13. Jahrgang | Nummer 2 | 1. Februar 2010

Verweigerte Selbstwahrnehmung

von Jörn Schütrumpf

„Damals war es selbstverständlich, daß Künstler links waren.“ Die junge Kunsthistorikerin sagt das ganz ruhig, sie spricht vom Polen der dreißiger Jahre – sie redet über über Stern, Lewicki, Stawinski, Winnicki, Waniek, die Großen unter den Bildenden Künstlern, unter Piłsudski gejagt und geächtet. Wir sitzen in der Geburtsstadt Rosa Luxemburgs, in Zamosc, diskutieren über die verfemte Tochter der Stadt und – natürlich – über den Zustand der Linken. Alle am Tisch wissen: Heute ist es alles andere als selbstverständlich, daß Künstler ihre politische Gesinnung zu erkennen geben, geschweige denn sich engagieren, egal ob in Polen oder in Deutschland.

Zu gutgepflegten Ritualen der Linken überall auf der Welt gehört, Klage zu führen über die Unwilligkeit der Gesellschaft, der Linken zuzuhören. In diesem Punkt ist es völlig gleichgültig, wo auf der Farbskala links der Mitte sich die Klagenden einsortieren; die Rede geht immer gleich: Schuld seien die Medien, die Bildungseinrichtungen, die herrschenden Eliten. Die Gebetsmühle dreht sich nicht enden wollend. Sie ist längst, von der Linken ignoriert, zu deren heimlichem Symbol geworden …

Als ob zu Zeiten eines Bebels und einer Luxemburg sowie ihrer unmittelbaren Nachfolger die Medien geringer reaktionär, die Bildungseinrichtungen anspruchsvoller, die herrschenden Eliten weniger machtbewußt gewesen wären. Und trotzdem standen viele Künstler links, und es gab eine Bewegung unter den Arbeitenden. Sie hörten sie den Linken zu – und manchmal sogar auf sie.

Was nicht immer glücklich ausging. 1914 landete die europäische Arbeiterschaft unter der Führung der Sozialdemokratie ihrer Länder auf der Schlachtbank. 1921 ließen Lenin und Trotzki die „Vorhut der Arbeiterklasse“, so Lenin zuvor über die Kronstädter Arbeiter und Matrosen, im eigenen Blut ersäufen. Wenige Tage später schickte die Kommunistische Internationale mitteldeutsche Arbeiter in einen sinnlosen und opferreichen Aufstand. 1928 wurde die SPD an die Regierungsspitze gewählt und wußte damit nichts anderes anzufangen, als ihre Wähler zu verraten (Gerhard Schröder handelte nicht ohne Vorbild, wenngleich diese Zeichen der Geschichte nicht begreifend). Ab 1928 folgten immer mehr Arbeitslose und Arbeiter der KPD-Führung, die den Kampf gegen die Sozialdemokratie dem Kampf gegen die Nazis vorzog – bis in die Katastrophe des 30. Januar hinein.

Hinterher gab es in Deutschland für zwölf Jahre keine Arbeiterbewegung mehr, statt dessen aber einen neuen Weltkrieg. Als Nazideutschland 1939 Polen überfiel, brauchten sich Gestapo und SD – anders als in den Staaten, die anschließend überrannt wurden – nicht mit den Kommunisten beschäftigen. Deren Führung hatte Stalin ein Jahr zuvor – über dreitausend polnische Exilanten an der Zahl – hinmorden und deren Partei auflösen lassen. Als nach 1945 eine echte Mitbestimmung der Arbeiterschaft mit Händen zu greifen war, bremste die SPD-Führung Viktor Agartz und andere Linke aus – während im Osten die Stalinisten Sozialdemokraten einsperrten und im Westen Sozialdemokraten der neuerlichen Kommunistenverfolgung nicht nur heimlich Beifall zollten.

Wollen wir auch noch über die glorreiche Geschichte des »real existierenden Sozialismus« reden? 1953 die Arbeiter in Mitteldeutschland – dort wurde blutig gekämpft. 1956 Poznań, 1956 Budapest, 1970 die polnischen Hafenstädte, 1980 Solidarnosc, 1989 Massenflucht der Arbeiterschaft und friedliche Revolution – immer waren es Arbeiter, die den Verrat durch die sogenannte Linke nicht mehr ertrugen.

Und schon höre ich das Stimmengewirr: Das? Das waren die anderen, das waren nicht wir, mit der »wirklichen Linken« hat das alles nichts zu tun.

Solange diese Haltung fortexistiert, kann man nur wünschen, daß die Linke – von der linken Sozialdemokratie bis zu den Anarchisten – auch künftig unerhört bleibt. Entweder nehmen wir, egal wo wir in der Linken stehen, die Geschichte der Linken als Ganzes an, mit allen Irrsinnigkeiten und Verbrechen, misten den Augiasstall bis auf den Grund aus und überlegen dann in Demut, ob wir noch das Recht haben, der Gesellschaft Vorschläge zu machen – und zwar ohne alle Avantgardeanmaßungen und Oberlehrerhaftigkeiten. Oder die Linke stirbt aus, zu Recht.