von Kai Agthe
Der Name „Wismut“ für die Deutsch-Sowjetische Aktiengesellschaft diente allein der Tarnung. Denn nicht das schwachradioaktive, für Legierungen und in der Pharmazie benötigte Metall wurde hier, im Grenzraum von Thüringen und Sachsen, abgebaut, sondern Pechblende, aus dem hochradioaktives Uran für sowjetische Atomwaffen und -kraftwerke gewonnen wurde. Die Wismut war, wie dem penibel recherchierten Buch von Annerose Kirchner zu entnehmen ist, der weltweit drittgrößte Lieferant von Uran. Bis 1990 produzierte man etwa 231.000 Tonnen. Die Folgen für die Umwelt waren verheerend. Nach 1990 investierte die Bundesrepublik gut sechs Milliarden Euro in die Sanierung der einstigen Uran-Abbaugebiete.
Das sind die historischen Fakten. Der Geraer Journalistin Annerose Kirchner geht es aber auch und vor allem um die menschliche Dimension dieses ebenso rücksichtslosen wie zerstörerischen Eingriffs in die Landschaft im Namen eines blindgläubigen technischen Fortschritts, der ein sinnloser Rüstungswettlauf war. Mit der Autorin fragt sich der Leser, wie viele russische Atomsprengköpfe heute noch mit Wismut-Uran bestückt sein mögen. Die Antwort darauf kennt vermutlich noch nicht einmal der russische Verteidigungsminister.
Die große Stärke Annerose Kirchners ist, thüringische Kulturgeschichte mit Hilfe der „oral history“ zu schreiben. Im Buch „Der Rausspeller“ (1999) etwa hat sie Menschen befragt, die seltene, vom Aussterben bedrohte Handwerksberufe ausüben. Auch in „Traumzeit an der Geba“ (2005) hat sie sich Lebensgeschichten erzählen lassen. Viele ihrer Gesprächspartner mußten erst überzeugt werden, daß das, was sie erlebt (und erlitten) haben, mitteilenswert ist. So ist auch, was in diesem Buch vorliegt, das Ergebnis von mühsamer Recherche und zahllosen Gesprächen mit Menschen, in deren Leben der Moloch Wismut eingegriffen hat. Wie sehr dieses Thema den Betroffenen auf der Seele lastet, machen nicht nur die Porträts von Annerose Kirchner deutlich, sondern auch der Umstand, daß ihr Buch für ein unerwartet großes Medienecho sorgte und bald auch ihr Telefon heiß laufen ließ: Denn immer mehr vom Wismut-Raubbau betroffene Zeitgenossen melden sich und wollen ihre Geschichte erzählen.
Annerose Kirchner geht, sofern das angesichts der vielen Schicksale möglich ist, repräsentativ vor: Einwohner von sechs Orten, die auf keiner Karte mehr zu finden sind, weil sie im nimmersatten Einzugsbereich der Wismut lagen, hat sie befragt. Die nicht mehr existierenden Flecken, die keine Weltgeschichte schrieben, aber bewegte Zeiten erlebten, hießen Gessen, Schmirchau, Lichtenberg, Culmitzsch, Katzendorf und – nomen est omen – Sorge. In letztgenanntem Dorf, von dessen einstigem Standort allein noch die Kirche kündet, wurde 1933 Johannes Weiser geboren. Er berichtet über das Leben vor und nach der Vertreibung. Während heute die Gerichte angerufen werden können, wenn ein Dorf einem Tagebau zum Opfer fallen soll, hatten die Menschen in der DDR so gut wie keine Einspruchsmöglichkeit, um sich gegen die am grünen Tisch beschlossene Abbaggerung ihrer Heimatorte zu wehren. Die Abfindung, die Johannes Weisers Familie für ihr Grundstück erhielt, war im Grunde ein Hohn. Und im Gegensatz zu heutigen Gepflogenheiten wurde für die Menschen aus Sorge auch kein neues Dorf gebaut: Sie mußten sich auf eigene Faust eine neue Bleibe suchen…
Das fatale Wismut-Erbe wurde größtenteils getilgt, die damit verbundenen Traumata aber nicht. Annerose Kirchners Buch führt uns einmal mehr und einfühlsam vor Augen, daß große Geschichte vor allem von den kleinen Leute geschrieben und durch Erzählen bewahrt wird.
Annerose Kirchner: Spurlos verschwunden. Dörfer in Thüringen – Opfer des Uranabbaus. Ch. Links Verlag, Berlin 2010. 203 Seiten, 14,90 Euro
Schlagwörter: Annerose Kirchner, Kai Agthe, Pechblende, Uran, Wismut