13. Jahrgang | Nummer 10 | 24. Mai 2010

Ein schwarzes Loch

von Uri Avnery, Tel Aviv

Man möchte vor Neid platzen, wenn man sieht, wie die Briten dies gemanagt haben. Was für eine Demokratie! Mit welcher Würde!

Wahlen innerhalb eines Monats. Eine neue Koalition innerhalb von fünf Tagen. Ein Wechsel der Regierungen innerhalb von 70 Minuten. Der scheidende Ministerpräsident verläßt die Residenz des Ministerpräsidenten und geht. Der neue Ministerpräsident betritt die Residenz.

Und bei uns?

Unsere Wahlkampagne läuft monatelang. Der Tumult füllt die Luft, eine Kakophonie von Flüchen und Geschmacklosigkeiten. Danach vergehen Monate, bevor eine neue Koalition gebildet wird. In der Zwischenzeit tauschen die Sieger und Besiegten Beleidigungen mit einander aus: Linke, Faschisten, Verräter, Zerstörer Israels, Plünderer Jerusalems, Lakaien der Besatzung, Diebe – alles geht.

Bis zum letzten Augenblick weiß keiner, wer mit wem konkurriert.

Unsere nächste Wahl ist noch weit weg. Wenn nicht eine plötzliche Krise auftaucht, wird sie 2014 stattfinden. In Israel eine politische Ewigkeit.

Viele glauben, daß die Regierung viel früher fallen wird, vielleicht in ein paar Monaten. Dann ist die zugewiesene Frist für das Einfrieren des Siedlungsbaus in der Westbank vorbei. Benyamin Netanyahu wird dann entscheiden müssen, ob er dem amerikanischen Druck nachgibt und sie verlängert oder ob er mit dem Vergrößern der Siedlungen weitermacht und eine Konfrontation mit Barack riskiert. Im zweiten Fall werden die von der Laborpartei übrig gebliebenen die Koalition verlassen.

Ich zweifle, daß dies geschehen wird. Alle Mitglieder der Regierung haben ein wesentliches Interesse, dabei zu bleiben. Ehud Barak klebt an seinem Sitz. Avigdor Lieberman, ein Außenminister, den fast kein Ausländer treffen will, hat kein einziges Wahlversprechen gehalten. Warum sollte man seine Macht vergrößern?

Wenn das Einfrieren nicht beendet wird, gibt es einen Aufstand der Siedler. Die Aller-Extremsten werden die Nur-Extremen hinter sich sammeln. Gegen den Wunsch aller ihrer Mitglieder wird die Regierung trotzdem fallen.

Was wird dann geschehen?

Das ist die Frage, die jetzt viele Gemüter beschäftigt die von einer neuen Partei träumen.

Dies Phänomen hat einen spezifisch israelischen Hintergrund.

In England ist das Wahlkreissystem vollkommen diskreditiert. Viele Millionen gehen verloren. Dort träumen alle von einem neuen System, das wenigstens zum Teil proportional sein wird. In Israel ist es gerade umgekehrt: das proportionale System hat das politische Leben korrumpiert, und viele Leute träumen von einem neuen System, das wenigstens zum Teil auf Wahlkreisen besteht. Anscheinend ist die beste Lösung mit einem System, das zum Teil proportional und zum Teil auf Wahlkreisen beruht, wie das deutsche.

Innerhalb großer Teile der Wählerschaft hat unser System weitverbreitete Ekel für alle Politiker hervorgerufen. Die Leute verabscheuen das ganze politische System und alle bestehenden Parteien.

Deshalb entstehen bei jeder Wahlkampagne neue Parteien und versuchen, Hunderttausende von Wählern anzuziehen, die sagen, sie hätten niemanden, den sie wählen könnten. Diese Bürger könnten natürlich nicht an der Wahl teilnehmen und an den Strand gehen, aber sie wollen ihre Wahlstimme nicht verschwenden. Deshalb entscheiden sie sich im letzten Augenblick für eine der neuen Parteien, die den Zorn gegen alles, was gerade die Öffentlichkeit wütend macht, zum Ausdruck bringt. Die Partei, die diese Stimmung auffängt, gewinnt diese Stimmen, um bald wieder zu verschwinden.

Das geschah der Dash-Partei von General Yigael Yadin, die bei den 1977er-Wahlen entstand. Dann erschienen alle Arten von „Zentrum-“ und „Dritter Weg“-Parteien und verschwanden. Die Wahlen von 2005 sahen Shinui, die Partei von Tommy Lapid, einem TV-Talkshowmaster, der sich mit seiner Aggressivität und seiner ungezügelten Geschmacklosigkeit einen Namen machte. Nach ihm kam Rafi Eitan, der Mann, der Adolf Eichmann gekidnappt hatte und der für die Jonathan Pollard-Affäre verantwortlich war. Bei den nächsten Wahlen war diese Partei natürlich auch verschwunden.

Nun träumen viele Leute wieder – jeder/jede für sich – über einen neuen Versuch. Unter den Kandidaten ist Yair Lapid, der Sohn des oben erwähnten Tommy, ein hübscher, ruhiger und liebenswürdiger TV-Moderator, der täglich auf dem Bildschirm erscheint und fast nie eine Meinung äußert, die nicht für jeden angenehm ist. Er nimmt keinen eigenen Standpunkt ein, noch äußert er eine originelle Idee. Der ideale Kandidat.

Er ist nicht allein. Es gibt noch viel andere: Hochzeitssänger, die beim Publikum beliebt sind, populäre Fußballspieler, Berühmtheiten, die ihren Ruhm einem PR-Agenten verdanken. Sogar Rafi Eitan ist wieder aus dem Nirgendwo aufgetaucht.

Parteien kommen und gehen, wie die Staude in der Bibel, „die in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb“. Der Prophet Jona, der sich über ihren Schatten freute, war so ärgerlich, „dass er matt wurde, als sie verschwand. Da wünschte er sich den Tod und sprach: ich möchte lieber tot sein als leben“. Aber das ist nicht wichtig.

Was aber wichtig ist, ist, das klaffende Loch im israelisch-politischen System zu schließen, das schwarze Loch der Linken.

Die Rechte blüht. Offene Faschisten, die einmal marginal waren, werden jetzt von der Mitte akzeptiert. Ein Schüler des Ultra-Rassisten Meir Kahane spielt eine Hauptrolle in der Knesset, und es scheint niemanden zu stören. Die Siedler planen eine „feindliche Übernahme“ des Likud.

Außer dem Likud gibt es nur noch eine große Partei, die so weit von der Linken ist wie die Erde vom Alpha Centauri. Jüngst legten zwei Kadima-Knessetmitglieder einen haarsträubenden rassistischen Gesetzentwurf vor, der bestimmte, dass Friedensorganisationen, die Brutalitäten aufdecken, die Israel „besudeln“ und zur Verhaftung israelischer Armeeoffiziere im Ausland führen könnten, für ungesetzlich erklärt werden können.

Man stimmt allgemein darin überein, daß bei den nächsten Wahlen die Laborpartei, die nichts anderes als eine Verteidigungsministeriumspartei ist, erledigt wird, so auch Meretz. Beide werden eine politische Wüste hinter sich lassen.

Die Situation schreit zum Himmel. Hunderttausende von Israels Wählern tragen in ihrem Herzen die Grundwerte der Linken: Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Demokratie, Menschenrechte für alle, Feminismus, Umweltschutz, Trennung zwischen Staat und Religion. Wer vertritt sie?

Ein großer Teil der Öffentlichkeit stellt nun diese Frage. Viele sind sich darin einig, dass „etwas getan werden muß“. Aber anscheinend weiß keiner genau wie.

Einige schauen nach einem Kochbuchrezept, wo es klipp und klar heißt: Man nehme 7 respektierte Professoren, 3 Menschenrechtsanwälte, 2 Friedensaktivisten (nicht zu radikal), einen Popstar, bestreue sie vorsichtig mit Slogans (nicht zu extrem), rühr tüchtig um und dann serviere lauwarm…“

Nein, so wird es nicht gehen.

Die Schaffung einer neuen Partei – einer Partei, die die politische Szene verändern kann, die ernsthaft um die Macht kämpft und eine lange Zeit funktioniert – ist keine Kochübung.

Solch eine Partei muß all diese Werte verkörpern als ein integrales Ganzes. Eine Partei, die nicht die Fortsetzung eines politischen Wracks ist noch an überholten Gedankenmustern und Slogans der PR- Genies klebt. Eine Partei, die einen vollkommen neuen Plan umreißt. Eine Partei, die nicht einen Flicken auf den andern setzt und keinen Reparaturjob hier und dort vorschlägt, sondern ein neues Modell eines Staates Israel vorschlägt, einen kompletten Plan für eine zweite israelische Republik.

Der Führer für solch eine Partei wird nicht auf dem politischen Schrottplatz gefunden. Ein wirklicher Führer kommt mit eigener Macht hoch wie Barack Obama, eine junge Person mit einer neuen Botschaft.

So lange wie kein solcher Führer erscheint, muß die Initiative von unten kommen. Bei allen Demonstrationen sehe ich junge Idealisten, die mich mit ihrer Ernsthaftigkeit und ihrem Mut beeindrucken, Friedensaktivisten, Menschenrechtsaktivisten, Umweltaktivisten.

Aus ihren Reihen müßte die neue Initiative kommen, die uns alle um sich sammelt.

Natur verabscheut ein Vakuum. Früher oder später wird das schwarze Loch gefüllt. Wenn wir es nicht selbst tun, wird es von einem vielfüßigen Monster gefüllt werden.

Aus dem Englischen von Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert, von der Redaktion leicht gekürzt