von Heribert Prantl
In der Debatte über Hartz IV wird so getan, als könne man sich den Sozialstaat nicht mehr leisten. Das ist ein gefährliches Gerede. Das Gegenteil ist richtig. Diese Gesellschaft kann es sich nicht leisten, sich den Sozialstaat nicht zu leisten. Er garantiert den inneren Frieden.
Die Geschichte von 60 Jahren Bundesrepublik lehrt: Nicht die Polizei und nicht die Justiz waren jahrzehntelang Garanten des inneren Friedens; nicht Strafrechtsparagraphen und Sicherheitspakete haben für innere Sicherheit gesorgt. Der Sozialstaat war das Fundament der Prosperität, die Geschäftsgrundlage für gute Geschäfte; er verband politische Moral und ökonomischen Erfolg. Ein Sozialstaat ist ein Staat, der gesellschaftliche Risiken für die der Einzelne nicht verantwortlich ist, nicht bei diesem ablädt.
Der Sozialstaat verteilt, weil es nicht immer Manna regnet, auch Belastungen – das heißt, auch er muß sparen, wenn die Mittel knapp werden. Aber dabei gilt, daß der, der schon belastet ist, nicht auch noch das Gros der Belastungen tragen muß. Ein Sozialstaat gibt also nicht dem, der schon hat, und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Der Sozialstaat sagt nicht: Für dich die Schneeschaufel, und für mich die Millionenspenden.
Eine moderne Sozialpolitik sorgt dafür, dass der Mensch Bürger sein kann. Sie gibt ihm Grundsicherung und Grundsicherheit. Seine Freiheitsrechte, seine politischen Rechte brauchen ein Fundament, auf dem sie sich entfalten können. Eine Demokratie, die auf Sozialpolitik keinen Wert mehr legt, gibt sich auf.
In der Präambel der schweizerischen Verfassung aus dem Jahr 1999 steht ein wunderbarer Satz: „Die Stärke eines Volkes mißt sich am Wohl der Schwachen.“ Das ist nicht nur ein wunderbarer, sondern auch ein mutiger Satz, weil diese Stärke gern an ganz anderen Faktoren bemessen wird. Die einen messen die Stärke am Bruttosozialprodukt und am Exportüberschuß, die anderen reden dann vom starken Staat, wenn sie mehr Polizei, mehr Strafrecht und mehr Gefängnis fordern. Zu wenige reden von der Stärke des Staates, wenn es darum geht, menschenwürdige Mindestlöhne durchzusetzen. Zu wenige reden vom starken Staat, wenn es darum geht, soziale Ungleichheit zu beheben, etwas gegen die Langzeitarbeitslosigkeit zu tun und die Sozial- und die Bildungspolitik miteinander zu verknüpfen.
Ein starker Staat ist der Staat, der Heimat ist auch für die, die nicht mit dem silbernen Löffel auf die Welt gekommen sind, der Heimat ist für die, denen es dreckig geht, weil sie arbeitslos sind. Ein solcher Staat heißt Sozialstaat. Er sorgt dafür, daß Deutschland Heimat bleibt für alle Altbürger und Heimat wird für alle Neubürger. Das nennt man Integration, und das ist das Gegenteil von Ausgrenzung. Integration ist all das, was Heimat schafft. Die Zusammenfassung all dessen nennt man Sozialstaat.
Die Stärke eines Volkes mißt sich am Wohl der Schwachen. Das große, das bedeutende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV war die Langfassung dieses kurzen wunderbaren Satzes. Das Gericht hat dem Sozialstaat eine packende Aufgabe zugeschrieben: Er muß Schicksalskorrektor sein für die Armen und die relativ Armen dieser Gesellschaft, für die Kinder zumal.
Das Gericht hat zu diesem Zweck ein neues Grundrecht formuliert: Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Es begründet eine Grundpflicht des Staates, dieses Minimum zu garantieren und zu konkretisieren. Es ist ein Grundrecht für die Armen. Die Bedeutung dieses Urteils kann man gar nicht überschätzen.
Die von Guido Westerwelle ausgelöste wilde Diskussion hat das nicht erfaßt oder nicht erfassen wollen. Vielleicht war das Absicht. Vielleicht sollte diese Diskussion dieses Grundrecht für die Armen einfach verschütten. Selten ist ein Urteil des höchsten Gerichts so mißachtet worden, so umgedreht und so mißbraucht worden wie dieses Urteil in der durch Westerwelle ausgelösten Debatte.
Er hat Hartz-IV-Empfänger rundweg als Faulpelze beschimpft, die nach „anstrengungslosem Wohlstand“ trachten. Wie bitte – Wohlstand? Den Beschimpften fehlen nicht nur Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung, es fehlt ihnen die Kraft, sich zu wehren und sich zu organisieren, auch gegen solche politische und publizistische Verunglimpfung. Sicher: Es gibt Hartzer, die es sich in sozialer Verwahrlosung irgendwie eingerichtet haben und den Staat als Zapfanlage betrachten. Die schlechteste Reaktion darauf ist es, wenn der Unmut darüber sich auf alle Hartz-IV-Empfänger ergießt.
Ein kleine Geschichte: In Bern lebte, es ist schon ein paar Jahrzehnte her, eine fromme Dame, Madame de Meuron. Sie wurde die „letzte Patrizierin“ von Bern genannt. Als sie eines Morgens in die Kirche ging, hatte sich da auf ihren Stuhl ein Bauer verirrt. Sie wies ihn mit scharfen Worten zurecht: „Mein Herr, im Himmel sind wir dann alle gleich, aber hier unten muß Ordnung herrschen.“
Die Ordnung, die sich der Sozialstaat vorstellt, ist das nicht. Der Sozialstaat erschöpft sich nicht nur in der Fürsorge für die Benachteiligten, er zielt auch auf den Abbau der strukturellen Ursachen für die Benachteiligungen. Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit – das sind die Schlüsselwörter des Sozialstaats; sie sperren Türen auf.
Die Armut in Deutschland ist eine andere als die im 19. Jahrhundert; es gibt keine arme Klasse mehr, die sich kämpferisch zusammenschließen könnte. Den Armen von heute fehlt das Sprachrohr, das einst für die Arbeiterklasse die Gewerkschaft war; ihnen fehlen der Stolz, das Selbstbewusstsein, das Zusammengehörigkeitsgefühl; jeder ist für sich allein – relativ arm dran.
Armut hat heute so viele Gesichter: da ist der arbeitslose Akademiker; da ist der Gelegenheitsarbeiter und der wegrationalisierte Facharbeiter; da ist die alleinerziehende Mutter, die den Sprung ins Berufsleben nicht mehr schafft; da ist die Supermarkt-Kassiererin auf Stundenbasis; da sind die Langzeitarbeitslosen; da sind die schon immer Zukurzgekommenen am Rand der Gesellschaft; da sind die Einwandererkinder, die nicht aus dem Ghetto herauskommen. Für sie alle hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil geschrieben.
Es ist der Beitrag des höchsten deutschen Gerichts zum Auftakt des „Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung“. Dieses EU-Jahr 2010 läuft hierzulande unter dem Motto: „Mit neuem Mut“. Die politische Diskussion nach dem Hartz-IV-Urteil hat das anscheinend in den falschen Hals bekommen. Auch der Mut der Bundesregierung besteht vor allem darin, Auswege zu suchen, um die Karlsruher Entscheidung zu konterkarieren und die Grundsicherung so kleinzurechnen, daß man den Wohlhabenden Steuergeschenke machen kann.
Den Sozialstaat neu erfinden? Angesichts der Tonlage, in der das gesagt wird, kann man das als Drohung verstehen. Die letzte „Neuerfindung“ des Sozialstaats durch Bundeskanzler Gerhard Schröder hat weder zum Besseren und Gerechteren, noch zu Kostenersparnissen geführt, sondern zu mehr Armut und viel Verdruß. Der Sozialstaat muß nicht neu erfunden, er mußordentlich gestaltet, berechnet und gut gepflegt werden.
Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen. Die Bürger in einer Demokratie brauchen Ausbildung und Auskommen, sie brauchen eine leidlich gesicherte Existenz. Das Leben wird weiterhin ungerecht beginnen und es wird ungerecht enden. Daß es dazwischen einigermaßen gerecht zugeht, daß also jeder seine Chance hat – dafür gibt es den Sozialstaat.
Erstveröffentlichung in der „Süddeutschen Zeitung“
Schlagwörter: Armut, Bundesverfassungsgericht, Guido Westerwelle, Hartz IV, Heribert Prantl, Sozialstaat