaaten gedacht wird und was kein Paktstaat – zumindest nicht öffentlich – in Frage zu stellen wagt. Da erscheint es nur folgerichtig, dass Frankreichs (und Großbritanniens) Kernwaffen im NSK erstmals seit Jahrzehnten wieder expressis verbis „eine eigenständige Abschreckungsrolle“ zugemessen wird.
Hinzu kommt schließlich, dass der Abzug der letzten etwa 200 taktischen US-Kernwaffen von europäischem Boden, wie ihn Außenminister Westerwelle, aber auch kleinere europäische Verbündete bereits wiederholt thematisiert haben, auf absehbare Zeit nicht stattfinden wird. Die amerikanische Linie, unterstützt von Frankreich und wohl auch Großbritannien, hat sich durchgesetzt, einen solchen Schritt nur im Rahmen eines entsprechenden Abkommens mit Russland in Erwägung zu ziehen.
Russland lehnt Abrüstungsgespräche über taktische Kernwaffen keineswegs ab, fordert aber von den USA, zunächst dem eigenen Beispiel zu folgen: Russland hat bereits vor Jahren seine sämtlichen bodenstationierten taktischen Kernwaffen auf russisches Territorium zurückgezogen. Militärische und sicherheitspolitische Gründe jedenfalls sprechen nicht dagegen, dass die USA dies ebenfalls tun. So können die heute noch in Deutschland, Belgien und den Niederlanden gelagerten US-Gefechtsköpfe mit den vorhandenen Trägersystemen keine erkennbar sinnvolle militärische Mission mehr erfüllen. Gegen deren Abzug aus Sicht der USA – und anderer – sprechen aber vielleicht Gründe der Bündnisräson und das Interesse, einen Damm gegen anschwellende nukleare Abrüstungsintentionen von europäischen NATO-Verbündeten zu errichten. Dafür spricht auch die – im NSK – dezidiert verankerte Fortführung, ja Verstärkung der sogenannten nuklearen Teilhabe: „Wir werden die breitest mögliche (Hervorhebung – WS) Beteiligung der Alliierten an der kollektiven nuklearen Verteidigungsplanung, an der Stationierung von Kernwaffen in Friedenszeiten und an Kommando-, Kontroll- und Konsultationseinrichtungen sichern.“ Deutschland, Belgien, die Niederlande, Italien und möglicherweise die Türkei sollen also weiterhin eigene nationale Trägersysteme für die auf ihren Territorien gelagerten US-Kernwaffen für den Kriegsfall stellen und damit potenziell sowie nach amerikanischer Freigabe auch de facto Verfügungsgewalt über Atomwaffen haben. Damit werden diese Länder auch in Zukunft gegen Geist und Buchstaben des NPT – speziell Artikel I und II des Vertrages – verstoßen, in ihrer nuklearen Abrüstungspolitik im Zweifelsfall unglaubwürdig bleiben und nicht in der Lage sein, effektiven Abrüstungsdruck auf die heutigen Atommächte oder auch nur auf Schwellenländer auszuüben. Dass diese Staaten damit zugleich Ziele potenzieller nuklearer Vergeltung bleiben, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Wenn im NSK zugleich die Feststellung getroffen wird, dass die „Weiterverbreitung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungsmitteln … unkalkulierbare Konsequenzen für die internationale Stabilität … heraufbeschwört“, dann ist das zwar eine zutreffende Realitätsbeschreibung, mag manchem jedoch wie Zynismus anmuten. Meines Erachtens handelt es sich eher um das Symptom einer Krankheit. Wer eine existenzielle Gefahr erkennt, sich aber um des Erhalts der eigenen Bedrohungsmittel willen und sehenden Auges selbst die Hände für eine effektive Gefahrenbekämpfung bindet, dem ist sicherheitspolitische Schizophrenie zu attestieren. Das ist natürlich keine klinische Diagnose – aber eine treffende Metapher für ein Denken, das sich auch 20 Jahre nach dem Ende des Systemantagonismus nicht konsequent und nachhaltig von tradierten Paradigmen sowie Freund-Feind- und Nullsummenaxiomen, von vorgestanzten Abschreckungsreflexen sowie von einer Überbetonung des militärischen Faktors im Rahmen der Sicherheitspolitik zu lösen vermag. (Das macht das NSK der NATO auch im Hinblick auf andere strategische Fragen deutlich – etwa die Raketenabwehr und das künftige Verhältnis zu Russland betreffend; siehe Blättchen Nr. 1 und 2-2011.)
Fazit: Einer Einschätzung, wie sie Christos Katsioulis von der Friedrich-Ebert-Stiftung getroffen hat – „Das Strategische Konzept leitet … keineswegs eine Wende der NATO hin zu mehr Abrüstung und Rüstungskontrolle ein …“ –, ist leider nichts hinzuzufügen.
P.S.: Mit dem hier Gesagten korrespondiert, dass der NATO auch zur konventionellen Abrüstung in diesem Jahrhundert praktisch noch nichts Konstruktives eingefallen ist – also für einen Bereich, in den der mit Abstand größte Teil der Miltärbudgets der NATO-Staaten wie auch weltweit fließt und mit dessen Mitteln sämtliche kriegerischen Konflikte seit Ende des Zweiten Weltkriegs geführt worden sind und geführt werden. Im NSK findet sich dazu lediglich ein substanzloser Allgemeinplatz: „Wir werden daran arbeiten, das Regime der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa … zu stärken.“ Dabei existiert ein solches Regime in Europa praktisch nicht mehr – unter anderem, weil die NATO-Staaten die Modifizierungsvereinbarungen von 1999 zum Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) bis heute nicht ratifiziert haben. Im Unterschied zu Russland, das den KSE-Vertrag allerdings deswegen im Dezember 2007 ausgesetzt hat.
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