13. Jahrgang | Nummer 9 | 10. Mai 2010

Diplomatisches Mikadospiel

von Otfried Nassauer

Oft ist es Diplomatie, wenn mit vielen wohlklingenden Worten wenig Substantielles gesagt wird. Oft sind es Politiker, die mit langen verschwurbelten Satzungetümen wenig Konkretes sagen. Bei Großereignissen – wie dem Treffen der NATO-Außenminister der NATO am 22/23. April in Tallin – bieten Arbeitsessen die Möglichkeit, Klartext zu reden oder die eigene Fähigkeit als diplomatischer Politiker und politische Diplomatin unter Beweis zu stellen. Der unschätzbare Vorteil der Diskussion während der Nahrungsaufnahme: Es wird kein Protokoll geführt.

In Tallin war es Hillary Clinton, die Außenministerin der USA, die ihre Befähigung als Diplomatin und Politikerin unter Beweis stellte. Überliefert ist das, weil es kein Protokoll, wohl aber einen Sprechzettel gibt. Dem ist zu entnehmen, daß Frau Clinton unter anderem sagte: „Wir sollten anerkennen, daß die NATO eine nukleare Allianz bleibt so lange Nuklearwaffen existieren.“ Das ist Klartext. Und weiter: „Bei allen künftigen Reduzierungen [im nuklearen Bereich] sollte es unser Ziel sein, Rußlands Zustimmung zu einer größeren Transparenz bei nichtstrategischen Nuklearwaffen, eine Redislozierung dieser Waffen weg von den Grenzen der NATO-Staaten und zur Einbeziehung nicht-strategischer Nuklearwaffen in die nächste Runde amerikanisch-russischer Rüstungskontrolldiskussionen zu erreichen, zusammen mit den nicht-stationierten strategischen Nuklearwaffen.“ Das ist die hohe Kunst des Verschwurbelns – Diplomatie. Um einen solchen Satz vortragen zu können, ist ein Sprechzettel vonnöten. Vor allem beim Abendessen. Man könnte sich an ihm verschlucken.

Doch was hat Frau Clinton denn nun gemeint? Beginnen wir von vorne: Vor Verhandlungen über Rüstungskontrollabkommen steht in der Regel eine Einigung, worüber verhandelt werden soll. Diese zieht sich meist länger hin als die Verhandlungen selbst. Besonders dann, wenn die Hürden so hoch gelegt werden wie von Hillary Clinton. Rußland nennt seit Jahren nur eine Vorbedingung für Gespräche über taktische Atomwaffen: Alle Waffen müssen auf dem Territorium des Staates liegen, dem sie gehören. Frau Clinton hat jetzt vier Bedingungen aufgestellt. Drei gelten Moskau: Vor Gesprächen soll Rußland Transparenz schaffen, sagen wie viele taktische Nuklearwaffen es besitzt und wo diese liegen. Es soll bewegt werden, die Waffen, die im Westen Russland stationiert sind, möglichst weit ins Innere Rußlands zurückzuziehen und es soll außerdem Gesprächen über nicht-stationierte strategische Nuklearwaffen zustimmen. Stattliche Vorbedingungen, zumal mit ihnen auch Neuland betreten würde: Verhandlungen über nicht-stationierte strategische Nuklearwaffen gab es bislang nicht. Oder sind das gar keine Vorbedingungen, sondern erwünschte Gesprächsergebnisse?

Auch ein Blick in den Nuclear Posture Review (NPR), jenen Bericht, mit dem Obama-Administration Kongress und Öffentlichkeit eine Blaupause ihrer künftigen Nuklearpolitik vorgelegt hat, bringt keine Lösung. Clintons Punkte finden sich im NPR, unklar aber bleibt, ob es sich um Vorbedingungen oder Ergebniswünsche handelt. Im NPR ist eine Modernisierung der nuklearfähigen taktischen Jagdbomber der USA (F-16 und F-15E) durch eine neue Version des Joint Strike Fighters vorgesehen. Und eine Runderneuerung der Nuklearbombenfamilie B-61, also auch der in Europa lagernden Modelle B-61-3 und –4. Ein neues Modell, die B-61-12, soll sie ab 2018 ablösen. Fast zwei Milliarden US-Dollar sind für 2011-2015 in die Planung eingestellt. Die als Lebensdauerverlängerung bezeichnete Maßnahme ermöglicht eine Modernisierung der meisten nicht-nuklearen Komponenten dieser Bomben und – nach gesonderter Autorisierung durch den Präsidenten – auch eine Überarbeitung der nuklearen, also ein praktisch neue Waffe. Unterschiede zu den Plänen für eine neue Generation nuklearer Waffen, die Verteidigungsminister Gates und der Chef der zuständigen NNSA, D’Agostino unter George W. Bush verfolgten, sind kaum auszumachen. Barack Obamas Vorgabe, keine neuen Nuklearwaffen, keine Nuklearwaffen mit neuen Fähigkeiten und keine Atomwaffen für neue Aufgaben zu entwickeln, steht damit auf dem Prüfstand der innenpolitischen Auseinandersetzung mit Militär, nuklearindustriellem Komplex und republikanischer Opposition.

Mit dieser Entscheidung werde sichergestellt, daß „die USA die Fähigkeit beibehalten, Nuklearwaffen in Erfüllung ihrer Bündnisverpflichtungen vorgeschoben zu stationieren“, hält der NPR fest. Das nehme „die Ergebnisse künftiger Entscheidungen in der NATO über die Notwendigkeit der nuklearen Abschreckung und der nuklearen Teilhabe nicht vorweg“, sondern halte „alle Optionen offen“. Änderungen sollen nach Diskussion in und „auf Entscheidung der Allianz“ erfolgen. Das erfordert Einstimmigkeit und gibt jedem NATO-Mitglied die Möglichkeit, einen Abzug der Nuklearwaffen aus Europa durch sein Veto zu verhindern. Die Modernisierung der Trägerflugzeuge und nuklearen Bomben erfolge „unabhängig“ davon, wie die NATO sich entscheidet.

Eine vierte Bedingung Clintons gilt der NATO und stammt aus dem Ballistic Missile Defense Review, einem weiteren Planungspapier aus dem Pentagon. „Die Rolle der US-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen kann durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr und anderer Fähigkeiten reduziert werden“, heißt es dort. Auch das eine hohe Hürde, wenn es zur Vorbedingung für Gespräche über die substrategischen Nuklearwaffen in Europa gemacht werden sollte.

Man könnte meinen, es sei angerichtet: Hillary Clinton habe deutlich gemacht, daß präjudiziert ist, was vorgeblich nicht präjudiziert werden soll: Nuklear bleibt in der NATO alles beim Alten. Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn es gibt auch eine andere Lesart: Da es unter den europäischen NATO-Staaten keinen Konsens über die Zukunft der in Europa gelagerten Atombomben gibt, will Washington nicht unilateral a la George W. Bush entscheiden. Die NATO-Staaten sollen sehen, das Washington es wieder ernst meint mit dem Multilateralismus. Und sie sollen die Last der Entscheidung mit tragen. Denn für die USA gibt es mehrere Optionen: Erstens: Alles bleibt beim Alten, und die Waffen bleiben in Europa, werden aber modernisiert. Zweitens: Washington modernisiert sie, lagert sie aber künftig in den USA, um sie im Bedarfsfall nach Europa zu bringen. Oder sie werden drittens durch erfolgreiche Gespräche mit Rußland noch rechtzeitig überflüssig. Bis die NATO zum Konsens findet, wird der Ball zur Entlastung der Allianz in die Moskauer Hälfte gespielt. Auch so kann man es lesen.

Möglicherweise gibt es aber auch eine dritte Erklärung für die mangelnde Klarheit: Vor dem Streitkräfteausschuss des Senates bemerkte Kevin Chilton, Kommandeur des Strategischen Kommandos der US-Streitkräfte kürzlich: „Trotz des komplexen Umfelds [der aktuellen Abschreckungsdebatte] haben wir eine ganze Generation künftiger politischer Entscheidungsträger, Strategen, Akademiker und professioneller Militärs in Sachen Ausbildung und Training auf dem Gebiet der Abschreckung ausgelassen. Die Vorarbeiten am NPR und für den neuen START-Vertrag haben dieses Fehl an menschlichem Kapital offengelegt.“ Nicht zuende Gedachtes kann auch zu überkomplexen Positionen und diplomatischen Mikadospielen führen, bei denen verloren hat, wer sich zuerst bewegt.

Guido Westerwelle, unser Außenminister mit Abzugswunsch für die Atomwaffen in Europa, hat möglicherweise vor dieser Komplexität kapituliert. Er sagte in Tallin: „Niemand hat je die Devise ausgegeben, daß dies in wenigen Jahren erreichbar wäre. Keiner ist naiv.“ Vielleicht war das aber auch das Eingeständnis, sich zu früh bewegt zu haben.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de)