27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Kafka II: Werke

von Mathias Iven

Er sprach und schrieb das, was er war, ohne Ehrgeize der Form und des Erfolges. Seine Sprache ist klar, sachlich und reinlich. Sie meidet jeden Schmuck, sie kommt ohne Kantilenen und dröhnende Akkorde aus. Trotzdem ist sie reich, gibt Visionen und Träume und ist immer persönlich.“ Diese Worte stammen aus Rudolf Kaysers Nachruf auf Franz Kafka. Vor mehr als 100 Jahren wurden die ersten Zeilen von ihm veröffentlicht …

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Das Frühwerk. – Es ist kaum zu glauben. Trotz zahlreicher Neuauflagen seiner Werke erscheint erst jetzt, einhundert Jahre nach seinem Tod, ein Band, der erstmals alle zwischen 1908 und 1912 gedruckten Texte Kafkas vereint. Ulrich Hohoffs mustergültige Edition bietet neben den Fassungen der Erstdrucke und weitergehenden Informationen zur Entstehung auch Angaben zu den Druckvorlagen, zu weiteren Fassungen und Nachdrucken sowie Worterklärungen. Wer also auf die Anfänge von Kafkas Schreiben zurückblicken möchte, wird um diese Ausgabe zukünftig nicht herumkommen.

„Es ist möglich, daß einige Leute Mitleid mit mir haben, aber ich spüre nichts davon.“ Mit diesen Worten trat Franz Kafka Anfang 1908 vor seine zukünftige Leserschaft. Es war der erste Satz eines kurzen Prosastückes, das zusammen mit sieben weiteren, zwischen 1904 und Ende 1907 entstandenen unter dem Titel „Betrachtung“ in der in München erscheinenden Zweimonatsschrift Hyperion veröffentlicht wurde. Vier dieser acht Texte wurden, erweitert um die Skizze „Zum Nachdenken für Herrenreiter“, ein weiteres Mal im März 1910 in der deutschsprachigen Prager Tageszeitung Bohemia abgedruckt. Und schließlich fanden sich all diese, teils erneut überarbeiteten Texte Ende 1912 in Kafkas erstem, im Leipziger Rowohlt Verlag erschienenem Buch „Betrachtung“ wieder, das insgesamt 18 Prosatexte enthielt.

Auf Grund von verlagsinternen Streitigkeiten war das Erscheinen von „Hyperion“ nach nur zwei Jahrgängen im März 1910 eingestellt worden. Wie sehr Kafka diese Entscheidung bedauerte – noch im Sommer 1909 waren dort das „Gespräch mit dem Beter“ und das „Gespräch mit dem Betrunkenen“ erschienen – und wie eng sein Verhältnis zu den beiden Gründern Franz Blei und Carl Sternheim war, zeigt der im März 1911 in der Bohemia veröffentlichte Nachruf auf eine „entschlafene Zeitschrift“. Darin prophezeite Kafka, dass Hyperion „in zehn oder zwanzig Jahren einfach ein bibliographischer Schatz sein“ würde – was sich bewahrheiten sollte.

Auch als Literaturkritiker trat Kafka in seinen frühen Jahren in Erscheinung. So rezensierte er im Februar 1909 in der von der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger herausgegebenen Zeitschrift Der neue Weg den Erzählungsband „Die Puderquaste. Ein Damen-Brevier“ von Franz Blei. Und im Januar 1910 lieferte er für die Sonntagsbeilage der Bohemia eine Besprechung zu Felix Sternheims Briefroman „Die Geschichte des jungen Oswald“.

Selbst als Reporter war Kafka unterwegs. Im Nachgang zu einem gemeinsam mit Max Brod und dessen Bruder Otto in Italien verbrachten Sommerurlaub entstand der Artikel „Die Aeroplane in Brescia“. Am 10. September 1909 hatten sich die drei von Riva aus auf den Weg nach Brescia gemacht, wo die erste internationale Flugschau auf italienischem Boden stattfand. Ende des Monats wurde Kafkas Bericht über dieses Ereignis in der Bohemia publiziert, allerdings in einer von der Redaktion gekürzten Fassung.

 

Franz Kafka: Die frühen Publikationen (1908–1912), nach den Erstdrucken herausgegeben. von Ulrich Hohoff, Allitera Verlag, München 2024, 245 Seiten, 22,00 Euro.

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Der Process. – „Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Kennen Sie diesen Satz? Oder haben Sie schon einmal vom Schicksal dieses Josef K. gehört? Wenn nicht, dann sollten Sie zum ersten Band der neuen, auf fünf Bände angelegten Kafka-Edition des Wallstein Verlages greifen. Herausgegeben wird sie von Reiner Stach, dessen 2000-seitige Kafka-Biographie mittlerweile als Standardwerk gilt. Ausgehend von Kafkas Manuskripten liefert die Ausgabe nicht nur eine verlässliche Textgrundgrundlage, wobei zu beachten ist, dass bis heute Uneinigkeit über die Reihenfolge der überlieferten Textteile herrscht. Erstmals sind auch alle Werke mit umfangreichen, auf ein breites Lesepublikum ausgerichteten Kommentaren versehen, die den Zweck verfolgen, so Stach, „ein Verständnis des Textes vor allem durch den Text selbst zu ermöglichen“.

Kafkas „Process“ zählt einhundert Jahre nach seiner Entstehung nicht nur zum Kanon der Weltliteratur, das Buch hat mittlerweile einen geradezu „popkulturellen Status“ erlangt. Mit seinem ortlosen Geschehen fordert der Roman zu immer neuen Deutungen heraus. Stach meint dazu: „Dass der Prozess des Verstehens an kein Ende gelangt, ist nicht Hindernis, sondern Voraussetzung der fortdauernden Wirkung.“ Das Skizzenhafte der Figuren, ihr surreales Handeln verstört. Die Bürokratie ist zu einem das Individuum auslöschenden Herrschaftsinstrument pervertiert. Undurchschaubar scheint alles, was geschieht. In seiner im September 1925 im Berliner Tageblatt veröffentlichten Besprechung urteilte Hermann Hesse: „Was ist das wieder für ein seltsames, aufregendes, wunderliches und was für ein beglückendes Buch!“

Fazit: Unbedingt wieder einmal lesen!

 

Franz Kafka: Der Process. Kommentierte Ausgabe, Herausgeber: Reiner Stach, Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 398 Seiten, 34,00 Euro.

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Kafka bei der Arbeit. – Andreas Kilcher, dem wir neben einer 2008 veröffentlichten Kafka-Biographie vor allem einen opulenten Band mit Kafkas Zeichnungen (siehe Blättchen 3/2022) zu verdanken haben, geht in seinem jüngsten Buch der Frage nach: „Wie funktionieren [Kafkas] Texte? Und wie können sie – auch ohne einfach über ihre Schwierigkeiten hinwegzudeuten – angemessen gelesen werden?“

Kafka, so deutet es Kilcher, war ein „Textarbeiter“. Um dessen Werk zu verstehen, müsse man sich zum einen mit der „Bauart“ seiner Texte befassen und zum anderen nach der Herkunft des „Baumaterials“ fragen. Letzteres lieferte seine breitgefächerte Lektüre, die sich nicht allein auf Bücher beschränkte, sondern auch „Gebrauchsliteratur“, wie Zeitungen, Zeitschriften und Verlagskataloge, mit einschloss. Die Aufnahme fremder Gedanken beförderte die Produktion eigener, aus dem Lesen entwickelte sich das Schreiben. „Manches Buch“, erklärte Kafka 1903 seinem Freund Oskar Pollak, „wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.“

Um Kafkas Arbeitspraxis zu verdeutlichen, wählt Kilcher einen Text aus dem Jahre 1917, „der vielleicht als sein rätselhaftester überhaupt gilt“. Gemeint ist „Die Sorge des Hausvaters“. Die darin vorkommende, höchst merkwürdige und vieldeutige Gestalt namens Odradek fordert bis heute zu immer wieder neuen Interpretationen heraus. So sprach Clemens J. Setz jüngst davon, Odradek erscheine ihm als „das vollkommenste Bild der Zukunft“, und für Dirk Oschmann scheint er „am ehesten das Ideal positiver Freiheit zu verkörpern“. Andreas Kilcher beschließt sein Buch mit dem Satz: „Odradek, das ist – auf ein Axiom gebracht – das vielgestaltige Unheimliche von Kafkas Moderne.“

Das alles klingt nicht nur sehr theoretisch. Diese Spezialuntersuchung setzt bei den Lesern einiges an Vorkenntnissen voraus. Und schlussendlich bewahrheitet sich einmal mehr, was Walter Benjamin 1934 anlässlich von Kafkas 10. Todestag geschrieben hat, wonach dieser „alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen“ habe.

 

Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt. Der Schriftsteller bei der Arbeit, Verlag C. H. Beck, Göttingen 2024, 302 Seiten, 28,00 Euro.

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Kafka lesen. – Kann man auf 100 Seiten Kafkas Werk erklären? Das vielleicht nicht, aber man kann Lust auf die Lektüre machen. Denn: „Kafka zu lesen, bedeutet, zu erfahren, was moderne Literatur kann und was sie ist.“ Das jedenfalls ist die Meinung von Oliver Jahraus, der mit einem Seitenblick auf die Literaturwissenschaft zu Recht die oben zitierte Feststellung Benjamins aufgreift und die Frage in den Raum stellt, inwieweit Kafkas Texte „überhaupt verstanden werden können oder sollen“. Und er erinnert in diesem Kontext an Susan Sontags Essay „Against Interpretation“ aus dem Jahr 1964, wo beklagt wurde: „Das Werk Kafkas zum Beispiel ist zum Opfer einer Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpreten geworden.“ („The work of Kafka, for example, has been subjected to a mass ravishment by no less than three armies of interpreters.“) Abgesehen davon ermutigt Jahraus dennoch dazu, sich vorbehaltlos auf Kafkas „Spiel zwischen Sinnangeboten und Sinnverweigerungen“ einzulassen. Nur eines sollten wir dabei beachten, „dass unser Wunsch, dort zu verstehen, wo er nicht befriedigt wird, nicht in eine Wut des Verstehens umschlägt“.

 

Oliver Jahraus: Franz Kafka, Reclam Verlag, Ditzingen 2023, 102 Seiten, 10,00 Euro.