von Jörn Schütrumpf
Mit der Krise ist es auch in den Mainstream-Medien wieder möglich geworden, über Marx und sein ökonomisches Hauptwerk, »Das Kapital«, zu reden. Das Anstößige rückt für den Moment in den Hintergrund, denn das zwanzig Jahre lang bis zur völligen Selbstverleugnung betriebene und vor Obszönität triefende Opfern auf dem Altar eines neoliberalen Monotheismus soll vergessen gemacht werden. Mit der vorsätzlich entfesselten Asozialität von gestern möchte eine der Haupttätergruppen dieser Religion, und zu nichts weniger zählen viele Journalisten, nicht mehr in Verbindung gebracht werden. Nach dem 8. Mai 1945 gab es in Deutschland plötzlich keine Täter mehr, in den Medien ohnehin nicht. Jetzt erleben wir die Neuauflage.
Marxens Blaue Bände haben viele dieser Journalisten, zumindest soweit sie die Fünfzig überschritten haben, in ihrer stürmischen Jugend ihr eigen genannt; im Moment gilt es als chic, dies zuzugeben. Auch der Richter, vor dem ich neulich mit dem Marx-Verlag stand, verriet, nachdem wir einen Vergleich ausgehandelt hatten, fröhlich, daß in seinem westdeutschen Heimatwohnsitz die Bände noch immer im Keller stünden.
An den Auflagen des Ersten Bandes des »Kapitals«läßt sich gut die Geschichte der westdeutschen Linken in den siebziger Jahren ablesen. Erschien die letzte Auflage vor der Studentenbewegung im Jahre 1966 mit bescheidenen 10 000 Exemplaren, betrug die nächste, im Jahre 1968 12 000 und war in Jahresfrist abgesetzt. Von da an erlebte dieses Buch bis 1976 Jahr für Jahr eine sich steigernde Auflage; 1974 waren 50 000. Von der über eine Million Exemplare zählenden Gesamtauflage, die seit 1947 von dietz berlin produziert wurde, entfallen 234 000 auf diese Jahre. Es war die große Zeit der Kräfte »links« der SPD, zuerst die des SDS, ab 1972 der maoistischen, trotzkistischen und stalinistischen K-Gruppen. Auf Marx beriefen sie sich alle; »Kapital«-Seminar waren entsprechend en voque. Jeder tat es, selbst die Jusos und die Gewerkschaftsjugend. Täglich setzten in Berlin, Hauptstadt der DDR hundert bis zweihundert junge Leute aus dem Westen ihren »Zwangsumtausch« in Marx um.
Und was ist dabei herausgekommen? Die meisten kapitulierten beim Studium schon beim Doppelcharakter der Arbeit; das letzte Kapitel, das Marx, um die deutsche Zensur nicht zu provozieren, ans Ende des Bandes gestellt hatte – er wollte seine Verbreitung nicht gefährden und ließ das Buch nicht mit einem Aufruf zur Revolution ausklingen –, wurde von kaum jemandem gelesen. Dabei handelt es sich bei diesem Kapitel in Inhalt und Form nicht nur um Weltliteratur, sondern hier schob Marx der wissenschaftlichen Begründung für die Unhaltbarkeit der modernen Gesellschaft die Beschreibung ihrer moralischen Bodenlosigkeit nach: Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation erzählt die Kriminalgeschichte der kapitalistischen Produktionsweise.
Marx blieb Fähnchen, war nicht Fahne. Dümmliches Herumgedröhne statt sachlicher Analyse, nicht einmal zu einer sachgerechten ethischen Argumentation langte es – die Marxisten kamen mal wieder ohne Marx aus.
1976/77 sanken im Osten die Verkaufszahlen des »Kapitals« drastisch, im Westen waren die meisten K-Gruppen zerfallen (Über die Sozialistischen Konferenzen des Jahres 1978 führte es einen Teil ihrer Aktivisten in die Grünen, die sich 1979180 bildeten; andere wurden Journalisten oder Richter.)
An diese Geschichte mag Mathias Greffrath gedacht haben, als er in einem vieldiskutierten Artikel jüngst dazu aufrief, sich nicht mit der »Kapital«-Lektüre abzugeben: »Der Kapitalismus endet nicht von selbst und durch keinen Automatismus – das ist die Lehre aus dem Kapital; er muß immer weiter wachsen, bis keine Welt mehr übrig ist und keine Wesen, die Ähnlichkeit mit unserem Menschenbild haben. Die Alternative ist seine politische Abschaffung, wenn wir nicht, so schreibt Marx, ›als arme Teufel enden wollen, denen keine Erlösung mehr hilft‹.
Daß es soweit kommen kann, hat Marx genial prognostiziert. Das Kapital war die theoretische Bibel all derer, die es nicht so weit kommen lassen wollten. Über das, was danach kommt, hat er nichts gesagt; und seine Hoffnung auf die Arbeiterklassen der entwickelten Nationen hat der Konsumismus längst zerrieben. Heute aber brauchen wir Marxens vorauseilende analytische Gedanken nicht mehr. Die Verhältnisse selbst belehren uns: die explosive Ungleichheit auf dem Planeten, die Erschöpfung von Wasser und Energie, die Milliarden – wertmäßig gesehen – überflüssiger Kreaturen.
Und deshalb wäre es fatal, wenn sich eine kommende Generation brillanter Intellektueller noch einmal und immer wieder dem jahrelangen Exerzitium der Marx-Lektüre unterzöge. Das ist intellektuell anregend, aber es wäre nicht nur wie ein Medizinstudium, das in der Anatomie steckenbleibt, sondern es wäre zukunftsvergessen. Und deshalb nichtsnutzig.
Die Marxisten, könnte man sagen, haben den Kapitalismus nur mit unterschiedlichem Erfolg kritisiert – jetzt kommt es darauf an –, die Wirtschaftsordnung, die auf ihn folgt, zu gestalten.« (Berliner Zeitung, 8. April 2009)
So brillant und zustimmungsfähig Greffraths Analyse, so kurzschlüssig ist seine Folgerung: Das »Kapital« bietet nicht nur Analyse, sondern es ist wie kein zweites ein Methodenbuch, ein Buch zum Erlernen des selbständigen Denkens und Analysierens, ein Buch zur Selbstermächtigung – gerade also zu dem, an dem es heute am meisten mangelt
Schlagwörter: Jörn Schütrumpf, Kapital, Marx