von Sandra Beyer
Als sich der Geologe Heinrich Edmund Naumann (1854-1927) im Jahre 1886 in der „Allgemeinen Zeitung“ zur Modernisierung Japans äußerte, richtete er sich an ein deutsches Publikum und wollte diesem ein rückständiges Land in blinder Jagd auf die Errungenschaften des Westens vorstellen. Seine Worte über den Dreck in den Großstädten, die seltsamen Kleidungen und die barbarischen Sitten des Inselreiches fielen Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich auf fruchtbaren Boden. Auch viele der im Ausland lebenden Japaner zogen Stock und Hut dem Kimono und den Holzsandalen vor und glaubten, in den Ziegelbauten der japanischen Regierung die Träume einer Weltmacht eher als in Holz und Tempeln verwirklichen zu können. So widersprachen gerade diejenigen nicht, die Japan als moderne Kolonialmacht sehen wollten. Doch Naumanns Worte, die auf seinen Erfahrungen als Berater der Regierung in Tokyo von 1875 bis 1880 basierten, riefen auch eine Gegenreaktion in der gleichen Zeitung durch Mori Rintarô (1862-1922) hervor, der 1884 nach Deutschland gekommen war, um in München, Leipzig und Berlin unter anderem bei Robert Koch Hygiene und Militärmedizin zu studieren. Er sollte sich nach seiner Rückkehr als höchster Militärarzt des Kaiserreiches gegen jene blinde Nachahmung des Westens wenden, deretwegen viele Japaner erst ins Ausland gegangen waren. Er wusste, weswegen er das japanische Holzhaus und die Kleidung als für das Klima des Inselreiches angemessen verteidigte. Wie Naumann kam er, der sich nach seiner Rückkehr nach Japan Ôgai nennen und zu einem der großen Vordenker Japans an der Wende zum 20. Jahrhundert und zum ersten Goetheübersetzer des Landes werden sollte, zu dem Schluss, dass das Land den Westen nicht einfach kopieren konnte. Auch sah er, dass ein Verständnis der eigenen Kulturen für die Entwicklung des Landes wichtig sein würde. Ôgai verteidigte die Sitten und Gebräuche seines Landes, weil sie sich seiner Meinung nach aus den Gegebenheiten Japans entwickelt hätten.
Seit der so genannten Naumann-Debatte sind über hundert Jahre vergangen, und die Architektur des gemeinen japanischen Hauses hat sich gemäß den Gegebenheiten der Moderne mit Heizmöglichkeiten und Stromzufuhr verändert. Doch wurden gerade auf dem Land bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts Häuser wie zu Ôgais Zeiten gebaut. Bis heute gibt es aber weder für solche Einfamilienhäuser noch für die entsprechenden Wohnungen Konzepte, wie diese zu modernisieren oder zu sanieren seien. Auf meiner Japanreise hatte ich das Vergnügen, in verschiedenen Unterkünften wohnen zu dürfen. Nachdem Menschen in eine Firma eingetreten sind und somit über ein festes Einkommen verfügen, geheiratet und eine Familie gegründet haben, kaufen sie sich in Japan in der Regel eine Wohnung oder ein Haus. Projekte wie die Newtown in Yokohama, in denen eine ganze Stadt mit kommunalen Genossenschaftswohnungen für Familien und Ältere und allen Annehmlichkeiten des täglichen Lebens entstehen, sind in Japan kaum bekannt. Bei denjenigen, die von diesen Möglichkeiten wissen, sind solche Wohnungen sehr beliebt, da deren Mieten um ein Drittel bis zur Hälfte niedriger als die auf dem freien Wohnungsmarkt sind und die Grundfläche trotzdem der einer Eigentumswohnung entspricht. Die Häuser sind zwar so hoch wie in anderen Großstädten auch, sie stehen jedoch freier und lassen somit Sonne in die Wohnungen, ohne den Nachbarn zu viel Einblick in die Privatsphäre zu gewähren. Parks, die den Namen auch verdienen, wurden ebenso mit eingeplant wie der Zugang zu Kaufhäusern, den bekannten Kaffee- und Restaurantketten sowie zur U-Bahn, die dieses Viertel mit Tokyo im Nordosten und der Shinkansenstrecke im Nordwesten verbindet. Die Wohnungen verfügen im Gegensatz zu vielen Eigentumswohnungen der letzten 15 Jahre sogar über ein japanisches Zimmer mit Tatamimatten und Schiebetür. Denn Tradition darf auch in der Moderne nicht verloren gehen.
Aufgrund des zu geringen Platzes für modernes Leben wohnt die Bevölkerung der Inseln zu 80 Prozent in einer Aneinanderreihung von Städten. So besteht die Hauptstadt Tokyo nicht nur aus sich selbst, der sie umgebenden Präfektur gleichen Namens, sondern eigentlich auch aus den drei angrenzenden Präfekturen. Die Häuser in diesen Außenstädten verfügen dabei kaum über mehr Fläche als eine durchschnittliche Dreiraumwohnung in Deutschland. Die Enge ist zu jeder Jahreszeit unangenehm. Häuser sowie Wohnungen werden oft über eine Lüftungsanlage unter Decke der Zimmer im Winter beheizt oder im Sommer gekühlt. Nach den Regeln der Physik werden damit jedoch bestenfalls die Köpfe der sich darin aufhaltenden erwachsenen Menschen und der Boden des darüber liegenden Zimmers gewärmt. Deswegen kaufen sich viele Menschen in Japan einen Heiztisch, den so genannten Kôtatsu. Diese Art der Heizung fördert die intime Gesellschaft um einen meist rechteckigen, niedrigen Tisch und damit das Leben im Sitzen auf dem Boden. Weitere Erwärmungsmöglichkeiten sind kleine Heizöfen, die mit Öl oder elektrisch betrieben werden. Die Tanks für ersteres befinden sich in den Gärten dieses erdbebengefährdeten Landes. Aufgrund der wenigen vor Ort verfügbaren fossilen Brennstoffe greift Japan auf Kernenergie zurück, die zirka 30 Prozent des Energiebedarfes deckt. So wird das gemeine japanische Haus zwar den klimatischen Bedingungen angepasst, jedoch schädigt es wegen seiner Unbeheizbarkeit nachhaltig die Umwelt. Aufgrund dieser mangelhaften Heizmöglichkeiten gibt es gerade auf der Hauptinsel Honshû das kuriose Phänomen, dass die Wintertage vor der Tür wärmer sind als im Haus. Obwohl die Sonne selbst im Winter den Tag auf plus zwölf Grad Celsius erwärmen kann, reicht sie selten in die Enge der Häuser hinein, und in der Nacht kühlen die unisolierten Gebäude mit ihren einfachverglasten Fenstern und Schiebetüren schnell aus. Der Temperaturunterschied führt am Morgen zu beschlagenen Gläsern und nassen Wänden, weswegen eine Außenisolierung der Häuser noch weniger attraktiv erscheint. Auch wegen der Schwüle während der Regenzeit und der trockenen Hitze im Sommer blieb Holz bis in die Neunzehnhundertsechzigerjahre trotz der erheblichen Brandgefahr das beliebteste Baumaterial, um den Luftaustausch im Haus zu gewährleisten. Auch lassen sich solche Häuser im katastrophengeschüttelten Land schneller und kostengünstiger wieder aufbauen. Das sind Gründe dafür, warum im Winter lieber gefroren wird, als dass Bauten über ausreichende Isolierung und Heizung verfügen. Wichtiger als solche menschlichen Erwägungen scheint den meisten der Besitz eines japanischen Zimmers zu sein, welches die Atmosphäre eines Hauses auf den Inseln entscheidend beeinflusst.
Nicht nur die Baumaterialien und die Tradition der Zimmeraufteilung sondern auch der Zugang zu Licht, Wärme und Grün sind für ein angenehmes Wohnen wichtig. Doch der Platzmangel lässt entsprechende Modernisierungen undurchführbar erscheinen. Als Ôgai die japanische Bauweise verteidigte, war auch diese nicht für alle Menschen gleichermaßen realisierbar. Unterhalb der Burg der Hauptstadt hatte sich über die zwei Jahrhunderte der Shogunatsregierung ein reges Handels- und Bürgerleben entwickelt. Die engen Gassen von Downtown Tokyo mit ihren Ladenhäusern mit einem Hinterzimmer und Außentoilette boten eben keine gesunden Lebensbedingungen. Der Wind mag zwar im Sommer die Wände gekühlt haben, aber im Winter bestand Feuergefahr. Die globalen Epidemien des 18. und 19. Jahrhunderts machten selbst vor Japan nicht halt, auch wenn seine Häfen dem Ausland bis 1853 verschlossen waren. Fragen über angenehmere Wohnbedingungen stellten sich die Menschen bereits 1886, bei steigenden Wohn- und Heizkosten sind die Probleme im 21. Jahrhunderts die gleichen geblieben.