von Heerke Hummel
Wer das Buch „Exit“ von Meinhard Miegel zur Hand nimmt, wird den im Untertitel eingeforderten „Wohlstand ohne Wachstum“ für das angestrebte Ziel halten, das uns beim Überwinden der heutigen, vernunftlos wachstumsgetriebenen Gesellschaft erwarten sollte. Wird aber auch der Weg dahin gewiesen? Miegel führt einen wahren Feldzug gegen den Wachstumswahn, der die Weltgesellschaft von heute und gestern als Ideologie des 19. und des 20. Jahrhunderts beherrscht. Da hätten sich, so Miegel, die Systeme, die Blöcke in West und Ost nicht unterschieden. Plausibel, ja gefühlvoll, beschreibt er die Bedeutung von Wissenschaft und menschlichem Erfindergeist für den Übergang von den vorindustriellen zu den frühindustrialisierten Gesellschaften. „Ähnelte die Geschichte der Menschheit während der längsten Zeit einer Lichterkette funkelnder Ideen“, heißt es da, „so gleicht sie seit Beginn der Industrialisierung einer Stichflamme. Alles vollzieht sich in rasender, atemberaubender Geschwindigkeit.“ Und: „Könnten die Menschen in den frühindustrialisierten Ländern, und nicht nur dort, ihren Empfindungen folgen – viele von ihnen würden aus dem rasenden Gefährt aussteigen, das da heißt: Fortschritt, Wachstum, Wohlstandsmehrung.“ Kritisch setzt sich Miegel mit dem verbreiteten Glauben an die Unerschöpflichkeit menschlicher Geistesressourcen als wertvollstem Rohstoff der Welt auseinander. Hier neige der Mensch zur Selbstüberhebung, zur Hybris. Daher, so der gläubige Katholik, verführte die satanische Schlange im Paradies Eva und Adam nicht mit dem Versprechen immerwährender Schönheit beziehungsweise nie erlahmender Kräfte, sondern sie köderte beide mit der Aussicht auf gottgleiche Erkenntnisfähigkeit. Doch: „Mutter Erde kommt keines der Attribute zu, die im abendländischen Kulturkreis Vater Gott zuerkannt werden. Anders als dieser ist sie endlich – zeitlich, räumlich und in ihren Potenzialen.“ Mit voranschreitender Industrialisierung entstanden daraus ökonomische und politische Probleme mit Folgen wie beispielsweise „europäischer Kolonialismus“ und barbarische Kriege zur Sicherung von Rohstoff- und Energiequellen bis in die heutige Zeit. Dies alles „ist das immer wieder gespielte Stück von menschlicher Torheit, Verblendung und Vermessenheit. Es ist das Stück vom Menschen, der nur allzu geneigt ist, Trugbildern hinterher zu laufen, vor allem solchen, die ihm Reichtum und Macht vorgaukeln, um am Ende festzustellen, dass sie sich umso weiter entfernen, je näher er sich ihnen wähnt.“ Und die Krise dieser Jahre als „Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Situation“ sei „die allgegenwärtige und hemmungslose Schuldenmacherei auf allen Ebenen der Gesellschaft“, die sich von einer falschen Vorstellung von Glück und Wohlstand treiben lasse. Nicht zuletzt sei sie aber auch eine „Krise von Wissenschaftlern, die ihre Mutmaßungen und Glaubenssätze als belastbare Erkenntnisse verkündeten, die Sparsamkeit als Laster und Verschwendung als Tugend ausgaben und die ein neues Zeitalter der Allmachbarkeit ausriefen.“ Es folgen Vorwürfe an die Gewerkschaften und Sozialverbände sowie die Aufforderung zu allgemeiner Genügsamkeit. Das wäre Miegels „EXIT“.
Tiefer dringt der studierte Volkswirt leider nicht in die Forschung nach den Ursachen und Triebkräften der desaströsen Wachstumsmanie ein. Nach der Bedeutung des Konkurrenzkampfes als unerbittlich zwingende Triebkraft des gesellschaftlichen Irrsinns und nach der Rolle des diesen Kampf hervorbringenden Privateigentums am Produktivreichtum der Gesellschaft fragt Miegel (erwartungsgemäß) nicht, obwohl dieses Grundproblem schon vor anderthalb Jahrhunderten – allerdings von Karl Marx – in den Mittelpunkt ökonomischer und gesellschaftlicher Analyse gerückt wurde. Wie auch? Er, Miegel, müsste dann das System in Frage stellen, dem er ein Leben lang diente – unter anderem als Syndikusanwalt des Chemieriesen Henkel, als Mitarbeiter des Generalsekretärs der CDU, Kurt Biedenkopf, als Leiter der Hauptabteilung Politik, Information und Dokumentation der Bundesgeschäftsstelle der CDU, als Vorstand des von ihm zusammen mit Biedenkopf gegründeten Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn (ein privat finanziertes Forschungsinstitut) und nicht zuletzt als außerplanmäßiger Professor an der Universität Leipzig, wo er nach 1992 lehrte. Das System, allgemein als Kapitalismus bezeichnet, scheint es für den Wissenschaftler Miegel gar nicht zu geben. Dieser Begriff wird auf den 300 Seiten nur ein einziges Mal gebraucht – um es „wirtschaftlich weit überlegen“ gegenüber dem sozialistischen zu nennen. Dagegen werden die durch dieses System charakterisierten Staaten ausschließlich als „frühindustrialisierte“ Länder bezeichnet. Dem entspricht, dass Miegel, dessen Maxime lautet: „Wohlstand heißt nicht, viel zu haben, sondern wenig zu benötigen“, seine Unersättlichkeitsvorwürfe unterschwellig vor allem an die ohnehin Benachteiligten dieser Gesellschaft adressiert, wenn er nicht zwischen Arm und Reich unterscheidet, denn die Benachteiligten bilden die große Mehrheit der Weltgesellschaft, und verschwenderisches Wohlleben wurde ihnen von den Wohlhabenden als beispielhaft bis zum Exzess vorgelebt. Die Ironie dieser Geschichte: Der Kritiker beklagt eine Gesellschaft, die er als gebürtiger Thüringer 1958, doch wohl seiner „Empfindung folgend“, durch Flucht gegen die heimatliche eintauschte, in welcher er aufgewachsen war, in der er ein Musikstudium hatte beginnen können und in der es Wohlstand nach seiner heutigen Definition gab: „… wer seine Lebensführung darauf eingestellt hat, wenig zu benötigen, der verzichtet auf nichts, wenn er das Wenige hat. Im Gegenteil. Er hat Zeit und Kräfte frei für anderes. Er bindet seine Energie nicht mit Dingen. Für die meisten, die sich hierauf einlassen, ist dies nicht selten eine positive Erfahrung, mitunter sogar ein Akt der Befreiung: der Ausbruch in die Welt materieller Bedürfnislosigkeit, der in vielen Religionen eine wichtige Rolle spielt.“ Die Errichtung der Mauer um Westberlin war damals noch nicht einmal geplant. Und die meisten der vielen Republikflüchtigen waren eben nicht bereit, sich – trotz bedeutender immaterieller Werte wie Bildungsmöglichkeiten für alle und kulturelle Angebote für die Persönlichkeitsentwicklung – mit notwendigerweise wenig Materiellem zu begnügen, wo doch der Westen bereits mit „massenhaftem Konsum“ lockte. Das war Kalkül und Strategie des Westens im Kalten Krieg seit dem Ende des zweiten Weltkriegs gewesen, um der „Gefahr des Sozialismus“ zu begegnen. Und in diesem Wettbewerb hatte der Westen – historisch bedingt – die besseren ökonomischen Voraussetzungen. Er zwang das verhasste System im Osten, anstatt zu expandieren sich selbst einzumauern. Bei Miegel, der nach Jahrzehnten des Wohllebens im Kalten Krieg (es war ein erbitterter Wirtschaftskrieg) und nach der vermeintlichen „Überwindung des Sozialismus“ glaubt, das Volk wieder zur Ordnung, zur Mäßigung und zum Verzicht aufrufen zu müssen, damit seine Herren weiter gut verdienen, liest sich das ein wenig anders: „Wie aber werden Menschen dazu gebracht, durch ihre Leistungen zu materiellem Wohlstand beizutragen, wenn sie meinen, dass sich das für sie nicht lohne? Die Brisanz dieser Frage erschließt sich am Schicksal des real existierenden Sozialismus. Er ging unter, weil er die wirtschaftlichen Erwartungen der Bevölkerung dauerhaft enttäuschte. Und er enttäuschte sie, weil er die Menschen nicht zu motivieren vermochte, die dafür notwendigen Leistungen zu vollbringen. Zwar überschüttete er sie mit Titeln, Orden und Ehrenzeichen. Aber das genügte ihnen nicht. Sie wollten Substantielleres, und das vermochte der Staat ihnen nicht zu bieten. Anders im Westen. Dessen Problem war und ist, dass seine Völker einen materiellen Lebensstandard einfordern, der ihre Leistungen übersteigt und nur durch tiefe Einschnitte in die Substanz von Natur und Gesellschaft sowie durch Berge von Schulden ermöglicht werden kann. Das Leben, das sie führen, muss permanent subventioniert werden.“
Damit hat Miegel seinen politischen Unverstand als Funktionär der CDU und seine wissenschaftliche Inkompetenz als Professor offenbart. Denn als Politiker zu glauben, im Osten sei „der Sozialismus“ untergegangen, ist genauso töricht wie als Wirtschaftswissenschaftler zu übersehen, dass Subventionierung nichts weiter bedeutet als finanzielle Umverteilung des geschaffenen gesellschaftlichen Reichtums – zu wessen Gunsten auch immer. Auch ist dies keine Frage von Wachstum, jener Fiktion, von der diese Gesellschaft wohl mehr besessen als bedroht ist. Mit „EXIT“ hat Miegel sein Ziel eines gesellschaftlichen Ausgangs, einer Veränderung, dargelegt, aber keine Strategie, keinen Ausweg aus der gesellschaftlichen Misere am Beginn dieses Jahrhunderts gezeigt. Dazu hätte es der Orientierung bedurft, die ökonomischen Triebkräfte dieser Gesellschaft durch wirksame Eingriffe in ihre Ursachen zu zügeln – durch grundgesetzliche Erklärung von Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu einer öffentlichen statt privaten Angelegenheit und ihre allgemeine Unterordnung unter gesellschaftliche Regeln und Kontrolle, insbesondere was das Geld- und Finanzsystem betrifft.
Meinhard Miegel: EXIT. Wohlstand ohne Wachstum, Propyläen, Berlin 2010, 300 S., 22,95 Euro
Schlagwörter: Gesellschaftsperspektiven, Heerke Hummel, Kapitalismus, Meinhard Miegel, Reichtum, Umverteilung, Wachstum