Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 10. November 2008, Heft 23

»Konterrevolution«

von Stefan Bollinger

Sie sagen, es sei Liberalismus. Wir sagen, es ist Konterrevolution.« Diese kurze Replik Breschnews macht den Grundkonflikt des östlichen 1968 aus. Sein Vorhalt ist Teil einer Philippika, die dem Prager Parteichef Alexander Dubcek in Cierna nad Tisou gehalten wurde. Die Ausführungen waren der geronnene Gehalt der Ver- und Aburteilung des Prager Frühlings. Die dortigen Reformkommunisten hatten das sowjetische Sozialismusmodell, die führende Rolle der Partei, die Diktatur des Proletariats, genauer der Politbürokratie verraten. Nicht Wirtschaftsreformen, auch nicht die überfällige Rehabilitierung der Opfer der stalinistischen Säuberungen waren für die Hardliner in Moskau, Warschau, Berlin oder Budapest problematisch. Das Infragestellen des Parteimonopols, die Absicht, künftig politisch statt administrativ-repressiv die Führungsrolle durchzusetzen, das Zulassen befreiter Presse und elektronischer Medien brachten die Verbündeten in Rage. In Cierna kapitulierte nach langem Druck die Reformführung – selbst immer wieder von den eigenen »mächtig(en) und unbeugsam(en)« Konservativen gedrängt und verraten. Dubcek spielte auf Zeit, wollte sich mit einem außerordentlichen KPC-Parteitag rückversichern. Deshalb hielt er das Diktat von Cierna nicht ein. Weder säuberte er die Führung, noch stellte er die Zensur wieder her oder verbot Oppositionsgruppen. Spätestens hier war für den Ostblock klar: Aus den zur Not akzeptierten Reform-Genossen waren Feinde geworden, die nur noch durch einen Putsch und/oder einen Einmarsch von ihren schädlichen Tun abzuhalten waren.
Dies in seiner ganzen Dramatik auf Deutsch nachlesen zu können, ist das Verdienst von Klaus Kukuk, damals DDR-Botschaftsmitarbeiter in Prag, der als Zeitzeuge und aktiver Heutiger an der Aufarbeitung des Jahres 1968 mitarbeitet. Gemeinsam mit Horst Schneider hat er diesen ebenso einseitigen wie entlarvenden Band zusammengestellt, der zeigt, wer wie damals agierte und argumentierte.
Nicht erst nach vierzig Jahren mutet es wie ein Horrorszenarium an, die einstigen Frontstellungen allein aus Moskauer Sicht präsentiert zu erhalten. Dubcek, nach Dresden wie nach Warschau vorgeladen – und erst in Warschau sich verweigernd –, wird von Schneider zur miesen Figur degradiert. »In seiner Eitelkeit sah er sich als eine Art Volkstribun, der Kommunist ließ sich gern von konservativen Blättern des Westens zum ›Mann des Jahres‹ küren. Er stand zunehmend der Entwicklung willensschwach und schwankend gegenüber wie weiland Don Quichotte, der Ritter von der traurigen Gestalt. Konstruktive, neue Ideen waren von ihm nicht zu vernehmen.« Die sowjetischen Vorhalte werden eins zu eins als berechtigt und notwendig herausgestellt, als ob das Moskauer System nicht 1989 schmählich zusammengebrochen wäre – 1991 schließlich auch im Kreml. Zwar wird Radovan Richtas Zivilisation am Scheideweg mit einem Auszug zustimmend zitiert, aber Kukuk und Schneider begreifen nicht, daß es für den Ostblock der Sozialismus war, der vor einer Entscheidung stand. Nicht »Ulbrichts Konzept des ›Neuen ökonomischen Systems‹ …, der einzige realistische Reformansatz in 75 Jahren Sozialismus sowjetischer Prägung«, konnte ausreichen, zumal es nach dem Kahlschlag-Plenum von 1965 bereits geistig kastriert war.
Der Realsozialismus stand vor allem in seiner demokratischen Fundierung vor einem Scheideweg, der nicht in der »halben« DDR-Reform, wohl aber in Prag – mit offenem Ausgang und großen Risiken – angegangen worden war. Kukuk und Schneider unterstellen den Prager Reformern, es hätte ihnen an Konzepten gefehlt, und behaupten, der neue Sozialismus sei nicht zu sehen gewesen. Panzer sind nun einmal schlechte Reformhelfer. Ihre Urteile fällen die Autoren so schnell wie damals die »Verbündeten«, denn, in eine Frage gekleidet, folgern sie, daß die Reformer »gar nicht vor(hatten), den Sozialismus zu verbessern, ihn zu reformieren«.
Daß die Gründe der Reformer handfest waren, die sie neben den wirtschaftlichen Problemen zum Handeln drängten, liest man bei Kukuk und Schneider selbstredend nicht. Dazu muß man einen Sammelband von Pavel Zácek, Bernd Faulenbach und Ulrich Mählert heranziehen. Der ist zwar spiegelverkehrt einseitig und verspricht unter dem Titel Die Tschechoslowakei 1945/48 bis 1989. Studien zu kommunistischer Herrschaft und Repression eine breite Darstellung, rückt aber allein die Repressionsgeschichte der vierzig Jahre Volks-, besser Parteimacht in der CSR/CSSR in den Mittelpunkt – eines Landes, das lange demokratische Traditionen und eine starke kommunistische Linke hatte, in dem die Kommunisten 1946 freie Wahlen gewonnen hatten und das ab 1948 in eine politische Eiszeit gefallen war. Hier ist nachzulesen, wie gesäubert, repressiert wurde; aber auch die Nutzung von untergetauchten Nazis für die Geheimdienstarbeit gegen die Bundesrepublik wird behandelt. Belegt wird die Deportation von CSR-Bürgern in die Sowjetunion nach 1945, und die Mechanismen der politischen Verfolgung werden deutlich – obschon die Opfer der innerparteilichen Säuberungen bewußt ausgeklammert werden.
Nichtsdestoweniger bleibt es dabei: Einseitigkeiten, der Verzicht auf die Einbindung in die Systemauseinandersetzung sind genauso ahistorisch wie eine fehlende kritische Sicht auf einen Sozialismus, dem zum Schluß die Menschen wegliefen, weil sie nicht mehr um die Macht kämpfen mochten. So kann keine zukunftsträchtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfolgen. Wer hier vermeintlich von links alte Kamellen aufwärmt und das Feuer des Klassenkampfes in primitiver Form schürt, diskreditiert jeden künftigen Sozialismusversuch und sorgt für sein erneutes Scheitern.
Der Einmarsch 1968 war ein Irrtum, ein Fehler, ein Verbrechen. Er war ein Irrtum, weil weder die Beweggründe noch die Reichweite noch die Absichten der Prager Kommunisten begriffen wurden. Er war ein Fehler, weil billigend in Kauf genommen wurde, daß auf Dauer ein Volk und seine Bürger gegen den Sozialismus eingestellt blieben und schließlich nicht die Reformierung, sondern die Beseitigung dieses Systems als Perspektive sahen. Ein Fehler auch, weil an dieser Auseinandersetzung mittelfristig die kommunistischen Parteien des Westens zerbrachen, auch ihr eurokommunistisches Absetzen von Moskau half nicht. Vor allem war es ein Verbrechen gegenüber dem tschechoslowakischen Volk und der sozialistischen Sache, weil auf Dauer die Selbsterneuerung verhindert wurde. 1968 zermalmten Panzerketten die Zukunft, die 1989 endgültig verloren ging.
Der verschleppte Dubcek warnte Breschnew zu Recht: »Als Kommunist, der eine große Verantwortung für die weiteren Ereignisse trägt, bin ich überzeugt, daß nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern auch in Europa, in der ganzen kommunistischen Bewegung dieser Akt dazu führt, daß wir eine riesige Niederlage in Gestalt einer Spaltung und umfangreichen Desorientierung in den Reihen der kommunistischen Parteien in den anderen Ländern, in den Ländern der kapitalistischen Staaten erleiden werden … ich würde nicht richtig handeln, wenn ich nicht euch, Genossen, die Wahrheit sagen würde, daß ich das, wozu es durch die Entsendung der Truppen gekommen ist, für einen riesigen politischen Fehler halte, der tragische Folgen hat.«

Klaus Kukuk: Prag 68. Unbekannte Dokumente. Mit einem Vorwort von Horst Schneider. edition ost Berlin 2008, 14,90 Euro; Pavel Zácek, Bernd Faulenbach, Ulrich Mählert (Hg.): Die Tschechoslowakei 1945/48 bis 1989. Studien zu kommunistischer Herrschaft und Repression. Herausgegeben im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin, und dem Institut für das Studium der totalitären Regime, Prag, Leipziger Universitätsverlag 2008, 29 Euro