von Wolfram Adolphi
»Die Kulturrevolution, die ging mich nichts an«, gibt der Bauernsohn Zhang Wen zu Protokoll. »Ich war für sie keine Zielscheibe. Ich war nur ein ganz einfacher Arbeiter, außerdem war ich bei der Befreiungsarmee gewesen. Ich musste immer die Anklageschriften verlesen.« »Ich glaube, daß ich Kommunist geworden bin«, sagt der Sohn eines Großgrundbesitzers Huangfu Shuyu, »weil mich die Idee der Freiheit so fasziniert hat. In der feudalen Gesellschaft konnte man sich seine Frau nicht aussuchen.« »Leute wie wir«, erklärt die Hausfrau Zhang Lingru, »interessierten sich ja nicht für die großen Ereignisse in unserem Land. Wir waren vollauf mit unserer Arbeit beschäftigt und mußten uns auf unser eigenes Leben konzentrieren.« »Die Roten Garden«, erinnert sich die Angestellte Chen Yufen, »waren überall. Ich sperrte in dieser Zeit einfach meine Kinder zuhause ein. Ich denke, so habe ich sie vor dem Schlimmsten bewahrt.«
Die diese Antworten erfragt und aufgeschrieben hat, heißt Susanne Messmer, ist vom Jahrgang 1971 und, wie es im Vorblatt ihrer Chinageschichten heißt, »als Agentin für den asiatisch-europäischen Kulturaustausch unterwegs«. Ihr Büchlein, erschienen im Verbrecher Verlag, kommt bescheiden daher, in handlicher, kleinformatiger Broschur – und ist ein großer Wurf. Zwölf betagte Frauen und Männer aus Peking hat die Autorin – meist erst nach mehrmaligen Anläufen – zu einem Erzählen gebracht, wie es Ausländern gegenüber in China – zumal bei diesen Jahrgängen – ganz gewiß noch immer eine große Seltenheit ist.
Bevor sie ans Befragen der anderen ging, hat sie sich selbst befragt und klargemacht, daß es ihr nicht um »sensationelle Leidgeschichten aus der Kulturrevolution« oder »dezidierte Einschätzungen politischer Schachzüge von Mao Zedong« gehen würde, denn »darüber gab es auch im Westen schon ganze Regale voller Bücher«. Ganz ausdrücklich wollte sie ganz Anderes: »wissen, warum diese Leute, die heute um die achtzig Jahre alt sind, so lebendig wirken – und warum sie gar nicht dem westlichen Klischee der konformen Gesellschaft China entsprechen«.
Die zwölf Texte geben in beeindruckender Unverstelltheit Antwort auf diese Frage. Sie sind Zeugnisse des Geworfenseins und der Kunst, sich in diesem Geworfensein zu behaupten; sind Protokolle der ganz selbstverständlich als lebensnotwendig erkannten Anpassung und der Fähigkeit, den Kopf dennoch oben zu behalten. Das ist faszinierend, und es erzeugt verwandtschaftliche Nähe. Die wird noch größer, wenn man nur lange genug in die phantastischen ganzseitigen Porträtfotos schaut, mit denen die Beiträge eröffnet werden.
Eine Chronik wichtiger politischer Ereignisse und ein Glossar am Ende des Buches sind wichtige Verständnishilfen für alle, die mit der chinesischen Geschichte weniger vertraut sind. Es ist gut, daß diese Dinge am Schluß des Bändchens konzentriert sind und nicht durch Anmerkungen erledigt werden. So bleibt nicht nur der Redefluß ungestört, sondern es gewinnt auch das Verallgemeinerbare an Gewicht. »Die Japaner bombardierten Kunming oft. Wir mußten fast jeden Tag in die Vororte flüchten. Es war gefährlich.« Sie brennen sich ein, solche Sätze, und wenn sie dann auch noch Anregung sind, genauer nach Zeit und Ort zu fragen – um so besser. Geschichte von unten nach oben zu lernen hat einen Reiz, der sich in diesem Buch auf besonders berührende Weise entfaltet.
Und wenn der Schwerpunkt auch so eindeutig auf dem einfachen Erzählen liegt: Reflektionen gibt es natürlich immer wieder auch, und wenn der Pekingopern-Schauspieler Li Fuchun die »Kulturrevolution« mit den Worten resümiert: »Der Erste Vorsitzende ist damals völlig verrückt geworden, die ganze Regierung war verrückt, das chinesische Volk war verrückt«, dann ist er damit keineswegs ein nun seinerseits verrückter Simpel, sondern einer, der sehr wohl weiß, daß da eben nicht nur ein Diktator und dessen nächste Umgebung zu befragen sind.
Susanne Messmer, Chinageschichten, Verbrecher Verlag, Berlin 2009, 300 Seiten, 14,00 Euro
Schlagwörter: China, Mao Zedong, Susanne Messmer, Wolfram Adolphi