14. Jahrgang | Nummer 4 | 21. Februar 2011

Der rote Joseph

von Wolfgang Brauer

Wir glauben ihn zu kennen, den Hiob: Wie er sentimental-verhangenen Auges aus dem Caféhaus zu den Klängen des Radetzkymarsches in den Großen Krieg der weißen Männer zog, während des langem Atemholens jenes Krieges zu seinem zweiten Anlauf im Hotel Savoy dahindämmerte, um sich schließlich als bekennender Trinker in Paris noch rechtzeitig vor dem Einfall seiner ehemaligen Waffenbrüder, die auch ihm ans Leben wollten, zu Tode zu saufen. Er wird immer noch gedruckt, aber wir kennen ihn mitnichten. Drei große Werkausgaben und zahlreiche Einzeleditionen täuschen darüber hinweg, dass der Mann für das literarische Bewusstsein der Deutschen – in Österreich ist das noch ein wenig anders – scheinbar tot ist. Für den Autoren der „Kapuzinergruft“ vermeldet der literarische Tidenkalender wohl augenblicklich Ebbe. Immer wieder einmal stattfindende Verfilmungen immer wieder derselben Romane, zuvörderst der schon zitierte „Radetzkymarsch“ aus dem Jahre 1932, schaden ihm mehr als sie uns, seinen Lesern, nutzen. Zumal es in der Filmbranche Mode wurde, „nach Motiven des …“ zu arbeiten. Die literarische Vorlage wird zur Trödelscheune degradiert und die Ergebnisse sind auch so. Sie werden es bemerkt haben, die Rede ist von Joseph Roth, dem überall „heimatlos erscheinenden“ Dichter, wie ihn Helmuth Nürnberger bezeichnet. Nürnberger gab im Wallstein Verlag unter dem Titel „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“ eine Sammlung von journalistischen Arbeiten Joseph Roths heraus, die hier eindringlich empfohlen sein soll. Nürnbergers Edition greift auf die Erstdrucke zurück, das erhöht den Wert des Bandes beträchtlich. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat und ein kluges Nachwort erleichtern dem literaturhistorisch weniger geschulten Leser den Zugang.
Das Buch ist eine Reise durch einen quasi vor der Haustür liegenden, dennoch kaum gekannten, geistigen Kontinent. Ist das erzählerische Werk Roths, davon war schon die Rede, momentan ohne die Weichzeichner und Farbfilter eingefahrener Interpretationsmuster kaum erfahrbar – selbst Nürnberger spricht von der „Ratlosigkeit angesichts eines in trauriger Weise zerstörten Lebens“, unterliegt also selbst gelegentlich der Gefahr, dieses von seinem Ende her zu sehen –, so sind die journalistischen Arbeiten immer noch eine Entdeckung wert. Diese Texte sind anders als die uns von Alfred Kerr oder Karl Kraus oder auch Tucholsky her vertrauten. Nur selten spießt Roth vernichtend auf. Und wenn doch geht es immer um die faschistische Gefahr, die er früher als andere sieht und beschreibt: „… am deutschen Himmel leuchten keine Sterne mehr, sondern Hakenkreuze“. Das schrieb er 1924. In seinen Arbeiten aus der Zwischenkriegszeit sezierte Roth erbarmungslos das Weltbild deutscher Richter und ihrer politischen Spitzel, deutscher Professoren und ihrer Korpsstudenten, deutscher Politiker und deutscher Gastwirte. Der Herausgeber wählte als Titel des Bandes eine Selbstaussage des Autoren. Der glänzte wahrlich nicht durch ein Übermaß an Bescheidenheit. Aber hier untertrieb er: Seine Feuilletons und Essays zeichnen nicht das „Gesicht der Zeit“, sie zeigen auf, was hinter diesem steckt. Und er war ein besessener und fleißiger Schreiber mit scharfem Blick für das Wesentliche hinter dem scheinbar Belanglosen. Roths journalistische Arbeiten – die bei Kiepenheuer 1989 bis 1991 herausgebrachte sechsbändige Werkausgabe benötigt für diese Texte des Tages gut dreitausend Druckseiten – erschienen in angesehenen links-liberalen Blättern der Republik. Die Bibliographen wiesen zirka 120 Zeitungen und Periodika nach, in denen er veröffentlichte. Roth arbeitete für die Frankfurter Zeitung. Der „rote Joseph“, wie er einige Zeit seine Arbeiten unterzeichnete, schrieb für den Vorwärts und den Berliner Börsen-Courier. Seine Arbeiten erschienen im Prager Tagblatt, einem der wenigen deutschsprachigen Presseerzeugnisse, die der tschechoslowakischen Republik loyal gegenüberstanden. Kisch hingegen arbeitete eine Zeitlang für die deutschnationale Bohemia. Allerdings zu einer anderen Zeit, das muss gerechterweise gesagt werden. Beide kannten und respektierten einander: „Das Zeitungspapier hat … Egon Erwin Kisch viel mehr zu verdanken, als Honorare abzahlen können. … Was Kisch mitteilt, ist Wirklichkeit von sensationellem Rang.“ Kisch war kein Nationalist und Roth nicht der habsburgische Monarchist aus Überzeugung, als der er oft dargestellt wurde und wird. Roth fühlte europäisch, das hat mit seiner Herkunft zu tun. Seine Heimat war das Kronland Galizien der Jahre vor 1914. Er suchte sich ihr in sehr warmherzigen Reise-Feuilletons nach 1918 zu nähern und fand sie nicht mehr. Zu Haus fühlte er sich in Berlin und Wien und Prag und in Frankreich. „In Paris möchte ich die Sonntage verbringen und die Wochentage in Prag“, schrieb er 1924. Ab 1938 musste er auch die wenigen ihm noch verbliebenen Wochentage in Paris verbringen. Seine letzte Arbeit war nicht die „Legende vom heiligen Trinker“. Seine wahrscheinlich letzte Arbeit heißt „Die Eiche Goethes in Buchenwald“ (Erstdruck 1974!) und sie beschließt den vorliegenden Band.
Der Leser sollte bei der Lektüre die chronologische Anordnung der Texte möglichst nicht unterbrechen. So manches scheinbar Unklare am Entstehungsprozess des uns Heutige so merkwürdig berührenden Weltbildes Joseph Roths wird klarer. Manchmal ist es nur ein Halbsatz, der späteres Schreiben des Autoren und auch das Verhalten des Menschen J.R. erklärt: Im Bericht über seine Russland-Reise 1926 findet sich am Rande von Betrachtungen über die Zukunft des „Nepmannes“ der verräterische Halbsatz „wenn er am Leben bleibt“. „Hinter dem Roten Platz“, heißt es an anderer Stelle, „steht die Weltgeschichte mit verschleiertem Gesicht.-“ Der Gedankenstrich stammt von Roth. Er ahnte das Unheil, das sich da hinter den roten Fahnen der Verwalter der Revolution zusammenballte. Er brauchte drei Jahre, um diese bittere Erkenntnis in der Erzählung „Der stumme Prophet“ zu verarbeiten und zur Veröffentlichung gab er diese nicht frei. „Nach vorn“ denkende Geister werden jetzt mit den Schultern zucken und fragen, was denn das alles für Heutiges nutze. Folgen Sie der chronologischen Folge beim Lesen der Texte Roths in einem Falle nicht, so beantwortet sich die von selbst: Nach der Lektüre des großartigen Essays „Juden auf Wanderschaft“ (1927) überspringen Sie 140 Seiten und lesen bitte Vor- und Nachwort zur 1938 geplanten Neuauflage dieses Essays. Mir stockte beim Lesen das Blut. „Die echte Aktualität ist keineswegs auf 24 Stunden beschränkt. Sie ist zeit- und nicht tagesgemäß.“ Das stammt aus einer Rezension Roths mit dem wunderbaren Titel „Einbruch der Journalisten in die Nachwelt“. In der geht es um Kisch und Alfred Polgar. Übrigens ist (fast) jeder Satz dieser so genannten Gebrauchsprosa gute. Literatur. Der Mann schrieb für Tageszeitungen. Auch Journalisten sei der Band empfohlen.

Joseph Roth: „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“. Essays – Reportagen – Feuilletons, Wallstein Verlag, Göttingen 2010, 544 S., 39,90 Euro