13. Jahrgang | Nummer 14 | 19. Juli 2010

Gesellschaftliche Ordnung

von Erhard Crome

Woran sieht man, daß der Staat schwächer wird? In der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen entstanden mittlerweile ganze Bibliotheken voller Bücher über gescheiterte oder scheiternde Staaten (im Fachjargon: Failing States oder Failed States). Dort gibt es dann keine Sozialsysteme mehr, keine öffentliche Daseinsvorsorge. Der Staat kümmert sich nicht mehr um Schule oder Universität und auch nicht mehr um das Gesundheitswesen. Schließlich gibt es auch keine Sicherheit des täglichen Lebens mehr, also keine korruptionsfreie Polizei, niemanden, bei dem man Anzeige erstatten könnte, wenn man von Mord und Totschlag, Raub oder Vergewaltigung betroffen ist. Der Westen benutzt dieses Phänomen, das in vielen Ländern der Welt erst durch die wirtschaftspolitischen Zwangsbedingungen enstand, die die Staaten des Westens nebst Weltbank und Internationalem Währungsfonds oktroyiert haben, um sich zur militärischen Intervention zu ermächtigen.
Aber vollziehen sich solche Entwicklungen nur fernab, weit weg von hier? Und sind sie erst feststellbar, wenn ihre Wirkungen bereits jenseits jeden Zweifels offensichtlich sind? Oder sollte nicht eher nach den scheinbar unmerklichen Anfängen geschaut werden? Auf dem S-Bahnhof Plänterwald gab es eine große, schön gerade gewachsene Tanne. Irgendwann, nach dem Jahreswechsel, war zu sehen, daß die Spitze fehlte. Jemand hatte den oberen Teil des Baumes abgesägt und mitgenommen. Der hat sich bestimmt gut gemacht als Weihnachtsbaum in einer Wohnstube. War es ein Bedürftiger, der nur so zu einem schönen Baum kommen konnte, oder eine Wette Jugendlicher? Außer den Beteiligten wird das niemand mehr in Erfahrung bringen können. Früher gab es einen Stationsvorsteher auch auf jedem S-Bahnhof in Berlin. Den haben Herr Mehdorn und der Neoliberalismus bekanntlich eingespart. Das Abfertigen der Züge geht auch elektronisch, ohne Menschen, legten sie fest, bzw. das muß der Fahrer selbst machen. Aber der Stationsvorsteher hatte immer auch eine menschliche Funktion, neben der technischen: Er konnte Sicherheit geben im Falle von Belästigung oder krimineller Übergriffe, man konnte ihn nach dem nächsten Zug fragen, weil wieder mal einer ausgefallen war, oder nach dem Weg. Heute fallen alle diese Funktionen weg. Die Reisende steht heute abends oder am frühen Morgen auf vielen Bahnhöfen allein, blickt sich ängstlich um, ob auch keine pöbelnden Rowdies oder Betrunkenen in der Nähe sind, und überlegt, ob es immer noch eine gute Idee ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Die Failing States beginnen dort, wo Bürger sich diese Frage zu stellen genötigt sehen.
Nun könnte man natürlich sagen: Alle haben ein Handy, sie können die Polizei rufen. Die aber wird ja auch eingespart. Brandenburgs Innenminister Speer ist gerade dabei, eine nächste „Polizeireform“ (die vorige ist acht oder zehn Jahre her) zu erdenken; danach soll es dann bis zum Jahre 2020 1.900 Polizisten weniger geben und insgesamt noch 7.000. Nur noch 16 Polizeiwachen in Brandenburg sollen „rund um die Uhr“ besetzt sein. Jetzt sind es fünfzig. Wie lange also wird ein Polizeiwagen brauchen, wenn von einem Bahnhof ein Notruf kommt? Und in welchem Maße können Polizisten dann noch eingreifen?
Zu den aktuellen Tatvorgängen gehört das Stehlen von Kupferdraht von den Oberleitungen der Bahn. Der Kupferpreis sei explodiert (angeblich ist wieder einmal der Chinese schuld), und da mehrten sich eben diese Vorfälle, heißt es. Die Täter wissen, wie man den Strom ausschaltet, und stehlen dann flugs möglichst viele Meter Draht. Bei den zentralen Verbindungen der Deutschen Bahn wird man vielleicht die technischen und polizeilichen Kontrollen verstärken und die höheren Kosten auf die Fahrpreise umschlagen. Bei einer kleinen Strecke dagegen im Osten Brandenburgs, die von einem Heimatverein betrieben wird, wurde gerade zum dritten Mal der Draht gestohlen. Die Polizei kommt, schon wegen ihrer eigenen Überlastung, kaum noch zur Protokollaufnahme. „Ist ja nichts passiert. Niemand ist zu Tode gekommen.“ Die Versicherung wird aber wohl nicht mehr zahlen. Das bedeutet, der Heimatverein wird seine Tätigkeit einstellen, die Kleinbahn, die gerade für Kinder und Touristen reizvoll war, wird nicht mehr fahren. Das ist ein Verlust an „zivilgesellschaftlichem Engagement“, wie es immer so schön heißt, und ein Verlust an Lebensqualität.
Das Problem liegt jedoch nicht nur in dem Moment der Gefahr oder des nichtverfolgten Verbrechens. Es geht auch um das Rechtsbewußtsein in der Öffentlichkeit. Mit großem Aplomb wurde gerade gefeiert, daß Nichtraucheraktivisten in Bayern ein strenges Rauchverbot per Volksentscheid erwirkt haben. Auch aus Berlin gab es Berichte, wie Vereine militanter Nichtraucher gruppenweise abends durch Kneipen zogen, um den Wirten wegen unerlaubten Rauchwesens mit Strafe zu drohen. Inzwischen wird aber in Berlin, auch am hellerlichten Tage, auf den S-Bahnhöfen offen und offensichtlich geraucht, obwohl es ein seit Jahren bestehendes Rauchverbot gibt. Die Bürger, die so forsch in Gruppen auftretend den Wirten drohten, schauen hier weg, weil sie befürchten, von den Rauchern, die meist eher den arbeitenden „Unterschichten“, den Armen oder den „bildungsfernen Schichten“ angehören, nicht nur gesagt zu bekommen: „Willste ’n paar auf’s Maul“, sondern diese das gegebenenfalls auch tun. Es gibt aber weder einen Bahnbeschäftigten (Stichwort wieder: der fehlende Stationsvorsteher) noch einen Polizisten, der sich damit befaßt. Kurzum, wir haben eine Regel: Niemand darf auf dem Bahnhof rauchen, und wer dem zuwiderhandelt…, aber es gibt niemanden, der das durchsetzt. Das aber ist das Ende der Rechtsstaatlichkeit. Sie beginnt im Kleinen. Beim Rauchen. Und setzt sich im Größeren fort, etwa der Steuerbegünstigung der „höheren Stände“.
Der Staat ist Machtinstrument der herrschenden Klassen, so lautet eine vielfach benutzte und zugleich verkürzte Begriffsbestimmung. Indem der bürgerliche Staat Existenz- und Entwicklungsbedingung der kapitalistischen Produktion ist, muß er zugleich Träger und Durchsetzer einer Rechtsordnung sein, Steuerstaat, um gesellschaftliche Funktionen wahrnehmen zu können, die sich nicht nur aus der Kapitalverwertung ergeben, und Durchsetzer einer öffentlichen Ordnung, die auf einem staatlichen Gewaltmonopol beruht. In seiner konkreten Ausgestaltung ist der Staat auch Ausdruck von Klassenverhältnissen, Klassenbewegungen und sozialer beziehungsweise politischer Auseinandersetzungen. Insofern handelt es sich stets um einen Doppelcharakter: Der bürgerliche Staat ist Klassenstaat, indem er das Interesse der Kapitalbesitzer realisiert, und er ist Staat aller Bürger, indem er Willkür und Gesetzlosigkeit unterbindet und ihnen politische sowie soziale Rechte garantiert.
In diesem Sinne ist der Unterschied zwischen einer zaristischen Despotie, einer faschistischen Diktatur oder einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie, die zugleich Rechtsstaat ist, ein Unterschied aufs Ganze für jeden Bürger: Er hat verfassungsrechtlich verankerte und staatlich realisierte Grundrechte, die einklagbar und zu gewährleisten sind, oder er hat sie nicht. In diesem Sinne war die sozialistische Arbeiterbewegung beziehungsweise die politische Linke historisch Verfechterin einer Rechtsordnung für alle, weil diese stets auch die Verteidigung von Menschen- und Bürgerrechten einschloß, Vorkämpferin des Wahlrechts und der weitesten Garantie auch sozialer und kultureller Rechte. Der europäische Kommunismus hatte mit der von Marx und Engels kommenden Einheit des Kampfes um die soziale Revolution und um garantierte, einklagbare politische Rechte gebrochen; das Scheitern des Realsozialismus hat diese Einheit wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Auch der schärfste Kritiker eines bürgerlichen Staates, der die Kapitalinteressen begünstigt, ruft nach der Polizei eben dieses Staates, wenn er Opfer eines Raubüberfalls geworden ist. Insofern bleibt dieser Doppelcharakter konstitutiv. Auch von links muß es ein Rechtsstaatskonzept geben. Und das ist mehr, als eine sozialdemokratische Polizeireform zu erdulden. Es geht um einen „starken Staat“ für alle Bürger, der die Gesetze und Regeln des täglichen Miteinanders auch durchsetzt, und der stark genug ist, bei den Reichen die Steuern einzutreiben.