27. Jahrgang | Nummer 20 | 23. September 2024

Münsterlandpartie

von Alfons Markuske

Ausgangs- und Endpunkt unserer diesjährigen Radrundfahrt ist Münster in Westfalen. An dem spätsommerlichen Samstagnachmittag, als wir am Ort eintreffen, herrscht in der Altstadt zwischen Dom, Sankt Lamberti und historischem Rathaus ein quirliges Treiben und Gewimmel.

Um das Jahr 805 wurde an der heute zentralen Stelle, wo sich seit dem 13. Jahrhundert der katholische Sankt Paulus-Dom erhebt, eine erste, dem Apostel Paulus gewidmete Kirche errichtet. Geweiht wurde der heutige Dom am 30. September 1264. In jenen Jahren dominierte architektonisch die Spätromanik. Infolgedessen hat der Dom die Höhe und filigrane Eleganz späterer gotischer Kathedralen zwar nicht aufzuweisen, ist aber mit seinen knapp 110 Metern Länge, fast 45 Metern Breite und den beiden 55 Meter hohen Türmen ausreichend monumental, um zu beeindrucken.

Im Eingangsbereich erwartet uns Eintretende ein weit überlebensgroßer steinerner Christophorus mit dem Jesus-Knaben auf seiner rechten Schulter. Wir wenden uns nach rechts und durchqueren das Mittelschiff in Richtung Apsis. Dort stoßen wir, im Halbrund des Chorumganges hinter dem Hauptaltar auf bronzene, sehr detailreiche Darstellungen der Stationen von Jesus‘ Passion – Ende der 1990er Jahre geschaffen von Bert Gerresheim –, die etwas Kunstlicht verdienten. So ist leider im herrschenden Halb-bis Dreivierteldunkel wenig zu erkennen.

Genau mittig hinter dem Hautaltar blicken wir dem Bronzekopf von Clemens August Graf zu Galen – das Geschlecht war seit Jahrhunderten im Münsterland ansässig – ins strenge Antlitz. Der wurde 1933 Bischof von Münster und hat sich in den Folgejahren auch öffentlich gegen die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ gewandt, den Massemord an geistig und körperlich Behinderten, den das Hitler-Regime unter der Chiffre Euthanasie beging. Von Galen war so einer der ganz wenigen katholischen Würden- und Amtsträger in Deutschland, die zumindest gegen einzelne der Großverbrechen des Faschismus Stellung bezogen. Er starb 1946, kurz nach seiner Ernennung zum Kardinal, und fand seine Grabstätte im Dom.

Nur wenige Schritte von der Galen-Büste entfernt befindet sich ein technisches Wunderwerk – die um 1542 in Betrieb genommene Astronomische Uhr, deren Kalender kirchlicher Feiertage noch bis ins Jahr 2071 reicht. In acht Metern Höhe sitzt seit 450 Jahren das Christuskind auf dem Schoß seiner Mutter. Täglich um 12:00 Uhr mittags treten die Heiligen drei Könige hinzu und verneigen sich vor Maria und Sohn. Jahrhundertelang wurde die Zeremonie von einem Glockenspiel begleitet. Derzeit informiert ein lapidarer Zettel am Fuß der Uhr: „… ist abgestellt.“

Im Kreuzgang des Domes – eine lebensgroße Bettlerfigur auf primitiven Krücken. Der unverwechselbare Stil Ernst Barlachs und das dunkle Holz der Skulptur strahlen eine ruhige Würde aus.

Der Innenhof des Kreuzganges beherbergt den Gottesacker der Domherren – auf einer Grünfläche dutzende steinerne Grabplatten, jeweils geschmückt mit lebendigen Einsprengseln rot- und gelbblühender Blumen. Der Rasen dazwischen entspricht Golfplatzstandard, wofür offenbar ein dezent geparkter Rasenroboter zuständig ist. Eine hübsche Kombination aus Tradition und Moderne.

Nach Verlassen des Domes wenden wir uns nach rechts und erreichen nach wenigen Fußminuten das nächste wuchtige Gotteshaus, die Liebfrauen- oder Überwasserkirche. Deren Turm überragt mit 67 Metern diejenigen des Domes locker. Der zweitgenannte Name leitet sich davon ab, dass der Weg vom Dom zur Kirche übers Wasser – über die Aa, die sich hier durchs Stadtbild windet – führt.

Die Aa ist ein nur rund 50 Kilometer langer Nebenfluss der Ems, bildet aber immerhin am Rande Münsters den Aasee, dessen Umrundung per pedes viereinhalb Stunden in Anspruch nimmt. Genügend Wasserfläche also, selbst für eine Marina mit zahlreichen Segelbooten, und sie erinnert zugleich daran, dass Münster einst mit Binnenhafen und als Mitglied der Hanse Reichtum durch Fernhandel erworben hatte.

Bei der Überwasserkirche sind die Ufer der Aa üppig begrünt. Ein romantischer Weg entlang des Wassers macht die nahe Großstadt – Münster hat immerhin 270.000 Einwohner – völlig vergessen, obwohl sich neben dem Weg die rückwärtigen Fassaden von Häusern erheben. Auf einem Sims unter einem geöffneten Fenster eine Messingglocke; daneben der Servicehinweis: „Für Bestellungen im Café“, die offensichtlich übers Fensterbrett abgewickelt werden.

Schlendernd erreichen wir die imposante Sankt Lamberti-Kirche, ebenfalls katholisch. Die hatte sich bereits im 14. Jahrhundert zusammen mit dem Rathaus – letzteres vis-à-vis dem Dom und somit in dessen Sichtweite – das mit dem Aufstreben Münsters als Handelsstadt erstarkende und zunehmend aufmüpfigere Bürgertum errichtet, um politische und rechtliche Eigenständigkeit gegenüber dem fürstbischöflichen Landesherrn zu demonstrieren. Dieses „Modell“ war also keine Erfindung des späteren barocken Dresdner Bürgertums, das die berühmte Frauenkirche mit vergleichbaren Intentionen und ebenfalls in Sichtweite der Macht hochziehen ließ.

In Münster begünstigten die Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums Anfang des 16. Jahrhunderts die Ausbreitung der Reformation, deren Beginn auf Luthers Wittenberger Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 datiert wird. Bereits 1532, trotz landesherrlichen Widerstandes, wirkten in allen Pfarrkirchen Münsters reformatorische Prediger. Doch wie es in Zeiten historischer Umbrüche bisweilen so läuft – plötzlich wehte der Wind noch aus einer ganz anderen Richtung. Eine egalitäre christliche Sekte trat auf den Plan, die sogenannten Wiedertäufer, generierte mit ihren Ideen – unter anderem Abschaffung des Geldes und Einführung der Gütergemeinschaft – rasch Anhänger und übernahm mit der Ratswahl von 1534 die Macht in der Stadt. Aus der beabsichtigten Errichtung eines Gottesstaates, eines neuen Jerusalems, wurde allerdings nichts, denn es passierte, was man bis in die Gegenwart noch des Öfteren erleben sollte: Einer aus der Bewegung intrigierte oder putschte sich an die Spitze, ernannte sich zum König (später auch gern mal zum Kaiser oder noch später zum Generalsekretär) und errichtete ein Terrorregime. In Münster endete der Spuk mit katholischem Gegenterror: Der Landesherr ließ die Stadt belagern und aushungern. Die Erstürmung gelang schließlich durch Verrat, was die Bevölkerung mit einem Blutbad bezahlte. Drei gefangen genommene Anführer der Wiedertäufer wurden 1536 auf dem Prinzipalmarkt vor dem Rathaus mit glühenden Zangen zu Tode gemartert und ihre Kadaver anschließend in drei eisernen Käfigen zur Schau gestellt, die man in großer Höhe an den Turm von Sankt Lamberti hängte. Dort sind sie, also die Käfige, noch immer zu sehen. Makaber. Doch wenigstens lässt die katholische Kirche schon seit einiger Zeit keine Ketzer und Hexen mehr verbrennen.

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Exkurs: Was 100 Jahre später in Münster begann, war zwar noch nicht die KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), kann aber getrost als ein früher Vorgänger derselben gelten. Seit 1618 tobte in Europa, vornehmlich auf deutschem Boden der 30-jährige Krieg zwischen evangelischer Union und kaiserlich-katholischer Liga. Münster gehörte zu den Kaiserlichen, wurde aber 1543 für neutral erklärt und zum Tagungsort der katholischen Seite in beginnenden Friedensverhandlungen. Rund 200 Gesandte des Papstes, des Kaisers, der katholischen Reichsstände, Venedigs, Spaniens und der spanischen Generalstaaten nahmen Quartier in der Stadt. Die evangelische Seite campierte in Osnabrück. Die Verhandlungen – der Krieg tobte indessen weiter – zogen sich fünf Jahre lang hin. Erst im Mai 1648 wurde im Ratssaal von Münster der spanisch-niederländische Sonderfrieden geschlossen. Weitere Verträge folgten an gleicher Stelle und in Osnabrück; sie alle zusammen bildeten das Fundament des Westfälischen Friedens, durch den der Krieg beendet wurde. Der alte Ratssaal Münsters wird seither als Friedenssaal bezeichnet.

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Apropos Prinzipalmarkt: Der Platz vor dem historischen Rathaus heißt so, weil dort einst der Hauptmarkt – in Abgrenzung vom Korn- oder vom Fischmarkt andernorts im Stadtgebiet – abgehalten wurde, und gilt heute als gute Stube Münsters. Gesäumt von alten Fachwerkhäusern, aber auch von architektonisch angepassten Bauten aus der Zeit nach dem bis dato letzten Großkrieg, miteinander verbunden durch Arkaden.

Zahlreiche Restaurants und Cafés laden zu dieser Jahreszeit Gäste ein mit Tischen, Stühlen und Sonnenschirmen auf dem Trottoir. Freie Plätze sind an diesem Samstagnachmittag rar, doch vor dem Ratskeller haben wir Glück. Die Speisekarte bietet recht Bodenständiges. Der Autor wählt grobe Bratwurst mit Kartoffelpüree, Sauerkraut, gedünsteten Zwiebeln und Bratensoße. Kein ambitioniertes Gericht, dafür aber gewiss eines, bei dem ohne besondere Mühe alles schiefgehen kann. Man muss bloß Püree und Soße aus der Tüte anrühren sowie das Sauerkraut zu weich kochen und so matschig servieren, wie man es in Berlin zuweilen vorgesetzt bekommt. Wenn dann noch Bratwurst und Zwiebeln gehörig anbrennen, passt alles. Doch serviert wurde im Ratskeller zu Münster – ein Gedicht: das Püree offenbar durch Zugabe von Pastinaken veredelt; das Kraut halbtrocken, von milder Säure und mit gebratenen Würfelchen von magerem Speck versetzt; die Bratwurst 1a; die Zwiebeln al dente und von jener zurückhaltenden Süße, die dieses Gemüse anzunehmen pflegt, sobald es lediglich glasig gedünstet wird, und erst die Soße. Als hätte der Koch allein daran seinen ganzen Ehrgeiz gesetzt. Alles zusammen sättigend portioniert und für lediglich 16,00 Euro. Wer wollte da noch meckern …

Wird fortgesetzt.