27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Stippvisite in Naumburg und Freyburg

von Hans-Peter Götz

Erst im Jahre 2018 ist dem Naumburger Dom – nach 20 Jahren und mehreren vergeblichen Anläufen – von der UNESCO das Siegel als Weltkulturerbe zugesprochen worden.

Vor über 500 Jahren stand im gotischen Westchor des Domes ein monumentaler Marienaltar, den Lucas Cranach der Ältere von 1517 bis 1519 geschaffen hatte. Einige der heute weltbekannten Stifterfiguren – von denen die Öffentlichkeit noch bis in die 1930er Jahre gar keine rechte Kenntnis hatte – konnten hernach allerdings nur noch betrachtet werden, wenn man hinter das Retabel trat. Doch selbst dies nur an hohen kirchlichen Festtagen, denn die meiste Zeit über waren die Stifterfiguren damals verhüllt. Ob dies dem Sachverhalt geschuldet war, dass zwar christliche, doch gleichwohl weltliche Herrscher in einer Kirche eigentlich nicht an so demonstrativ exponierten Stellen, die üblicherweise Heiligen, Märtyrern und hohen Klerikern vorbehalten waren, ausgestellt gehörten?

Der Marienaltar stand nur 20 Jahre, dann wurde er Opfer eines der während der Reformation nicht eben seltenen Bilderstürme. Die große Mitteltafel und die Predella wurden zerstört. Der Altar wurde abgebaut. Die erhaltenen Seitentafeln fristeten seither ein Dornröschendasein im Dom.

Bis vor einigen Jahren die Idee aufkam, Michael Triegel (siehe Blättchen 24/2011), den Enkelschüler (Triegel über Triegel) des Jahrhundertmalers Werner Tübke (siehe Blättchen 16/2014), zu beauftragen, Mitteltafel und Predella des Marienaltars neu zu gestalten, um diesen, dergestalt komplettiert, wieder aufzustellen. Wer Triegels großartige altmeisterliche Malweise kannte, durfte gespannt sein. Und wurde nicht enttäuscht, als der Altar ab Juli 2022 am ursprünglichen Standort erneut zu sehen war.

Doch die allgemeine Freude währte nur kurze Zeit, denn bereits am 4. Dezember 2022 musste der Altar den Dom wieder verlassen.

Was war passiert? Erneut ein Bildersturm?

Man könnte den Vorgang fast so bezeichnen: Icomos, die Beratungsgesellschaft, die im Auftrag der UNESCO Welterbestätten und Anwärter begutachtet, hatte angedroht, dem Dom den Welterbestatus wegen „schwere[r] Beeinträchtigung“ wieder zu entziehen. Verwiesen wurde auf ein Gutachten, das insbesondere eine vom Retabel verursachte Störung der Sichtachsen auf die zwölf Stifterfiguren bemängelte. Dem Vernehmen nach wurde darüber hinaus in Zweifel gezogen, dass Cranachs Marienaltar je im Westchor gestanden habe.

Seither schwelt die Kontroverse, ohne dass eine abschließende Lösung absehbar wäre. Als vereinbartes Zwischenspiel ist der Altar jedoch seit dem 2. Dezember 2023 wieder im Westchor des Domes zu sehen. Indes ist die Zustimmung der UNESCO befristet bis Mitte 2025.

Wir wollten daher die Gelegenheit zur Inaugenscheinnahme des Retabels am originalen Ort nutzen, bevor diese von der UNESCO zu verantwortende Provinzposse wieder Fahrt aufnimmt und solches unter Umständen final verunmöglicht.

By the way – die in Brüssel ansässige internationale Organisation „Future for Religious Heritage“ kürte das Cranach-Triegel-Retabel zwischenzeitlich zum „Religious Heritage Innovator of the Year 2023“. Als „herausragende Leistung für das religiöse Erbe“.

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Nach Abfahrt von der Autobahn und wenige Kilometer vor Naumburg auf einem frisch abgeernteten Feld neben der B 180 nicht ein, nicht zwei, sondern ein knappes Dutzend Weißstörche beim Picknick. Dem Autor, der von 1975 bis 1980 in Naumburg gelebt hat, war Adebar als Mitbewohner im lieblichen Saale-Unstrut-Gebiet, das Einheimische schon mal und keineswegs gänzlich zu Unrecht die Toskana des Nordens nennen, gar nicht in Erinnerung …

Wie es der Zufall will, treffen wir kurz vor 14:00 Uhr am Dom ein und kommen so in den Hochgenuss einer kulturhistorisch außerordentlich sachkundigen Führung, wie sie täglich zu diesem Zeitpunkt (und um 10:00 Uhr am Vormittag) angeboten werden. Dabei erfahren wir, dass vor 1000 Jahren und auch später bei sakralen Großbauten immer zuerst der Ostchor als liturgisches Zentrum der künftigen Kirche errichtet wurde – dem göttlichen Licht (ex oriente lux) zugewandt, um dort bereits Gottesdienste feiern zu können, während das Baugeschehen weiter voranschritt. Im Fall des Naumburger Domes herrschte bei Baubeginn noch die Romanik, in der die Gebäudelast über die Außenmauern abgefangen wurde, was zu den für diesen Baustil typischen nur kleinen Fensteröffnungen mit ihren halbrunden Abschlussbögen führte. (Die heutigen gotischen Fenster des Ostchores wurden erst durch spätere Umbaumaßnahmen möglich.) Als das Hauptschiff gebaut wurde, vollzog sich bereits der Übergang zur Gotik. Jetzt wurde die Gebäudelast über gesondertes äußeres Stützmauerwerk abfangen; erst dadurch konnten Freiräume für große Fenster im Mauerwerk ausgespart werden, ohne die Statik eines solchen Bauwerkes zu gefährden. Was beim Aufmauern des Westchores schließlich in dessen fünf spitz zulaufende, farbenprächtige Fenster mit darüber angebrachten Rosetten mündete, die sich über gut drei Viertel der Chorhöhe erstrecken.

Zum Bau des Domes erfahren wir des Weiteren, dass wir den vierten, den (neugotischen) Südwestturm, des so imposanten Domensembles ausgerechnet dem deutschen Kaiserreich zu verdanken haben. Errichtet wurde dieser nämlich erst 1894. Jahrhundertelang musste sich der Dom zuvor mit zwei Türmen im romanischen und einem in gotischem Stil begnügen.

An dem einen längs des Ostlettners gelegenen Treppenaufgang zum Ostchor des Doms macht unsere Führerin auf den bronzenen, wundervoll filigranen Handlauf Heinrich Apels von 1983 – „Der schmale Pfad ins Paradies“ – aufmerksam. An dessen Anfang reitet ein geflügelter Miniaturteufel auf einer Schlange, die gerade ein nacktes, sich heftig wehrendes Menschlein verschlingen will. Das, wer weiß, kommt aber vielleicht nochmal davon, denn bekanntermaßen kann Beelzebub Nackten nichts anhaben … Auf der Schräge des Handlaufs versuchen ein Gelehrter, ein Kleriker und ein König, auf ihren Bäuchen rutschend, den Einlass zum Paradies zu erklimmen. Doch am Scheitelpunkt erwartet sie, den weiteren Weg blockierend, der Sündenbock. Hinter diesem rekeln sich, entspannt dahingestreckt, Adam und Eva, wie Gott sie erschaffen hat. Am Ende des Handlaufs jedoch vergnügt sich ein weiterer Teufel mit einem Frauenzimmer. Was uns das wohl prophezeien soll?

Ein zweiter, nicht minder kunstvoller Handlauf Apels am gegenüberliegenden Zugang zum Ostchor zeigt den heiligen Franz von Asisi, wie er den Vögeln predigt.

Beim Gang durch den Ostchor, konkret bei der Besichtigung des geschnitzten wuchtigen Chorgestühls erfahren wir endlich den Ursprung der heute noch gebräuchlichen Redewendung „Klappe halten!“. Weltliche Chorherren, nicht selten hochbetagt, mussten Gottesdiensten im Stehen beiwohnen. Die Sitzflächen der jeweiligen Chorstühle waren hochgeklappt, wiesen an der Unterseite jedoch einen seinerseits aufklappbaren Behelfssitz auf, der im Stehen nutzbar war, um ein Durchhalten der nicht selten sich in die Länge ziehenden Gottesdienste zu ermöglichen. Schlief der Besetzer jedoch ein, rauschte gegebenenfalls der gesamte Mechanismus samt Chorherrn in die tiefere Sitzlage – mit entsprechendem Getöse. „Klappe halten!“, wurde dem Einschläfer in solchem Falle zugezischelt.

Doch zurück zu ernsteren Sujets. Der Dom, so erläutert unsere Führerin, bietet anschauliche Beispiele dafür, wie sich die Darstellung des Gekreuzigten in der christlichen Ikonografie von der Romantik zur Gotik gewandelt hat. In der Krypta des Domes – ein romanisches Kreuz, das Christus im damals vorherrschenden Gestus zeigt: als Triumphator, ohne Nägel und Wundmale, ohne Folterspuren und in aufrechter Haltung, mit weit ausgebreiteten Armen. Quasi die Inkarnation der körperlichen Unversehrtheit nach der Auferstehung und damit eine Verheißung für den Tag des Jüngsten Gerichtes für all jene mit Anspruch aufs Paradies. Dieser Christus stand den Gläubigen rein physisch Auge in Auge gegenüber.

Doch offenbar war diese Art der christlichen Botschaft zu soft, zu wenig anhaltend zu einem gottgefälligen Leben. Mit dem Übergang zur Gotik jedenfalls vollzog sich ein radikaler Wandel – der Gekreuzigte wurde zum schrecklich malträtierten Schmerzensmann. Überdies häufig stark ausgemergelt, als ob am Kreuz der Hungertod zu erleiden gewesen wäre. (Die tatsächliche Todesursache war Ersticken.) Auch mussten die Gläubigen nunmehr den Kopf in den Nacken legen, um zum Gekreuzigten aufzublicken, der, nun hoch oben schwebte. So auf dem Ostlettner sowie im Langhaus des Domes. Diese Aufstellung, respektive -hängung hatte allerdings ihre Tücken: wer sich den Anblick des Gemarterten ersparen wollte, brauchte bloß den Kopf nicht zu heben. So holte man den Gekreuzigten später wieder auf Augenhöhe zurück – wie am Westlettner, wo man unter dem Querbalken mit den Armen des Gekreuzigten hindurch den dortigen Chor betritt.

Hier nun begegnen uns die mittlerweile weltbekannten Stifterfiguren. Deren lebende Vorbilder waren zum Zeitpunkt der Errichtung des Westchores, Mitte des 13. Jahrhunderts, bereits 200 Jahre tot, und überliefert waren keinerlei bildliche und auch sonst kaum Darstellungen. Die Forschung kann bis auf den heutigen Tag die Frage nicht beantworten, was den klerikalen Auftraggeber bewogen haben mag, gleich zwölf christliche Laien in sehr individueller, höchst menschlicher Weise darstellen und auf hoch angebrachten Podesten positionieren zu lassen – eine Ehre, auf die sonst nur die eingangs erwähnten kirchlichen Profis Anspruch hatten.

Gesichert bekannt ist hingegen, dass der Westchor, für den in seiner inzwischen fast 800-jährigen Geschichte keine liturgische Funktion nachweisbar ist, lange Zeit als „Abstellkammer“ genutzt wurde und der Öffentlichkeit gar nicht zugänglich war. So kann etwa davon ausgegangen werden, dass Goethe während seines Dombesuches am 17. April 1813 die Stifterfiguren überhaupt nicht wahrgenommen hat. (Ob der Titan aus Weimar bei dieser Gelegenheit zumindest der erhaltenen Tafeln des Marienaltars Cranachs des Älteren, seines Ururgroßvaters mütterlicherseits, – Catharina Elisabeth Goethe entstammte der Linie der Crananch-Tochter Barbara – ansichtig wurde, ist nicht bekannt.)

Einen Wandel in Bezug auf die Prominenz der Stifterfiguren führten erst die inzwischen selbst zu Ikonen gewordenen Schwarz-Weiß-Fotos, die der damals ortsansässiger Fotograf Walter Hege Anfang der 1920er Jahre schoss und 1924 (zusammen mit dem Kunsthistoriker Wilhelm Pinder) in dem Band „Der Naumburger Dom und seine Bildwerke“ publiziert hat, herbei – an der Spitze die längst zur schönsten Frau des Mittelalters geadelte Uta von Naumburg, wie sie gern genannt wird. Tatsächlich geboren wurde sie wohl eher in Ballenstedt, doch auch das ist nicht unstrittig. Walt Disney schließlich nahm Uta zum Vorbild für die böse Königin in seinem legendären Zeichentrickfilm „Schneewittchen“ von 1937 und gab dem Drive zum Weltruhm Utas und damit auch der anderen Stifterfiguren sowie auf diese Weise nicht zuletzt des Domes selbst einen kräftigen Schub.

Und dann stehen wir vor dem Cranach-Triegel-Altar. Zur Vorderseite der Triegel-Tafel vermerkte Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung knapp und trefflich: „Der an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst Ausgebildete […] malte eine Marienszene, die auch Cranach akzeptiert hätte. Sie fügt sich ideal ein zwischen die Seitenflügel des Renaissance-Meisters. Für die Madonna saß Triegels Tochter Modell. In der Gruppe dahinter sind der Heilige Petrus mit Basecap, ein Rabbiner und der Pfarrer und Antifaschist Dietrich Bonhoeffer zu sehen: Die Gemeinde, Kunstkritiker und Dombesucher sind begeistert von Triegels ‚Sacra Conversazione‘.“ Ergänzen könnte man, dass in der Gruppe ebenfalls drei neue Stifterinnen, die zur Finanzierung des Werkes – wie weiland die Alt-Stifter zur Errichtung des Domes – beigetragen haben, verewigt sind.

Und erst der auferstandene Christus auf der Rückseite der Tafel. Zwar sind die Wundmale an Händen und Füßen zu sehen, doch die Gestalt ist die eines kraftstrotzenden jungen Athleten, der nicht soeben dem Grab entstiegen ist, sondern allenfalls einem Fitnessstudio. Eine moderne Adaption der oben erwähnten, in der Romanik verbreiteten Darstellungsweise des auferstandenen Gottessohnes.

Apropos Lettner: Diese dienten bis zur Reformation dazu, den Klerus und die weltliche Obrigkeit vom Plebs, also dem gemeinen Volke, abzuschirmen. Da brachte die Reformation einen Wandel, und Lettner wurden daher gern und überaus häufig abgerissen. Und so ist der Naumburger Dom mit sogar zwei erhaltenen Lettnern der einzige seiner Art. Weltweit.

Übrigens hatte im Dom im Jahre 1542 Martin Luther den ersten deutschen evangelischen Bischof überhaupt geweiht, Nikolaus von Amsdorf. Dem war allerdings kein Glück beschieden – die alteingesessenen Kleriker lehnten ihn ab und verweigerten ihm den Zugang zu seiner vorgesehenen Wirkungsstätte.

Nach Abschluss der Führung gibt es im und um den Dom natürlich noch sehr viel mehr zu sehen. Leicht zu übersehen, aber gottseidank ausgeschildert ist dabei der unscheinbare Zugang zur romanischen (kleine Fensteröffnungen mit halbrunder Wölbung!) Elisabethkapelle mit der ältesten bekannten Steinskulptur der Heiligen Elisabeth von Thüringen. Die in auffälligem Rot gehaltenen Fensterverglasungen mit Szenen aus dem Leben Elisabeths sind Arbeiten von Neo Rauch.

Der sich an den Dom anschließende Garten ist fast einen Hektar groß und anmutig bepflanzt und gestaltet. Kleine Teichflächen inklusive lädt er zum Ausruhen, zur Kontemplation und zum Durchatmen ein.

Wird fortgesetzt.