13. Jahrgang | Nummer 11 | 7. Juni 2010

Die Erfindung der Landwirtschaft

von Frank Ufen

Irgendwann am Ende der letzten Eiszeit – vor etwa 11.000 bis 15.000 Jahren – haben Menschen damit begonnen, ihr Wildbeuter-Leben aufzugeben, um stattdessen seßhaft zu werden und Ackerbau und Viehzucht zu treiben. Wie es zur Erfindung und Einführung der Landwirtschaft gekommen ist, scheint die herkömmliche Theorie überzeugend erklären zu können. Angeblich gab es zu Beginn der Jungsteinzeit in einigen Regionen einen ständigen Mangel an Jagdwild und pflanzlichen Nahrungsmitteln. Um nicht immer wieder Gefahr zu laufen zu verhungern, mußten sich die Jäger und Sammlerinnen etwas einfallen lassen. Schließlich hätten sie sich darauf verlegt, die Körner von Wildgetreide zu sammeln, den Großteil davon als Saatgut zu verwenden und durch Züchtung das Korn immer ertragreicher zu machen. Gleichzeitig hätte man diejenigen Säugetierarten ausfindig gemacht, die zur Domestikation geeignet sind, und hätte sich so regelmäßig mit Fleisch versorgen können.
Diese gängige Erklärung klingt schlüssig, aber sie läßt sich heute nicht mehr aufrechterhalten – behauptet der Münchener Evolutionsbiologe und Ökologe Josef Reichholf. In seinen Augen gibt es eine ganze Reihe von Befunden, die ihr kraß widersprechen. Entscheidend seien allerdings zwei Umstände. Zum einen, daß die Körner des Wildgetreides ursprünglich derart winzig und derart mühsam aus den Spelzen zu lösen waren, daß der Arbeitsaufwand lange Zeit in keinem Verhältnis zum Ertrag stand. Mit dieser mageren Ausbeute hätte eine Familie allenfalls einige Wochen überleben, die Wintermonate jedoch unmöglich überstehen können. Zum anderen würden etliche Indizien dafür sprechen, daß es dort, wo die Landwirtschaft ihren Ursprung hat – im Gebiet des „Fruchtbaren Halbmondes“ – gegen Ende der letzten Eiszeit ein geradezu üppiges Angebot an protein- und stärkereicher Kost gab. „Wo der Boden fruchtbar ist“, erklärt Reichholf, „wachsen einjährige Gräser in Massen, und das wiederum ergibt bestes Weideland für jene Tiere, die die Menschen gejagt haben. Da muß es also nicht Mangel, sondern Überfluß an Fleisch gegeben haben, ganze lebende Fleischberge haben sich da getummelt. Es gab also keine Notwendigkeit, auf das Kauen von harten Grassamen umzusteigen.“ Hinzu kommt, daß die seßhafte Lebensweise der Jagd geschadet hätte – denn die Jäger erbeuten erheblich weniger, wenn sie nicht mehr im Stande sind, den umherziehenden Wildherden ständig zu folgen. Bezeichnenderweise haben die Ureinwohner Australiens sich niemals auf landwirtschaftliche Experimente eingelassen, obwohl ihr botanisches und zoologisches Wissen dafür ohne weiteres ausgereicht hätte und obwohl sie mit einer an Ressourcen knappen Umwelt zurechtkommen mußten.
Aus alledem schließt Reichholf auf einen ganz anderen Ablauf der Ereignisse: Zunächst wurden die Getreideernten in erster Linie dazu verwendet, Bier zu brauen. Dieses Getränk herzustellen, war ein Kinderspiel. Es genügte, eine geringe Menge Getreidekörner zu zerstampfen und reichlich Wasser und etwas Speichel hinzuzufügen – und die alkoholische Gärung entstand von selbst. Dieses primitive Bier war zwar trübe und leichtverderblich, aber es schmeckte angenehm süß und war noch dazu ziemlich nahrhaft. „Wenn man Körner zerreibt und Wasser dazu gibt“, sagt Reichholf, „vergärt dieser Brei zu Bier. Das schmeckt süßlich – und es macht Spaß, es zu trinken. Man kann diese Flüssigkeit schlürfen oder mit Rohrholmen trinken. Sumerer vor einem großen Topf, die mit Rohrholmen Bier schlürfen – das ist die älteste Darstellung, die wir überhaupt von der Nutzung von Getreide haben. Während die Herstellung von Brot aus Körnern erst viel später dokumentiert ist. Hinzu kommt: Das indogermanische Wort ‚brauda‘ ist die Wurzel von ‚Brot‘ und ‚brauen‘ – aber ‚brauen‘ ist älter.“ In großen kultischen Festgelagen, vermutet Reichholf, zu denen Gruppen aus der unmittelbaren Umgebung und von weiter außerhalb zusammen kamen, wurde dieses Bier dann konsumiert. Diese Gruppen brachten die Samen unterschiedlicher Arten und Unterarten von Wildgetreide mit. Aus dieser Vielfalt von Getreidesorten gingen schließlich Hybride hervor, die schon derart ergiebig waren, daß es sich lohnte, sie großflächig anzubauen. Wenn Haustiere gehalten und gezüchtet wurden, glaubt Reichholf, dann vor allem deswegen, weil man das Wildbret-Angebot während der Gelage um weitere Fleisch-Delikatessen bereichern wollte. Reichholf hält es für sehr wahrscheinlich, daß diese kultischen Festgelage von religiösen Spezialisten veranstaltet worden sind, die genau wußten, wie sie kollektive Rauschzustände erzeugen konnten, ohne daß das Ganze außer Kontrolle geriet. Die frühesten dauerhaften Siedlungen aber dürften laut Reichholf aus Kultstätten hervorgegangen oder in ihrer unmittelbaren Umgebung entstanden sein -– und schon zu einer Zeit existiert haben, als die Einführung der Landwirtschaft noch in weiter Ferne lag. „Alle frühesten bekannten menschlichen Bauten, wie zum Beispiel Göbekli Tepe in der Südtürkei, haben eindeutig dem Kult und damit dem Feiern von Festen gedient. Und wir haben noch einen weiteren interessanten Befund: Alle Ackerbaukulturen sind alkoholtoleranter als Jäger-Sammler-Kulturen. Das Feuerwasser hat bekanntlich den Indianern eher zugesetzt als die Gewehre. Indios und Aborigines können dagegen mit Rauschdrogen besser umgehen: mit Tabak, Hanf oder Meskalin.“
In Reichholfs Augen steht nicht der Hunger, sondern das Bedürfnis nach kollektiven Rauschzuständen am Anfang der Geschichte der menschlichen Zivilisation. Nicht von ungefähr ist der Hopfen, ein enger Verwandter des Hanfs, ursprünglich als Rauschdroge benutzt worden. Und tatsächlich ist es sogar zeitweise üblich gewesen, dem Bier Bilsenkraut zuzusetzen.Von diesem Gewächs soll sich der Name der Stadt Pilsen herleiten.
Reichholfs heterodoxe Evolutionsbiologie fußt auf der Hypothese, daß wesentliche evolutionäre Errungenschaften – darunter das Fliegen und das menschliche Denk- und Sprachvermögen – nicht durch starken ökologischen Druck zu Stande gekommen wären, sondern im Gegenteil in Situationen des Überflusses, die Chancen für Innovationen eröffnet haben, entstanden seien. Reichholf präsentiert eine lange Kette von Indizien, die seine Theorie stützen, wonach auch die Entstehung der Landwirtschaft durch Überfluß-Situationen ermöglicht worden ist. Die Sache hat allerdings einen Haken. Außer im Nahen Osten – in der Region des „Fruchtbaren Halbmonds“ – ist die Landwirtschaft auch in Zentralamerika und in Nordostasien erfunden worden. Doch es hat nicht den Anschein, daß man in Zentralamerika mit dem Maisanbau und in Nordostasien mit dem Reisanbau begonnen hätte, um reichlich mit Alkohol versorgt zu sein. Offenbar ist es erforderlich, Reichholfs Theorie um Überlegungen des amerikanischen Archäologen Brian Hayden zu ergänzen, der der Auffassung ist, daß es der Statuswettstreit der Reichen war, der zur Erfindung der Landwirtschaft geführt und fast alle bedeutenden Innovationen der Zivilisation hervorgetrieben hat. Immerhin deutet einiges darauf hin, daß etliche wilde Pflanzen- und Tierarten allein deswegen domestiziert worden sind, weil die Reichen unablässig auf der Suche nach prestigeträchtigen Attraktionen für ihre Festgelage waren. Was erklärt, warum der Flaschenkürbis, die Kichererbse und der Chili zu den ältesten Kulturpflanzen überhaupt gehören.
Reichholfs Buch wartet nicht nur mit einer gewagten, aber erklärungskräftigen Theorie, sondern auch mit einer Fülle verblüffender Fakten und Einsichten auf. Ein großer Wurf.

Josef H. Reichholf, Warum die Menschen sesshaft wurden. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2008, 315 Seiten, 19,90 Euro