13. Jahrgang | Nummer 19 | 27. September 2010

Fair Bildung

von Uwe Steimle

Sagt ein Mann aus der Bundesrepublik zu einem Dresdner Taxifahrer beim Überfahren der Dimitroffbrücke: „Sagen Sie, guter Mann, was ist das für ein Fluss hier?“ „Das ist die Elbe“, antwortet der Mann am Steuer. „Nein, nein, das kann nicht sein“, ruft der Wessi – „die Elbe fließt in Hamburg.“ Was soll man dazu sagen? Nichts. „Lerne schweigen, ohne zu platzen“, stand bei mir zu Hause über dem Küchentisch. In Zeiten virtuellen Geldes fließt die Elbe eben zweimal.

Ja, liebe Frau Merkel, wir waren mal ein gebildetes Volk. WIR. Auch das Elbsandsteingebirge wurde nach der Kehre von der BRD aufgebaut, für uns – damit wir nicht mehr so weit in den Urlaub fahren müssen. Danke auch dafür.

Was das alles mit der Bildung zu tun hat? Eine ganze Menge. Erstens ist das Weglassen einer Nachricht auch eine Nachricht und zweitens ist diese ganze Bildung gegenwärtig wirklich der Gipfel. Es gab da mal ein Land, in dem auch Sie aufgewachsen sind, da wurde allen Kindern ein warmes Mittagessen gereicht; auch daran ging die DDR zugrunde. Sie hat sich um ihr Kapital gekümmert – ihre Kinder. Manche Kommune im Raum Bielefeld, nicht zu verwechseln mit Bitterfeld, geht heute pleite, weil sie das Geld nicht aufbringen kann für eine warme Mahlzeit am Tag. Da reden wir noch nicht über den Unterrichtstag in der Produktion, den Krippenplatz, den Kindergartenplatz, das Ferienlager. Und ganz aktuell Berufsausbildung mit Abitur – wird gerade getestet in Thüringen.

Bitte, Frau Merkelbundeskanzlerin, sagen Sie es allen. Alles, was jetzt mit großem Tam Tam neu erfunden werden soll, hat es schon einmal gegeben. In der DDR. Ich war dabei und leide nicht an geschichtlichem Alzheimer. Was lernen die jungen Menschen heute auf ihrem Weg zur allseits gebildeten kapitalistischen Persönlichkeit? Sagen Sie im Fach Geschichte, dass die „Ostzone“ 95 Prozent der Reparationskosten bezahlt hat für einen Krieg, der vom gesamten Deutschen Volk verloren wurde, nicht von der DDR. (Übrigens auch nachzulesen im Pionierkalender von 1974. Den gab es bei Ebay für 95 Cent nicht virtuellen Geldes.)

Und, Frau Bundeskanzlerin, wie halten wir es in Zukunft mit dem 8. Mai 1945? Tag der Niederlage, der Kapitulation oder doch Tag der Befreiung? Oder doch eher nicht, also nicht wirklich oder nur ein Stück weit? Deutsch ist die Sprache des Volkes. Und auf so eine wichtige Frage kann es nur eine Antwort geben. Und die darf in Bayern nicht anders interpretiert werden als in Bremen oder Berlin. Bildung ist Staatsaufgabe und geschichtliche allemal. Der Zweite Weltkrieg wurde in Stalingrad entschieden, nicht durch die 2. Front, die Landung in der Normandie. Oder haben wir alles falsch gelernt? Die DDR ging auch deshalb zugrunde, weil das Volk gebildet war. Diese geistige Waffe ließ Menschen 1989 vor dem Dresdner Hauptbahnhof rufen: „Wir bleiben hier.“ So subversiv, so feinfühlig hinterlistig denkend waren die Dresdner. Auch deshalb – stimmt’s? – hatten Sie den Bildungsgipfel im Jahre 2008 nach Dresden gelegt. Leider haben Sie dann doch die Chance verstreichen lassen, dort zu verkünden, dass das viel gelobte, viel gepriesene finnische, ja skandinavische Schulsystem, nach dem die BRD so gerne schielt, in Wahrheit unser Schulsystem war, das Schulsystem der DDR. In dem man schon nach zwölf Jahren zum Abitur geführt wurde, ohne noch ein Jahr Schauspielunterricht dranhängen zu müssen wie in der BRD. Warum darf das Geld arbeiten, der Mensch aber nicht? Was ist die Gründung eines Staates gegen die Plünderung eines Staates? In den Medien verkünden Sie, dass nicht der Kapitalismus schuld sei am Fastzusammenbruch des Systems, sondern dass einzelne Stellschrauben falsch justiert waren. Das ist ungefähr so, als würde ich feststellen, der Pflaumenmus ist nicht schlecht, er ist nur vergoren. Wir hier in den besetzten Gebieten in Deutschland Nah-Ost, sind erzogen worden unter dem Motto: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Heute heißt es offiziell: Der Schein! Und zwar wörtlich und im übertragenen Sinne. Wofür sonst steht virtuelles Geld?

Alle Kinder in unserem Land sollen in den Genuss der Bildung kommen – ohne Ansehen der Person oder ihrer Herkunft. Der Zugang zu einem einheitlichen Schulsystem als Staatsziel und Aufgabe. Grundtugenden wie Disziplin, Pünktlichkeit und Ordnung gilt es neu zu vermitteln. Und zwar von Lehrern, die Zeit haben und ausreichend bezahlt werden. Der Lehrer hat zu bilden, das Elternhaus zu erziehen. Deutsch gesprochen heißt das: Nur erzogene Kinder kann ich bilden. Damit die Eltern Vorbild sein können, müssen sie arbeiten können – und nicht das Geld. Liebe, Güte und Solidarität mit den Menschen sind zu vermitteln – und nicht Solidarität mit den Banken.

Wenn das alles, liebe Fau Merkel, von der Bundesregierung auch nur mal erwähnt würde, dann könnte ich sagen: Meine Heimat BRD. Wenn der real existierende Kapitalismus Herzensbildung vermitteln kann, dann will ich angekommen sein – im Hier, im Jetzt. Ansonsten bleibt mir als Dresdner immer noch die Romantik.

„Zum Abschluss noch ein schöner Satz meines Bäckermeisters. Der sagte neulich: „In der DDR hatten wir immer die Hoffnung, dass es besser wird. Hier habe ich manchmal den Verdacht, dass es ganz schnell zu Ende gehen kann.“

Übrigens geht dieser Bäcker seit einiger Zeit auf Stelzen zur Arbeit. Ich fragte ihn, warum er das tut. „Na, ich hab’ gehört, den Großen wird geholfen.“