von Wolfgang Brauer
Das Stück ist jetzt 110 Jahre alt und wird von vielen allenfalls noch als kulturhistorisches Lehrmaterial gesehen. Am Anfang stand das Verbot. 1894 durfte es nach langem juristischen Streit und einer nichtöffentlichen Uraufführung an der Freien Bühne Berlin endlich öffentlich aufgeführt werden, aber nur am Deutschen Theater. Cord Hachmann führte Regie und der Kaiser kündigte empört seine Loge. Für das Haus war das Stück ein Glücksfall, es wuchtete das DT in die Königsliga der deutschsprachigen Bühnen, aus der es seitdem nicht mehr wegzudenken ist. Die Rede ist von Gerhart Hauptmanns Schauspiel „Die Weber“ (1891 noch „De Waber“). Michael Thalheimer hat es dieser Tage am Deutschen Theater inszeniert – und bei vielen Kritikern sofort den Vergleich mit seiner Berliner Theatergeschichte gemacht habenden „Ratten“-Inszenierung aus dem Jahre 2007 provoziert. Es ist seine zweite Hauptmann-Arbeit am DT, und um es gleich vorweg zu sagen: Ich meine, die „Weber“ stehen den „Ratten“ in nichts nach, aber sie sind anders, ganz anders.
Die Bühne (Olaf Altmann) ist schwarz. Ein verengter Raum mit einer steilen Treppe. Der Weg in den Abgrund? Die Himmelsleiter? Auf jeden Fall das Unten und das Oben. Ganz logisch erscheint dann auch der Herr Dreißiger (Ingo Hülsmann) ganz oben und gelegentlich steigt er ganz nach unten – so wenn im ersten Akt das Kind eines Webers im Kontor zusammenbricht und er sich scheinbar um dieses sorgt. Nein, nicht aus Mitleid, Aufstehen soll es („Kognak, Pfeifer, Kognak ist besser“), die Furcht vor einer schlechten Presse ist es, die Angst vor den „Preßhunden“, den „hergelaufenen Skribenten“, die ihn die Treppe nach unten treibt – wenige Augenblicke nur, dann ist wieder Pfeifer dran, der Expedient, der Emporkömmling: „Pfeifers Sache … macht das mit Pfeifer aus.“ Und Dreißiger ist wieder oben, oben auf. Moritz Grove ist ganz groß in der Rolle dieses Wurms Pfeifer, der glaubt ein Herr geworden zu sein. Das Stück ist in niederschlesischer Mundart geschrieben worden. Für heutige Schauspieler – und Zuschauer! – eine Herausforderung. Pfeifer, der ehemalige Weber, bemüht sich um ein gesetztes Hochdeutsch. Seine Wurzeln holen ihn aber immer wieder ein. Und Grove nimmt man Hauptmanns Spiel mit der Sprache auch ab. Nicht allen in dieser hochkarätig besetzten Inszenierung gelingt dieser sprachliche Parforceritt. Michael Thalheimer setzt auf die Wirkungsmacht der Hauptmannschen Sätze. Er hat ein Gespür für die holzschnittartige Kraft des Schlesischen. Manchmal kommt es ein wenig zu dick daher, so wenn beim alten Baumert gar zu sehr die starke Stimme Sven Lehmanns die physische Elendsgestalt der Figur verändert. Dem wirkungsmächtigen Ensemblespiel tut dies aber keinen Abbruch. In dessen Konstruktion besteht der eigentliche Eingriff Thalheimers in die Hauptmannsche Dramaturgie. Gerhart Hauptmann zeichnete mit großer Einfühlsamkeit viele Einzelporträts von Individuen, die am Ende – von wegen Naturalismus, das ist eine sehr impressionistische Technik! – vor dem inneren Auge des Zuschauers zu einem beeindruckenden Bilde schlesischen Elends und des kollektiven Aufbegehrens zusammenfinden. Thalheimer interessiert das Handeln respektive das Nicht-Handeln der Kollektive. Wie verhält sich die „Masse Mensch“ in Erwartung der Futter- sprich Geldausgabe? Wie funktionieren die „Binnenkollektive“ der Weberfamilien? Wie entsteht eigentlich aus der stumpfen Lethargie, in die Hunger, körperlicher Verschleiß, der Schnaps und die Ohnmacht den Fabrikanten gegenüber die Weber versetzt haben, dieser Aufstand, der ganz plötzlich da ist, von niemandem erwartet?
Nein, das ist kein Einfühlungstheater. Da gibt es starke Momente der Empathie, das Klagelied der Mutter Baumert (Katrin Wichmann) im zweiten Akt und wieder die Wichmann als Luise Hilse im fünften: „Mit Euren bigotten Räden, dad’rvon da is mir o noch nich amal a Kind satt gewor’n. … Ich will ’ne Mutter sein, dass d’s weeßt!“ Dieser Ausbruch, weniger an die Adresse ihres Mannes als ins Publikum geschrieen, der lässt das Blut stocken, der lässt ahnen, dass da kein anderer Weg war, als sich mit den bloßen Fäusten gegen die Bajonette zu stellen. Hauptmanns Regieanweisung lautet „maßlos“. Nicht immer versteht ein Autor die eigenen Figuren. Katrin Wichmann nicht nachstehend Claudia Eisinger als Mielchen, Hilsens Tochter. Ihr Bericht ist es, der letztlich Gottlieb Hilse (Christoph Franken) aus den Fesseln des frommen Vaters (großartig Jürgen Huth) die Treppe ganz nach oben in den Aufstand treibt: „Soll mir mei Weib derschossen werd’n? Das soll nich geschehen!“
Übrigens geht es auf der Bühnentreppe von ganz oben nach hinten weg. Nach unten, genauer gesagt; wir wissen, dass der Aufstand scheiterte. Hauptmann schrieb kein Revolutionsstück, das hatte 1894 schon Wilhelm II. missverstanden. Michael Thalheimer inszeniert kein Lehrstück über Wege zur Empörung. Thalheimer führt vor, wie so etwas entstehen kann. Seine Dramaturgin Sonja Anders schreibt, dass sich die Brisanz des Stückes besonders in den so genannten Billiglohnländern zeige, „wenn in Bangladesh die dortigen ‚Weber’ für den Mindestlohn streiken“. Das ist oberflächlicher Exotismus. Bangladesh fängt fast vor der Haustür des Deutschen Theaters an. Im Wedding und in Nord-Neukölln, im Märkischen Viertel und in Marzahn-Nord. Da tickt etwas, ganz leise noch, und Thalheimers „Weber“ machen es hören. Beim Publikum zumindest der B-Premiere kam das offenbar an.
Schlagwörter: Deutsches Theater, Die Weber, Gerhart Hauptmann, Michael Thalheimer, Wolfgang Brauer