von Ove Lieh
„Ach die ganze Geschicht’, die lohnt sich nicht“, klagte einst Otto Reutter in einem seiner Couplets bezogen auf Töchteraufzucht, Essenszubereitung und Zeitungsherstellung. Er hätte auch über Geschichtsaufarbeitung singen können, wäre sie ihm so wichtig gewesen, wie die drei anderen Themen.
Nun mahnt aber eine Inschrift auf dem Denkmal für die friedliche Revolution von 1989 vor der evangelischen Jakobus-Kirche meiner Heimatstadt Ilmenau: „Wer sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“ (George Santayana). Wie haben also die Pflicht, uns zu erinnern. Womit machen wir das? Klar, mit dem Gehirn. Wer aber ist unser Gehirn eigentlich und was denkt es über uns und unsere Vergangenheit? Philosophisch ist es ein differenziertes Ganzes, biologisch ein Eiweißklumpen mit Steuerungsfunktion und Tendenz zu altersbedingter Degeneration. Politisch spielt es keine herausragende Rolle. Da ist der Bauch wichtiger. Es hat nicht zufällig in der Geschichte mehr Hungerrevolten gegeben als solche wegen geistiger Unterversorgung. Selbst für die Ereignisse von 1989 sollen gewisse Lebensmittel eine zentrale Rolle gespielt haben. Mit der Banane in der Hand liegt die Freiheit in der Luft, sozusagen. Leider gibt es gerade in Bezug auf dieses Ereignis zu viel Nostalgie, welche die Vergangenheit schöner erscheinen lässt, als sie in Wirklichkeit war. Infolgedessen behaupten einige Leute hartnäckig, es sei in der 89er Revolution um Freiheit und Demokratie gegangen und nicht um Zähl- bzw. Essbares. Können sie etwas dafür? Nur bedingt, muss man sagen, denn Schuld daran ist vor allem ihr Gehirn. Und das übrigens bei allen, unabhängig davon, zu welchem Schluss sie letztendlich bei der Beurteilung des Vergangenen kommen. Denn: „Dank der Maskerade ihres unzuverlässigen und eigensinnigen Gehirns ist vieles, was sie zu wissen glauben, in Wirklichkeit ganz anders“. Schreibt Cordelia Fine in ihrem Buch „Wissen Sie, was ihr Gehirn denkt? Wie in unserem Oberstübchen die Wirklichkeit verzerrt wird … und warum“. Alle nachfolgenden Ausführungen über das Treiben des Gehirns beruhen auf diesem Buch und alle im weiteren Text vorkommenden Zitate stammen daraus.
Es ist – wegen der erwähnten „Maskerade“ – daher völlig unzureichend, immer wieder an ein vorgebliches gemeinsames Erleben und damit Erinnern zu appellieren, wie es Ralf Schuler in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung machte, als er vor einiger Zeit den „Mythos Ostschule“ zu entzaubern suchte, seine Argumente und Behauptungen aber nicht stärker zu belegen wußte als mit: „ Wer die DDR-Schule durchlaufen hat und mit nüchternem Blick zurücksieht … Wer die Ostschule durchlaufen hat, wird in aller Regel … bestätigen …,“ dann aber die Erinnerung anderer DDR-Bürger als unzutreffend einstufte. Dabei waren seine Erinnerungen quasi hinüber, als er sich vornahm, den Mythos zu überwinden. Warum, da er doch ganz nüchtern zurückschauen wollte? Es liegt am Gehirn, nicht speziell an seinem, das wird schon ganz okay sein, wenn er – aus der DDR-Schule kommend – heute Politikchef der „Märkischen Allgemeinen“ sein kann.
Das Gehirn ist eitel. Es bedient sich des Gedächtnisses und holt aus dem Fundus umfassender und vielschichtiger Erlebnisse jene hervor, die am besten mit dem gewünschten (Selbst-)Bild harmonieren. Sogar das logische Denken wird manipuliert, indem unerwünschte Informationen ausgesondert, Beweise, die den eigenen Standpunkt stützen, schnell akzeptiert und solche, die unsere Auffassung in Gefahr bringen, strengsten Prüfungen unterzogen werden.
Das Gehirn ist emotional. Mithilfe der Strategie des fading affect bias (Verzerrung durch nachlassenden Affekt) pfuscht es an unserer Erinnerung an Erlebtes herum. Kein Wunder also, dass es einfach nicht gelingen will, vielen Ossis die Schrecken ihres Lebens in der DDR klar zu machen, obwohl man sich dabei jede erdenkliche Mühe gibt.
Das Gehirn ist unmoralisch. „Wir greifen beispielsweise auf die Persönlichkeit von Menschen zurück, um deren Verhalten zu erklären, obwohl unser Verhalten weniger davon bestimmt wird, was für ein Mensch wir sind, als von den Zwängen der Situationen, in denen wir uns gerade befinden. Dabei läuft man Gefahr, die Charakterstärke jener wenigen Personen zu übersehen, die sich tatsächlich von den Zwängen der Situationen und der Umstände frei machen konnten. Wenn jeder vernünftige Mensch so gehandelt hätte, also auch man selbst, übersieht man das moralische Rückgrat der Wenigen. Nachlässig greift das Gehirn nur auf die oberflächlichste und negativste Auslegung des Fehlverhaltens anderer zurück, gleichzeitig richtet es sich hoch auf, um zu versichern, dass Ihnen kein Fehler unterlaufen kann.“ Schlagworte: IM, Funktionäre, Staatsnähe.
Das Gehirn wird getäuscht. Das schlaue Gehirn neigt dazu, Zusammenhänge zu sehen, die es zu sehen erwartet, die es aber gar nicht gibt. Hat man eine verlockend überzeugend klingende Hypothese im Kopf, ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis unser Gehirn Beweise dafür zu sehen beginnt. Fast lupenreines Beispiel dafür ist eine Studie, die jüngst in der „Thüringer Allgemeinen“ für Diskussionen sorgte, weil sie einen Zusammenhang zwischen IM-Dichte und geringerer Wirtschaftskraft im Osten nachzuweisen vorgab – vermittelt durch die Zerstörung des sogenannten „Sozialkapitals“ (damit kann das Vertrauen in der Gesellschaft quantifiziert werden), das auf der Strecke geblieben sei, weil die Stasi Misstrauen säte. Es mag ja sein, dass die Wirtschaftsleistung in Gebieten, in denen es besonders viele IM gab, heute niedriger ist als anderswo. Kann das aber nicht auch daran liegen, dass man IM nicht im gut bezahlten öffentlichen Dienst beschäftigt, sie auch anderswo schwerlich Führungspositionen in der alten Heimat innehaben und/oder weggegangen sind? Oder, dass die hohe IM-Dichte verursacht war durch eine hohe Dichte an kritischen, mutigen, selbstbewussten Menschen, die sich von den alten aber eben auch von den neuen Herren nichts vormachen ließen, was zwar vielleicht auf die Wirtschaftskraft weniger Einfluss hat, außer, sie machten auch in der Firma den Mund auf, wohl aber die geringere Wahlbeteiligung in den betreffenden Gebieten zusammen mit einer Verweigerungshaltung der ausgegrenzten Ex-IM bedingen könnte? Von der Treuhand und ihrem Einfluss auf die Wirtschaftskraft wollen wir mal nicht reden.
Das Gehirn ist stur. „Das Gehirn weicht aus, windet sich, übersieht Dinge, interpretiert falsch, erfindet sogar Beweise, nur damit wir das befriedigende Gefühl bewahren, Recht zu haben“. Das wird natürlich um so ausgeprägter stattfinden, wenn wir nicht nur in unserem eigenen Auftrag handeln, sondern einer politischen Mission und/oder Gruppierung dienen. Es reicht aber auch schon, einfach nur dazugehören zu wollen oder eben gerade nicht.
„Forschung halten wir dann für überzeugend und fundiert, wenn ihre Resultate mit unseren eigenen Ansichten übereinstimmen, dieselbe Methode finden wir fehlerhaft und schludrig, wenn ihre Ergebnisse nicht unserer Meinung entsprechen“, also zum Beispiel, wenn man Herrn Schuler die eigenen Erfahrungen und Erinnerungen entgegenhalten würde.
Erstes Fazit im Sinne Otto Reutters: „Es ist hoffnungslos, Menschen von ihren abwegigen Ansichten abzubringen“.
Das Gehirn ist eigenwillig. Scheinbar triviale Dinge in unserer Umgebung können unser Verhalten beeinflussen. Überspitzt gesagt, könnte die Beurteilung der DDR auch vom aktuellen Wetter oder unserer Verdauung abhängen. Über die wahren Gründe für unsere Verhalten stellen wir ohnehin nur Vermutungen an. – Das Gehirn ist willensschwach. Wir können kaum die Kontrolle über unsere eigenen Gedanken und Handlungen erlangen. – Das Gehirn ist voreingenommen. Stereotype verändern unser Verhalten. Man äußert sich dann in einer Debatte unterschiedlich, je nachdem, mit wem und wo man debattiert. – Und das Gehirn ist verwundbar. Schädliche, auch unbewusste, Einflüsse können unser Verhalten verändern, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Etwas positiveres Zwischenfazit: „Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, mit dem Finger auf eine einzelne Person zu zeigen und sie mit einer gewissen Sicherheit der Verzerrung zu beschuldigen“.
Cordelia Fines Fazit: „Vor allem aber sollten wir versuchen, gegenüber den Verzerrungen und Täuschungen unseres eigensinnigen Gehirns stets wachsam zu sein. Denn sie sind unser ständiger Begleiter“.
Mein Fazit: Ehe nun alle übereinander herfallen, weil sie sich nicht einigen können über das, was war, was wahr ist und schon gar nicht, wie das zu bewerten sei, sollten sie das Buch von Cordelia Fine lesen und bedenken, und dann erst anfangen, zu diskutieren. Das könnte dann vielleicht sogar was bringen.
Schlagwörter: 1989, Cordelia Fine, DDR, Gehirn, George Santayana, IM, Ove Lieh