von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N. Y.
Wenn man sich ausschließlich auf die corporate media, also auf die Konzernmedien verläßt, so scheint es links von den Demokraten Obamas nur noch die linksliberal-postmodernistische Akademikerwelt zu geben, die in elitärer Selbstisolation vom angeblich „wirklichen Amerika“ abgeschnitten ist. Doch selbst dieses Intellektuellenmilieu stellt das herrschende Selbstbild Amerikas als alternativlose kapitalistische Demokratie nicht ernsthaft in Frage. Jeder Gedanke an Sozialismus führt dort nur zu Horrorvisionen eines totalitären Staatssozialismus sowjetischer Bauart. So jedenfalls ist das gängige Bild, propagiert von einer informellen Allianz, die vom Primitivo-Journalismus á la Privatfernsehen und Bildzeitung bis hin zur ZEIT und F.A.Z. reicht. In den USA ist die Informationslage ähnlich einseitig, und es macht leider wenig Unterschied, ob man nun den offen und radikal rechtskonservativen TV-Sender FOX oder aber die sich seriös gebende New York Times zu Rate zieht.
Die amerikanische Wirklichkeit ist glücklicherweise wesentlich komplexer und vielfältiger. Die öffentliche Meinung unterscheidet sich von der durch die Konzernmedien veröffentlichten Meinung beträchtlich. Dies ist empirisch belegt. Im Februar diesen Jahres überraschte GALLUP mit dem unerwarteten Umfrageergebnis, daß 36 Prozent der US-Amerikaner sich eine sozialistische Gesellschaftsordnung wünschen. Nur 52 Prozent sehen den Kapitalismus in einem positiven Licht. Im angeblich erzkapitalistischen US-Amerika gibt es also nicht wenige Menschen, die sich (wie es der Slogan des diesjährigen US Social Forum in Detroit war) eine sozial gerechte und umweltverträgliche Welt erhoffen: „Another World Is Possible, Another US Is Necessary.“
Die USA hatten und haben eine lebendige und vielfältige linke Landschaft mit multiplen Traditionen, Institutionen und Persönlichkeiten. Einige dieser Persönlichkeiten sind von Zeit zu Zeit sogar in den sich bildungsbürgerlich gebenden Medien des Mainstreams vertreten. Ein gutes Beispiel ist Noam Chomsky, der international hoch anerkannter Linguist und Philosoph. Chomsky ist seit 1955 am renommierten Massachusetts Institute of Technology tätig und Autor von über einhundert Büchern, wobei die Hälfte aus wissenschaftlichen Fachbüchern besteht. Er wird gemeinhin als einer der einflußreichsten Intellektuellen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts angesehen. Sehr rational und systematisch zeigt er in seinen Büchern und Aufsätzen auf, wie die herrschenden Klassen und Schichten dieser Welt die riesige Mehrheit schamlos ausbeuten und zugleich unsere Umwelt zerstören. Eine ganze Reihe von Chomskys Arbeiten sind ins Deutsche übersetzt. So beispielsweise sein „Der gescheiterte Staat“, wo Chomsky detailliert belegt, wie sich republikanische wie demokratische US-Regierungen permanent über internationale Verträge und Normen hinwegsetzen und damit eine große Gefahr für die Stabilität und die Sicherheit unseres Planeten darstellen. Er beschreibt, wie eine kleine Minderheit von Reichen und Superreichen seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre einen offensiven Klassenkrieg gegen die lohnabhängige Mehrheit führt. Die Konsequenzen sind fallende Reallöhne und ein Zusammenbrechen der sozialen Sicherungssysteme. All diese und weitere zutiefst beunruhigenden Entwicklungen sind natürlich, wie auch der Historiker und Aktivist Howard Zinn immer wieder betonte, keine zwangsläufige Konsequenz der über uns quasi als Naturgewalt hereinbrechenden Globalisierung, sondern das Resultat eines kapitalistischen Systems, welches jeden Sinn für Maß und Moral verloren hat. Doch selbst der US-Kapitalismus war nicht immer nur Raubtier-Kapitalismus gewesen. So stiegen beispielsweise zwischen 1947 und 1973 die Realeinkommen der Durchschnittsamerikaner um bis zu siebzig Prozent. Doch dies ist weder kapitalistischer Freigiebigkeit noch der oft beschworenen Selbstheilungskräfte des Marktes zuzuschreiben, sondern das Resultat starker und entschlossener Gewerkschaften, die für diese Errungenschaften hart kämpfen mußten.
Howard Zinn, über viele Jahrzehnte hinweg Professor für Geschichtswissenschaft an der angesehenen Boston University, belegt in seinem in den USA weitverbreiteten und auch in Deutschland erhältlichen Buch „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“, wie durch Selbstorganisation von Unten sowie auch durch den Druck von anarchistischen, sozialistischen und kommunistischen Strömungen, Gruppierungen und Parteien eine breite linke Protestbewegung entstand, die dann den New Deal des Präsidenten Franklin D. Roosevelt in eine sozial ausgewogenere Richtung, den sogenannten „Second New Deal“ schob. Roosevelts Regierung bewegte sich gerade durch diesen Druck von unten viel weiter nach Links als von den Demokraten ursprünglich geplant. Ein wichtiger Meilenstein war der Wagner Act, welcher es 1935 einer breiten Schicht von Lohnabhängigen möglich machte, sich gewerkschaftlich zu organisieren. New Yorks kämpferischer Senator Robert Wagner, nach dem dieses Gesetz benannt ist, stellte darin ausdrücklich fest, daß die Weltwirtschaftskrise durch die Niedriglöhne der 1920er Jahre sowie die vorherige Zerschlagung der Gewerkschaften mitverursacht worden war.
Die Parallelen zwischen den 1920er Jahren und den realkapitalistischen Verhältnissen heute sind höchst bedenkenswert. Zinn, Chomsky und auch Richard Wolff betonen daher, daß ein nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung ohne ein beträchtliches Anheben der Durchschnittslöhne und damit der Kaufkraft der übergroßen Bevölkerungsmehrheit nicht zu haben ist. Wolff, ein an der Harvard University studierter und dann an der Yale University promovierter marxistischer Wirtschaftswissenschaftler, ist zwar außerhalb des Wissenschaftsbetriebes noch nicht ganz so bekannt wie Chomsky und Zinn, aber ebenso wie diese ein begnadeter Intellektueller, der fachwissenschaftliche Analyse mit Witz und Charisma einem breiteren Publikum effektiv vermitteln kann. Als Ökonomie-Professor an der University of Massachusetts und der City University of New York vertritt Wolff einen undogmatischen Marxismus – gewürzt mit rhetorischer Schärfe gegenüber dem herrschenden Neoliberalismus nicht nur des verflossenen Bush, sondern auch Obamas. Wer sich von Wolffs hohem Sachverstand, reichen Humor und zugleich gerechtfertigter Wut über die Dreistigkeit und Inkompetenz der uns ausbeutenden herrschenden Klasse überzeugen möchte, dem seien neben seinen zahlreichen Büchern und Aufsätzen auch sein als DVD erhältlicher und im Internet abrufbarer Vortrag „Capitalism Hits The Fan: The Global Economic Meltdown and What to Do About It“ empfohlen.
Neben Chomsky, Zinn und Wolff gibt es noch zahlreiche andere „echte“ amerikanische Linke, die über ein kosmetisches Herumbasteln am gegenwärtigen Kapitalismus hinaus gehen wollen. Gemeinsam mit der Kanadierin Naomi Klein, dem slowenischen Slavoj Žižek und der Inderin Arundhati Roy sowie Tariq Ali aus Pakistan gehören sie zu einem international bekannten und aktiven Kreis von sozialistischen Intellektuellen. Doch, wie der Anfang diesen Jahres verstorbene Howard Zinn nie müde wurde zu betonen (einschließlich in seinen in Deutsch erhältlichen Memoiren), nachhaltige Transformationen müssen von einer breiten Graswurzelbewegung getragen werden und können daher nicht nur das Werk einzelner, wenn auch noch so brillanter Aktivisten und Intellektueller sein. Und auch da tut sich nicht wenig in den USA.
Als sich direkt an das World Social Forum anlehnende mehrtätige Großveranstaltung ist das seit zwei Jahren stattfindende US Social Forum eine Antwort von unten auf das alljährlich im schweizerischen Davos abgehaltene World Economic Forum der Wirtschafts- und Politikeliten dieser Welt. Ungefähr dreißigtausend Linke verschiedenster Couleur demonstrierten, analysierten, debattierten und vernetzten sich im Juni in Detroit. Friedens-, Umwelt- und soziale Themen wurden von unterschiedlichen Standpunkten aus untersucht und miteinander verbunden. Und selbst an der mit 4.500 Studenten relativ kleinen State University of New York im amerikanischen Potsdam ist für nächstes Jahr ein Social Forum geplant, welches aus linker Sicht lokale und regionale Entwicklungen und Probleme mit den großen Themen unserer Zeit verbinden soll, unter dem Motto: „Wer, wenn nicht WIR. Wann, wenn nicht JETZT!“
Diese interessante und wichtige Dynamik unter Amerikas Linken wird jedoch weder in den konservativen noch in den liberalen Mainstream-Medien zur Kenntnis genommen. Vor diesem Hintergrund erinnerte Noam Chomsky in seinem Buch „What We Say Goes“ daran, daß dies zu Beginn des 20 Jahrhunderts und dann wieder in den 1930er Jahren anders war. Damals gab es hunderte sozialistische Tageszeitungen und Magazine in den USA, welche von Millionen Amerikanern gelesen wurden. Dadurch war man nicht auf die von den Konzernen kontrollierten „bürgerlichen“ Publikationen angewiesen.
Heute sollten Linke von den mageren Veröffentlichungsmöglichkeiten in der Konzernpresse und deren elektronischen Medien Gebrauch machen. Zugleich aber müssen eigene Strukturen aufgebaut werden. In den USA gibt es inzwischen wieder eine zunehmend breitere Palette sozialistischer Zeitungen. Genannt seien hier nur Socialist Worker, CounterPunch und Zmagazine, die auch kostenlos im Internet abrufbar sind und den Verzerrungen und Verschleierungen wichtiger Zusammenhänge in den Konzern-Medien entgegenwirken. Nicht unerwähnt bleiben soll nicht zuletzt das tägliche, einstündige Fernseh- und Radioprogramm von Democracy Now, das ebenfalls kostenlos via Internet gesehen und gehört werden kann. Wearemany.org ist eine weitere Anlaufstelle, wo Reden und Analysen linker Denker heruntergeladen werden können.
Amerika hatte vor Jahrzehnten eine breitere, vielfältigere linke Öffentlichkeit. Es gibt eine ungemein reiche linke Tradition, auf der man aufbauen kann und muß. Amerika ist einfach zu wichtig, um es den Machteliten widerspruchslos zu überlassen!
Der Autor ist Professor für Geschichtswissenschaft an der State University of Potsdam, New York.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, Gewerkschaften, Howard Zinn, Linke, Noam Chomsky, Richard Wolff, US Social Forum, USA, Wagner Act, World Social Forum