von Wolfgang Engler
Dank, lieber Herr Märki, für ihre freundliche und erwartungsfrohe Einführung, Dank den Veranstaltern, die mich zu diesem Redezyklus eingeladen haben, Dank Ihnen, dass sie so zahlreich hier erscheinen sind, um mir zuzuhören.
Meine ursprüngliche Absicht bestand darin, auf einige Stichworte gestützt zu freier Rede anzuheben und zuzusehen, wohin der Gedanke mich führt. Indes wünschten sich die Veranstalter ein Manuskript, um dem einen oder anderen Gelegenheit zu geben, das Gehörte noch einmal nachzulesen. Das leuchtete mir ein und so schrieb ich einen Text.
Da er nun einmal vorliegt, erschien es mir unpraktisch, ihn einfach außer Acht zu lassen und munter loszulegen. Der sprachlich durchgeformte Gedanke ist notwendigerweise präziser, treffender, als das eine mündliche Wortmeldung in aller Regel vermag.
Demgemäß habe ich mich dazu entschlossen, Ihnen zunächst diesen Text in hoffentlich nicht allzu trockener Manier zu Gehör zu bringen. Im Anschluss möchte ich meine Ausgangsidee aufgreifen und offenen Blicks zu Ihnen sprechen. Die Intention besteht darin, die Grundgedanken meines Vortrags näher an die uns umgebende Wirklichkeit heranzurücken, gleichsam im „Handgemenge“ zu argumentieren.
Ich bitte Sie also um etwas Geduld.
Sollten Sie anfänglich den Eindruck gewinnen: das ist doch zu verkürzt, da fehlt doch ein Gedankenschritt!, mögen Sie durchaus Recht haben. Solche inneren Einwände aufzulösen, soweit ich sie zu ahnen vermag, will ich mich im zweiten Teil bemühen.
Und jetzt fange ich an.
Komme allerdings nicht sogleich zur Sache, sondern verharre zuvor beim Titel meiner Rede.
So oder So – betonungslos gesprochen klingt das wie „Sowieso“ oder „Eh’ alles gleich“. Aus Gleichgültigkeit erwächst aber keine Alternative. Und darum muss es heißen: So oder So! mit der Betonung auf den beiden „So“.
Alternativen im Kapitalismus – auch das verträgt eine Erläuterung, weil sich der Titelanhang nur scheinbar vor selbst versteht. Den Kapitalismus gedanklich hinter uns zu lassen, Alternativen zum Kapitalismus zu formulieren – dazu fehlt es in den Metropolen dieser Gesellschaftsform offensichtlich (sollte ich sagen: glücklicherweise?) an jener Not, die erfinderisch macht. Alternative Entwicklungspfade im Kapitalismus aufzuspüren, so ausschweifend, so fordernd sollte das Denken vor der Hintergrund des gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise allemal sein.
In anderen Gegenden unseres Planeten, ich denke insbesondere an Latein-, an Südamerika, hat sich der Kapitalismus seit Generationen dermaßen blamiert, dass sein scheinbar ausrangierter Widerpart, der Sozialismus, neuerlich auf der Szene erscheint; Grund genug, dem vermeintlichen „Sieger der Geschichte“ auch in Europa, auch in Deutschland den Pelz zumindest nass zu machen.
Und nun zum Vortrag.
I. Abgesang der Utopie?
1.
Passend zum Ausbruch der ersten globalen Krise des modernen Kapitalismus, der Großen Depression, verfasste Bertolt Brecht sein Drama Die heilige Johanna der Schlachthöfe; derzeit wird es (warum wohl?) wieder häufiger gespielt. Mit dem Grundkonflikt, den das Stück exponierte, wissen die aktuellen Inszenierungen freilich wenig anzufangen.
Brecht führte seine Protagonistin, Johanna, anfangs als negative Heldin auf. Sie sieht das Elend der Armen und meint, ihm durch moralische Appelle beizukommen, durch Appelle, die sie an Proleten und Bosse gleichermaßen richtet.
An erstere gewandt klingt das auszugsweise so:
Ich will es euch sagen: nicht, weil ihr nicht mit irdischen Gütern gesegnet seid – das kann nicht jeder sein -, sondern weil ihr keinen Sinn für das Höhere habt. Darum seid ihr arm …
Vielleicht braucht man auf Erden einen Stehkragen, damit man weiterkommt, aber vor Gott muß man noch viel mehr um haben, einen ganz anderen Glanz, aber da habt ihr nicht einmal einen Gummikragen um, weil ihr eben euren ganzen inneren Menschen vollständig vernachlässigt habt.
Auf die nämliche Weise knöpft sich Johanna den Mauler vor, den Boss der Bosse auf den Chicagoer Schlachthöfen, nimmt ihn ins Gebet seiner irdischen Pflichten – Jobs und ordentliche Löhne für das Arbeitsvolk – und richtet doch nichts aus.
Später, nach dem Gang in die Tiefe, begreift sie: das war der falsche Ansatz, und reift dank dieser Erkenntnis zur positiven Heldin:
Die aber unten sind, werden unten gehalten
Damit die oben sind, oben bleiben.
Und der Oberen Niedertracht ist ohne Maß
Und auch wenn sie besser werden, so hülfe es
Doch nichts, denn ohnegleichen ist
Das System, das sie gemacht haben:
Ausbeutung und Unordnung, tierisch und also
Unverständlich.
Schließlich, vor Hunger und Kälte bereits entkräftet und dem Tode nahe, zieht sie das Fazit ihrer Ankunft in der Wirklichkeit:
Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und
Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind.
Lernprozesse mit tödlichem Ausgang.
2.
Statt die anderen zu läutern, die Armen wie die Reichen, läutert die Leitfigur sich selbst, im Denken, und zwar in einem Dreierschritt.
These: Um die Welt besser, menschlicher gestalten zu können, müssen sich zuvor die einzelnen verändern, bessern;
Antithese: Die Veränderung der einzelnen scheitert am Ganzen, am System, das wahre Menschlichkeit verhindert, unterdrückt, oben und unten;
Schluss: Das Ganze muss mit Gewalt zerbrochen werden, ergo: Ehe die einzelnen sich wirklich ändern, bessern können, muss die soziale Welt verändert werden, auf revolutionäre Art und Weise.
Die durch den Dreierschritt bezeichneten Alternativen breitete Brecht vor seinem Publikum im Jahr 1930 aus, wobei er für die Eingeweihten unter seinen Lesern/Zuschauern ebenso erkennbar wie polemisch gegen Friedrich Schiller anschrieb.
Als Zeitgenosse der Französischen Revolution nahm dieser deren Gewaltexzesse zum Anlass einer großen Abrechnung. Die Welt mit Menschen verändern zu wollen, deren Charakter und deren Sinne dafür nicht geschult sind – das führt in ein Fiasko. Erst Selbstveränderung, Kultivierung der Gesinnungen und Gesittungen mittels Kunst, Theater, schöpferischem Spiel, dann Weltveränderung: Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – so lautete sein Programm der Ästhetische(n) Erziehung des Menschen (1793/94) auf einen Kernsatz reduziert.
Dieses durch und durch antirevolutionäre Credo stopft Brecht dem Schurken Mauler in den Mund:
Mit Ochsen hab ich Mitleid, der Mensch ist
schlecht.
Die Menschen sind für deinen Plan nicht reif.
Erst muß, bevor die Welt sich ändern kann
Der Mensch sich ändern.
Noch einen Augenblick!
So, mit geübter Schillerzunge, fertigt Pierpont Mauler die Johanna ab und sonnt sich in seiner Ohnmacht, das Elend der Arbeiter als seine Verantwortung zu begreifen. Ehe nicht der Letzte sein Wesen kultiviert hat, könnten weder gute Worte noch gute Taten den Lauf der Dinge wenden; philanthropisches Wortgeklingel als Schutzschirm gegen den Regen, der von unten nach oben fließt.)
3.
In seiner Inszenierung des Stückes, das kürzlich in Berlin zu sehen war, ließ Philipp Stemann zuletzt Johanna wieder von den Toten auferstehen. Sie gehöre gar nicht zu den Elenden, bekennt sie unverwandt, und als eine Arbeiterin in ihrem Rücken von der Polizei erschossen wird, spitzt sie die Lippen und haucht ein ratloses „Huch“ in den Zuschauerraum.
Da haben wir die ganze Differenz unserer Zeit zu Brecht und dessen Ära: Die revolutionäre Perspektive ist flöten gegangen; ein Kollektivsubjekt, willens und fähig, die Welt umzukrempeln, ist nirgends auszumachen.
Wer, jene ausdrücklich angesprochen, die unsere Welt für ungerecht und also für veränderungsbedürftig halten, glaubt ernsthaft an den Aufstand der Arbeiterschaft als Lösung des Problems? Wir mögen das Ganze für das Falsche ansehen, den Fehler im System lokalisieren – die Misere durch entschlossene Aktionen der Massen zu enden, hier bei uns, demnächst: Wie bitte? Selbst eine friedliche Umwälzung der Verhältnisse nach dem Muster der Volkserhebungen in Ost-Mitteleuropa der Jahre 1989/90 zieht augenscheinlich nicht herauf.
Die zweite globale Finanz- und Wirtschaftskrise, deren Zeitzeugen wir waren und noch sind, produziert keine revolutionäre Situation, nicht einmal ein Aufbegehren zahlenmäßig relevanter Minderheiten. Das spricht für die Reparaturfähigkeit des „Systems“, für die Cleverness seiner Eliten.
Zugleich spricht die Krise, in die dieses System gestürzt ist, eindeutig für und nicht gegen Veränderung, und wollen wir die nicht den Krisenverursachern überlassen, müssen wir nach Alternativen Ausschau halten, die unterhalb der revolutionären Schwelle angesiedelt sind, ohne deshalb in halbherzige Reformen oder in Systemkosmetik auszulaufen.
Statt Alternativen zum Kapitalismus stehen Alternativen im Kapitalismus auf der Tagesordnung.
4.
Radikale, erst recht militante Gemüter werden diese Problematisierung unserer Situation als schal empfinden, als kompromisslerisch, als Ausdruck allzu zahmen Denkens.
Für sie ist der Kapitalismus der Schurke der Weltgeschichte und als solcher unbelehrbar. Alles oder nichts – entweder Zertrümmerung des falschen Ganzen oder Kriechgang heißt die Devise dieser „handfesten“ Kritik.
Hier überstürzt sich der Gedanke, wie ein geraffter Blick auf die Geschichte des Kapitalismus demonstriert.
Als dieser selbst noch eine Utopie war, im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, erschien der Eigennnutz, ja selbst der schrankenlose Egoismus als Königsweg einer sozial befriedeten Menschheit. Die Entfesselung der Marktkräfte versprach auf längere Sicht wenn nicht Reichtum, so doch Wohlergehen auch für jene, die den Reichtum erwirtschafteten.
Es kam anders. Statt sich Schritt für Schritt zu schließen, weitete sich die soziale Kluft; krasse, unversöhnliche Gegensätze beherrschten die soziale Szene und das Elend der Proletarier war namenlos. Die vom rohen Kapitalismus beherrschten Gesellschaften drifteten dem Abgrund entgegen und die einzig noch zu beantwortende Frage lautete, wer wen überwältigen, niederringen und massakrieren würde.
Gemessen an dieser Ausgangslage kann die Folgegeschichte des Kapitalismus in unserem Teil der Welt schwerlich anders denn als Geschichte seiner Zivilisierung beschrieben werden.
5.
Es waren heftige, zum Teil erbittert geführte soziale Kämpfe im Verein mit dadurch periodisch ausgelösten Lernprozessen, die diese Wende bewirkten.
Im Ergebnis milderten sich die sozialen Kontraste, streifte die Lohnarbeit ihren nackten, proletarischen Charakter ab, um nach und nach einer „bürgerlichen Form der Lohnabhängigkeit“ zu weichen.
Die Masse der Arbeiter und Angestellten partizipierte am wirtschaftlichen Fortschritt in Form unterproportionaler, aber gleichwohl realer Einkommensgewinne. Dazu gesellte sich im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts eine gänzlich neue Form des Eigentums – das Sozialeigentum. Großkollektive Solidarsysteme versicherten die arbeitende Mehrheit gegen die schicksalblinde Macht der Umstände, trafen Vorsorge für den Krankheitsfall, das Alter, gegen Arbeitsunfälle und später gegen Arbeitslosigkeit.
Zwar an Erwerbsarbeit gebunden, ragten diese Solidarsysteme in ihrer Wirkung über den unmittelbaren Arbeitsvollzug hinaus und ließen den Menschen hinter dem Arbeit leistenden Individuum zumindest etwas Atem schöpfen. Die brachiale Wirtschaftsgesellschaft aus der Frühzeit des neuzeitlichen Kapitalismus mauserte sich zu einer Gesellschaft mit vorherrschend kapitalistischer Produktionsweise. Die Menschen, speziell die am unteren Ende der sozialen Rangordnung, lebten nach wie vor mit dem Kapitalismus, aber nicht einfach und umstandslos im Kapitalismus.
Die Zivilisierung der Verkehrsverhältnisse hob in der Werkstatt an und zog dann immer weitere Kreise. Der durchschnittliche Lohnarbeiter unserer Tage teilt mit seinem unglücklichen Vorläufer aus den Kindertagen der „großen Industrie“ wenig mehr als den sozialen Gattungsnamen.
6.
Dass die sozialen Unterschiede zwischen diesen beiden Lohnarbeitertypen derzeit weniger markant ins Auge fallen als noch vor wenigen Jahrzehnten führt uns zurück auf den Ausgangspunkt dieser Betrachtung, auf die soziale Grundfrage unserer Epoche: Fortsetzung oder Rücknahme der Zivilisierung kapitalistischer Reichtumsproduktion: So oder So.
Die Indizien für eine Dezivilisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der abhängig Beschäftigten sind unübersehbar, bedauerlicherweise, und der soziale Status der Arbeitslosen sinkt rapide. Dem Menschen ohne reguläre Arbeit ist alles zuzumuten – elende Jobs, Hungerlöhne, eingeschränkte Freizügigkeit, Entblößung seiner privaten Lebensumstände: Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit! Allzeit bereit, verfügbar, rückt er, der Not gehorchend und gemeinsam mit den prekär Beschäftigten dem Normalarbeitsverhältnis zu Leibe.
Die Herren der Arbeit applaudieren der politischen Zwangsbewirtschaftung des arbeitslosen Lebens und freuen sich der wachsenden allgemeinen Verunsicherung. Sämtliche politischen Parteien, die Deutschland seit den frühen 1980er Jahren regierten, arbeiteten mal zaghafter, mal zupackender am Projekt des Rückbaus zivilisatorischer Errungenschaften.
Ich erspare Ihnen und mir eine detaillierte Auflistung all dieser „schmerzlichen Reformen“.
7.
Mein vorrangiges Interesse gilt der Umkehr dieser unerfreulichen Entwicklung, der Frage, ob das Kapitalverhältnis, statt der Gesamtgesellschaft seinen Willen zu diktieren, zu neuerlichem und sogar weitergehendem gesellschaftlichem Gehorsam verpflichtet werden kann.
Was wäre der nächste Schritt in dem langfristigen Bestreben, die rechtlich verbürgten Freiheiten, die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten der Mehrheit, jedes einzelnen, zu stärken, auszubauen?
In Bezug auf die Richtung, in die wir dabei denken müssen, gibt T. H. Marshalls bahnbrechende Arbeit Class, Citizenship, and Sozial Development (1964) mehr als nur einen Fingerzeig.
Marshall zufolge vollzog sich die soziale Emanzipation des „Volkes“ in Form dreier großer Freiheitsbewegungen. Am Anfang stand der Kampf um Meinungsfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, ein Kampf, der zur Eroberung von im engeren Sinne juristischen Rechten führte. Die zweite Runde des Streits betraf das Recht, sich zusammenzuschließen sowie das allgemeine, freie und geheime Wahlrecht und mündete in die Gewährung politischer Freiheiten. Den vorläufigen Schlussstein dieses Prozesses setzte das erfolgreiche Ringen um ökonomische Wohlfahrt und soziale Sicherheit mit der Konsequenz sozialökonomischer Garantien.
Rechtliche, politische, soziale Freiheiten; ethnisch indifferente, geschlechtsblinde Freiheiten, die sowohl dem Machtmissbrauch als auch dem ungezügelten Marktgeschehen Grenzen setzten; Freiheiten, die jedem und jeder persönliche Würde zuerkannten – das resümiert die früher skizzierte Zivilisierung des Kapitalismus.
Gibt es ein Zivilisationsprojekt der Gegenwart, das sich in diese Logik einfügt und von dem sich sagen ließe: seine Zeit ist gekommen?
8.
Eines, das seit Jahrzehnten für erregte Debatten sorgt, leidenschaftliche Zustimmung ebenso wie barsche Kritik hervorruft, wüsste ich zu benennen.
Es kurz zu porträtieren greife ich zunächst noch einmal auf das Sozialeigentum zurück – Frucht ökonomischer Krisen und politischer Kämpfe des späten neunzehnten Jahrhunderts. Es bereite der Lohnarbeit, den Lohnarbeit leistenden Menschen eine Bühne, auf der sie sich als Bürger präsentieren und einen Boden, auf dem sie als Menschen stehen konnten, noch eben oberhalb der größten Not. Insbesondere die kontinentaleuropäischen Gesellschaften des zwanzigsten Jahrhunderts knüpften aus dem anfangs noch recht löchrigen Geflecht ein weitgespanntes, dichtes Netz sozial- und wohlfahrststaatlicher Vorkehrungen gegen persönlich unkalkulierbare Risiken des Marktgeschehens.
Die Emanzipation des Arbeiters zum Bürger, ausgestattet mit dem Recht, Rechte zu haben, schien unumkehrbar.
Der globale Kapitalismus schuf neue Risiken. Die weltweite Konkurrenz um die günstigsten Verwertungsbedingungen, um hohe Renditen setzte einen Standortwettbewerb in Gang, der den auf nationaler Grundlage geschaffenen sozialen Konsens zu unterspülen droht. Lohnarbeit wird abermals zur Schicksalsfrage für Millionen, vielfach prekär und häufig fraglich; die Bühne wird morsch, der Boden rissig.
Der soziale Konsens bedarf einer Auffrischung, neuer Impulse, einer konkreten Utopie.
9.
Das Projekt eines Grundeinkommens, eines Bürgergeldes könnte die nötige Verjüngung des Sozialstaats bewirken.
Die damit verbundene Forderung eines unbedingten Rechts auf Leben, auf Lebensunterhalt auch ohne Lohnarbeit „passt“ zur Logik des Sozialeigentums, ganz vorzüglich sogar. Technisch-technologischer Fortschritt und die Folgen planetarischen Wettbewerbs umzingeln die „gute“ Arbeit, die ein eigenes Leben trägt. Das Kapital ist beweglicher als die lebendige Arbeit; ohne äußere Barrieren nutzt es diesen Vorteil und kündigt, wo immer das angeht, den alten Kompromiss: Wir können auch anders, anderswo!
Die Wiederherstellung annähernder „Waffengleichheit“ zwischen Arbeitsvolk und Arbeitsherren ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit und nötigt zur Anerkennung des Primats des Lebens vor dem Lohnerwerbs. Den Arbeiter zum Bürger zu emanzipieren, darauf lief die Lösung der sozialen Frage in der Vergangenheit hinaus; den Bürger (und den Menschen) vom Arbeiter zu emanzipieren, ist die Forderung der Gegenwart.
Der Zugang zum klassischen Sozialeigentum war, blieb und ist an Arbeit gebunden.
Wer einen Arbeitsunfall erleidet, erkrankt, seine Arbeit verliert, erhält öffentliche Unterstützung, die es ihm oder ihr erlaubt, diese „Auszeiten“ zu überbrücken. Die Zuwendung erfolgt in der Erwartung, dass die Empfänger den nur unterbrochenen Broterwerb nach dem Wegfall der Hinderungsgründe umgehend fortsetzen. Im gleichen Sinn auf Arbeit gepolt ist der „verdiente Ruhestand“, der in genau dem Maße verdient ist, in dem er auf ein möglichst lückenloses Arbeitsleben zurückblickt.
Personen mit schweren körperlichen oder geistigen Handicaps ausgenommen bleibt die erklärte Bereitschaft, jederzeit Arbeit leisten zu wollen, die conditio sine qua non der Existenzgewinnung.
Das Sozialeigentum der Zukunft löst die existentiellen Garantien von der Arbeit an und überträgt sie auf deren Subjekt, den Menschen, auf das Individuum als solches; das ist der ganze Unterschied.
Hinfort käme jedwede(r) mit dem Sozialeigentum, mit umfassenden sozialen Rechten auf die Welt, und behielte sie unabhängig von der Tatsache, ob er/sie Arbeit leistet oder nicht, viel oder wenig, kontinuierlich oder episodisch.
Formell setzen Grundeinkommen resp. Bürgergeld lediglich neue Themen auf die sozialstaatliche Agenda. Tatsächlich brechen sie mit der herkömmlichen Praxis der öffentlichen Risikovorsorge, mit der Arbeitsabhängigkeit sozialer Freiheiten, indem sie die Individuen gegen die „Zumutungen“ der Arbeit selbst versichern.
Das macht die Sache in hohem Grade strittig.
10.
Ich möchte diesen Streit für jetzt auf sich beruhen lassen. Die wesentlichen Einwände gegen ein Bürgergeld aufzugreifen, zu würdigen und, sofern möglich, aufzulösen – das sprengt die Grenzen eines Vortrags, füllt ganze Bücher.
Angesichts der drögen Alternativlosigkeit speziell des politischen Diskurses ist es mir darum zu tun, das Neue, Unerhörte, Radikale der Idee herauszustellen.
Das Bürgergeld, verstanden als Recht auf auskömmliches Leben auch ohne Lohnarbeit zielt aufs Ganze unserer sozialen und kulturellen Selbstverständlichkeiten. Es offeriert ein neues Menschenbild, das die gewohnheitsmäßige Gleichsetzung von Arbeit und Aktivität, von Nützlichkeit und Menschenwürde überwindet. Es erweiterte den Katalog der Bürger- und Menschenrechte um die Alternative, zu arbeiten oder nicht zu arbeiten und zwingt die Arbeitsherren zu Bereitstellung finanziell und/oder sachlich attraktiver Arbeit. Es definiert den materiellen Grund des Lebens, den sozialen Boden, durch den niemand hindurchbrechen darf. Es assistiert der Forderung nach allgemeinen Mindestlöhnen und sorgte dafür, dass diese sich oberhalb des arbeitsfreien Grundeinkommens einpendelten. Arbeit lohnte sich dann wieder, in jedem Fall, und begründete ein eigenes Leben.
Das Bürgergeld ist eine kühne soziale Utopie, die die Grenzen des mit kapitalistischer Produktionsweise Verträglichen ausschreitet.
Weil es die Bedingungen seiner Verwirklichung angeben kann skizziert das Bürgergeld zugleich eine konkrete Utopie. Sie im Ansatz zu realisieren müsste man die heutige Sozial- und Arbeitsgesetzgebung „nur“ von all jenen Bedrückungen, Nachstellungen und Beschämungen reinigen, die sich spätestens mit den Hartz-Gesetzen eingebürgert haben.
Das könnte umgehend geschehen, schon morgen.
11.
Es geschieht nicht, noch nicht.
Die Regierenden und mehrheitlich auch die Regierten weigern sich standhaft, die Festungen der Lohnarbeitsgesellschaft zu stürmen und deren Zitadelle, den teils staatlich verfügten, teils verinnerlichten Arbeitszwang, Stein um Stein abzutragen. Utopisches Potential ohne revolutionäres Subjekt – hier stockt der nächste Schritt, droht das Projekt zu stolpern.
Die Mehrheiten in Gesellschaften wie der unseren dafür zu gewinnen ist eine Aufgabe, deren Lösung aussteht.
12.
Utopien verfehlen ihr Ziel, wenn sie die Zukunftsgesellschaft in allen Einzelheiten ausmalen; die sind in aller Regel von der Gegenwart geborgt und verlängern sie ins Morgen und Übermorgen; kaum bricht das Morgen an, sind sie veraltet.
Robuste Utopien üben sich diesbezüglich in Bescheidenheit und präsentieren Prinziplösungen für Grundprobleme ihrer Zeit.
So auch das Bürgergeld. Es schreibt den Menschen künftiger Generationen nicht vor, wie sie zu leben, die neuen Freiheitsräume auszufüllen haben. Die kulturellen Konsequenzen eines Rechts auf auskömmliches Leben ohne Lohnarbeit stehen auf einem anderen Blatt, das hier nicht aufgeschlagen werden kann.
Utopien ermöglichen die Lesbarkeit der Welt.
Man wirft gleichsam einen Anker in die Zukunft und blickt aus dieser vorgestellten Position, aus der Vogelperspektive, auf die Gegenwart, aufs Hier und Jetzt. Spreu und Weizen sondern sich. Entwicklungen, die in Richtung auf das für Wünschenswert, für Notwendig Erachtete weisen, werden überhaupt erst sichtbar, wenn der Wunsch zum Vater des Gedankens und des Strebens wird.
Dann kann man sich immer noch täuschen und Trugbildern folgen.
Aber besser das als gar keine Perspektive, als die Fixierung des Gedankens auf das krud Gegebene, auf den Augenblick.
Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Der Sinn der Übung sind soziale Wohlfahrt und individuelles Wohlergehen auf der Grundlage persönlicher Freiheit.
13.
Ohne rechtliche und politische Freiheiten schrumpft auch deren sozialökonomischer Kern; dann drohen Brot und Spiele als öder Preis der Knechtschaft.
Aber auch das Umgekehrte gilt: Die Aushöhlung der existentiellen Garantieren zieht alsbald auch die bürgerlichen Freiheiten in Mitleidenschaft.
Zwei Sollbruchstellen der sozialen Demokratie, zwei Kampfschauplätze.
Die Widersacher umfassender Freiheiten haben längst Position bezogen und die sozialökonomische Widerstandslinie der modernen Demokratie an mehr als einer Stelle überschritten; hier tobt der derzeit schärfste Kampf.
Sie zurückzuwerfen, die Grenzen erst neu zu befestigen und dann vorzuverlegen, auf dass die Gesellschaft den Takt der Wirtschaft angibt, das können wir, Bürger unter Bürgern, nur selber tun.
II. Kommentare, Weiterungen
Die Geschichte des Kapitalismus als Geschichte seiner Zivilisierung – bedeutet das nicht einen Freispruch Erster Klasse für diese Gesellschaftsform, wird mancher einwenden? Ein willentliches Absehen von den mit ihr einhergehenden Krisen, Unglücksfällen, Katastrophen? Zugegeben, eine umfassende, politisch akzentuierte Darstellung müsste ausführlich davon berichten.
Mein Bericht war keineswegs frei von „Dissonanzen“, das Schlüsselwort hieß „Dezivilisierung“.
Nur war es mir vorrangig darum zu tun, den Kapitalismus als eine sich entwickelnde, veränderbare Form der Reichtumsproduktion zu zeigen. Im Vordergrund standen die Zäsuren und Perspektiven einer Zivilisierung des Kapitalverhältnisses.
Das unabgeschlossene Projekt des Ringens um einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ ist eine Gesellschaft der sozial Ähnlichen, um mich eines treffenden Ausdrucks des französischen Soziologen und Historikers Robert Castels zu bedienen.
Die Formulierung zielt auf einen „dritten Weg“ jenseits von Gleichmacherei und krasser Ungleichheit.
Sie schließt an Forderungen an, viele hier in Weimar erinnern sich bestimmt, die im 1989er Herbst im Osten Deutschlands massenhaft erhoben wurden. Der Abschied vom autoritären Sozialismus sollte nicht in den Marktradikalismus münden – das war die Absicht.
Sie zu verwirklichen hätte es überzeugender Vorschläge bedurft, Volkseigentum, Demokratie und ökonomische Effizienz unter einen Hut zu bringen. Die fehlten, und so entschied die Mehrheit gegen den dritten Weg und für das westeuropäische Gesellschaftsmodell – für den „Rheinischen Kapitalismus“. Sie ahnte nicht, konnte nicht ahnen, dass dieses Modell gerade zu dieser Zeit und nicht zuletzt dank des politischen Umbruchs im Osten in eine Krise geriet, die sich seither verschärft hat.
Was 1989 auf der Hand zu liegen schien – die Vereinbarkeit von Profitmotiv und allgemeiner Wohlfahrt – wurde in den Folgejahren wieder fraglich. Es wäre schon viel erreicht, wenn wir die Richtung wechseln, vom Pfad der sozialen Spaltung abzweigen und auf eine Gesellschaft der sozial Ähnlichen zusteuern würden.
Für einen Kapitalismus, der seine sozialen Versprechen bricht, bietet die Forderung eines „dritten Weges“ eine gute Orientierung. Allerdings ist dieser Weg deutlich dorniger, mühseliger geworden.
*
Der Kampf um die Schulreform in Hamburg gibt ein aktuelles Beispiel für diese Mühen. Dort, in Hamburg, proben die Privilegierten den Aufstand gegen die Restgesellschaft. Die Vorstellung, ihre Sprösslinge könnten länger mit den Kindern von Arbeitern und Eingewanderten zusammen lernen, ganze sechs Schuljahre, schreckt sie zutiefst. In ihren Augen beeinträchtigt der Kontakt mit „Nachzüglern“ und „Verlierern“ die Entwicklung der eigenen Nachkommen. Dass beide, Privilegierte wie Unterprivilegierte, von den Erfahrungen der je anderen profitieren könnten, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Deutschland/Preußen war der erste Bildungsstaat der modernen Welt. Das gestufte Bildungssystem, seine Rekrutierungsmechanismen, Lehrpläne und Institutionen, besaßen Vorbildcharakter, wurden weithin nachgeahmt. Im trügerischen Bewusstsein, Modelle mit Ewigkeitswert geschaffen zu haben, zementierte man den Status quo und verschloss sich neuen Herausforderungen und Bedürfnissen.
Die Vorreiterrolle wurde verspielt; Deutschland sank zu einem Bildungsständestaat herab.
In der deutschen „pädagogischen Provinz“ erlauben Bildungsabschluss und Einkommen des Elternhauses ziemlich sichere Prognosen über das soziale Geschick des jeweiligen Nachwuchses; wer mag da noch ernsthaft von „Chancengleichheit“ sprechen.
Derzeit gibt es drei Länder in der Welt, ausschließlich skandinavische, in denen die Herrschaft der Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft gebrochen ist. Dort besitzt jeder Heranwachsende die Möglichkeit, seine Neigungen und Fähigkeiten zu entdecken und zu schulen und sein Leben unabhängig vom Bildungserfolg und vom Geldbeutel seiner Eltern zu gestalten.
Mehr können und mehr wollen auch wir nicht fordern, aber hinter dem derzeit schon Erreichten, Erreichbaren zurückbleiben, das dürfen wir, Bürger unter Bürgern, nicht zulassen.
Der Ausgang des Hamburger Bildungsstreits ist auch ein Testlauf für das sozialmoralische Kapital der deutschen Gegenwartsgesellschaft.
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Bildung, Gesundheitsvorsorge, Wohnbedingungen, Freizeitkonsum – überall ereignet sich derselbe Vorgang: die Bessergestellten gehen auf Abstand zu denen, sie es schwerer haben und igeln sich ein; das soziale Band hängt durch, sinkt mehr und mehr zu Boden.
Früher, in den Aufstiegsgesellschaften der Nachkriegszeit, hieß es: „Alle oder Keiner!“, die Losung unserer Tage lautet: „Für alle reicht es nicht!“ und also: „Rette sich und die Seinen, wer kann!“
Die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, seit je mehr Ideal als Wirklichkeit, ist endgültig passé. Wir leben längst in einer fragmentierten, zerklüfteten Gesellschaft; in einer Gesellschaft, die „Gemeinwesen“ zu nennen zunehmend schwerer fällt.
Die seit den frühen 1970er Jahren währende, sich tendenziell ausweitende Krise der Lohnarbeitsgesellschaft hat die Erwerbsbevölkerung nachhaltig gespaltet und die Geschäftsgrundlage des Sozialstaats untergraben. Solange die Mitglieder aller gesellschaftlichen Gruppen vom wirtschaftlichen Fortschritt profitierten, reale Aufstiegschancen hatten, überwogen die sozialen Bindungskräfte die auseinanderstrebenden Tendenzen. Inzwischen zerren die Fliehkräfte heftig an den Fugen des Gesellschaftsbaus, und der Kitt bröckelt.
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Schießt die Idee eines Bürgergelds, eines Grundeinkommens angesichts dessen nicht weit über das „Machbare“, über das momentan Gebotene hinaus?
Ginge es nicht zunächst und vor allem um die Rettung jener zivilisatorischen Errungenschaften, die dem Kapitalismus in der Vergangenheit abgetrotzt wurden?
Darum geht es, wahrlich, aber ein defensiver, rückwärts gewandter Kampf hat wenig Aussicht auf Zulauf.
Was Not tut, ist eine Auffrischung des Solidaritätsgedankens, sind neue Ziele, neue Vorhaben, die den Einsatz und die Mühe lohnen.
Freilich: Warum sollten jene, die über ausreichend ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, um alleine durchzukommen, tätig am Geschick von Menschen Anteil nehmen, die noch eben den Alltag bewältigen und oft nicht einmal das? Warum sollten sie, statt aus der Solidargesellschaft auszuscheren, noch einen Schritt weitergehen und ein Grundeinkommen akzeptieren, dass die „Absteiger“, gar die ökonomisch „Überflüssigen“ mit neuen Rechten ausstattet und ihnen gegenüber stärkt?
Die erste Antwort auf diese Frage gibt eine Folgefrage: Was wäre die Alternative zur Fortsetzung, zum Ausbau des sozialen Kompromisses? – Die Entscheidung der gut Gewappneten, mit den anderen nicht länger zusammenleben zu wollen. Das wäre der Klassenkampf von oben auf breiter Front, die Erklärung des sozialen Bürgerkriegs. Indizien dafür gibt es hierzulande, wie mehrfach angedeutet; anderenorts sind Bürgerzwietracht, Bürgerzwist schon offen ausgebrochen.
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Appelle an das wohlverstandene Eigeninteresse der Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger: können diese fruchten?
Von der Aussicht auf soziale Unruhen dürften sich die „Begüterten“ überwiegend kaum zu mehr Gemeinsinn überreden lassen. Als potente Steuerzahler haben sie ein Anrecht auf „Ruhe und Ordnung“ und sind gewohnt, es einzufordern – von der Polizei und den Gerichten.
Aussichtsreicher erscheint der Hinweis auf die Verwundbarkeit des Daseins, die seit längerem auch die Mitte der Gesellschaft trifft. Zwar lebt man dort noch immer sicherer, komfortabler als weiter unten, am Rand, vom sozialen Abseits ganz zu schweigen. Die Chance, arbeitslos zu werden, ist für die von Haus aus bestens präparierten, gut ausgebildeten Kinder der Mittelschichten deutlich geringer als bei den Mietern der unteren Geschosse. Das Abonnement auf erstklassige Positionen im Erwerbssystem, das ihre kollektiven Eltern besaßen, ist ihnen entglitten. Der Zusammenhang zwischen sozialer Mitgift, eigenen Anstrengungen und beruflichem Erfolg ist heute weniger eng, weniger gewiss als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das Gespenst des Scheiterns hat die mittleren Etagen des Gesellschaftsbaus erreicht und geht dort, Zweifel streuend, Angst verbreitend, um.
Die Mitte der Gesellschaft besitzt ein eigenes, vitales Interesse an der Versicherung des Lebens, seiner elementaren Bedürfnisse.
Darauf, auf die Sorge um die eigene Existenz, das eigene Fortkommen, lässt sich bauen, selbst wenn die moralischen Fundamente ins Wanken geraten. Die Lücke, die das soziale Mitgefühl hinterlässt, wird mit Selbstmitleid gefüllt – einstweilen.
Bei fortbestehender Verunsicherung könnte in den gehobenen Milieus die Einsicht reifen, dass Bürgersolidarität die einzig passende Antwort auf die soziale Frage im Zeitalter der Globalisierung gibt, dass die „Armenfürsorge“ mit der für sie charakteristischen Auslese der „wirklich Bedürftigen“ uns allen ein beschämendes Armutszeugnis ausstellt.
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Greift, was Menschen denken, wünschen, wollen, in den Weltlauf ein oder vollzieht sich dieser hinter dem Rücken der Akteure?
Von revolutionären Perioden abgesehen, in denen die einzelnen urplötzlich und zu ihrem eigenen Erstauen der Macht der Gewohnheit spotten und zu unerhörten Taten schreiten, scheint die Geschichte solchen „Extravaganzen“ wenig Raum zu bieten.
Zu den Wenigen, die dieser einschläfernden Ansicht widersprachen, gehört der schottische Philosoph David Hume. Opinion matters, lautete seine ebenso knappe wie ermutigende Auskunft, die er vor mehr als zweihundertfünfzig Jahren seinem Essay über die Grundlagen der Herrschaft (Of The First Principles Of Government) anvertraute und wie folgt erläuterte:
Nichts erstaunt jene, die sich mit den menschlichen Angelegenheiten gründlich beschäftigen, in höherem Maße, als die Leichtigkeit, mit welcher sich die Vielen von den Wenigen beherrschen lassen. Wenn wir näher untersuchen, was dieses Wunder bewirkt, finden wir, dass sich die Regierenden gegen die Macht der großen Zahl auf nichts weiter stützen können als auf die Meinung. Darin, in Meinung allein, gründet die Regierung. Diese Maxime erstreckt sich auf despotische und gewalttätige Regierungsformen ebenso wie auf die freien und volkstümlichen.
Die Anschauungen ganz normaler Individuen, weit davon entfernt, nur einen nebulösen „Überbau“ über den objektiven Gegebenheiten ihres gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensprozesses zu bilden, gehören selbst zu den „harten Tatsachen“. Ändern sie sich die Ansichten der Menschen, dann ändert sich allein dadurch die Gesellschaft, die sie miteinander bilden. Wo noch vor kurzem die „eherne Notwendigkeit“ regierte, öffnen sich plötzlich Türen ins Freie.
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Es war diese erlösende Erfahrung, die die Ostdeutschen im Herbst des Jahres 1989 erst verblüffte und dann zum kollektiven Aufbruch mitriss.
Wenn Menschen in hinreichend großer Zahl den Glauben an das „Schicksal“ und seine irdischen Sachwalter verlieren, ist deren Macht grundsätzlich gebrochen und die Herstellung neuer gesellschaftlicher Verhältnissen nur mehr eine Frage der Zeit.
Die derzeit Regierenden könnten diese Lektion schneller lernen, als ihnen lieb ist. Sie haben die zweite globale Krise des Kapitalismus nur gemanagt, nicht gelöst, weil sie vor tiefgreifenden Eingriffen in das Wirtschaftssystem, das sie verursachte, zurückschreckten. Nun geht das Spiel von neuem los. Der nächste „große Krach“ ist gleichsam avisiert. Und, wer weiß, vielleicht siegt dann zugleich mit der Wut über die „Wiederkehr des Gleichen“ der Mut zum Aufbruch über die sehr verständliche Furcht vor dem Neuen.
Ich jedenfalls würde mich freuen, meine Vermutung vom Anfang dieser Rede, dass den Eliten keine schlaflosen Nächte blühen, nächstens widerlegt zu finden.
Die soziale Welt, hat Norbert Elias, ein großer Soziologe des zwanzigsten Jahrhunderts, einmal gesagt, entspricht nur selten den menschlichen Wünschen. Aber es liegt im Bereich der menschlichen Kraft, sie diesen Wünschen entsprechender zu machen.
Alles andere, Erwachen, Aufbegehren, Suche nach Verbündeten, gemeinsames Handeln, folgt aus dieser Einsicht.
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