27. Jahrgang | Nummer 10 | 6. Mai 2024

Tulpanow: die bessere Alternative

von Jutta Grieser

Er hatte drei Kinder. Das jüngste hieß Dolores. Vermutlich benannt nach „La Passionaria“, der spanischen Kommunistin Dolores Ibárruri, die zur Verteidigung der Republik gegen die Faschisten aufrief. Davon hat er nie gesprochen. Auch nicht darüber, dass Dolores mit fünf Jahren in Leningrad während der Blockade verhungerte. Unerwähnt auch seine Verwundungen in Stalingrad, die sichtbaren wie die unsichtbaren. Den Granatsplitter im Rücken sah man nicht, die Folgen der Verletzung am rechten Arm spürte jeder, dem er die Hand reichte. Wahrlich, die Wunden, die ihm geschlagen wurden, waren nicht gering. Kein Wort darüber. Was beredt genug ist. Stattdessen ging er auf die Deutschen zu: offen, freundlich, nachsichtig. Tulpanow hatte „ein gütiges russisches Herz“, wie der Theatermann Boleslaw Barlog urteilte. Nicht der Oberst misstraute den Deutschen, sondern diese anfänglich ihm. Verkehrte Welt in Nachkriegsdeutschland.

Sergej Iwanowitsch Tulpanow aus dem Dorf Wolyschewo hatte vier Jahre gegen die faschistischen Mörderbanden gekämpft, der Krieg endete für ihn vor den Toren Prags. Dann holte Marschall Schukow ihn nach Berlin, in die Sowjetische Militäradministration (SMAD) und machte ihn zum Chef der Verwaltung Propaganda. Erst spät wurde den Zuständigen in Moskau bewusst, dass der Begriff seit Goebbels & Co. nicht ganz unbelastet war, weshalb die Institution alsbald in Informationsverwaltung unbenannt wurde.

Es war nicht das einzige Missverständnis zwischen Deutschen und Russen in jener Zeit. Als sich beispielsweise der Kulturbund formierte, waren die Sowjets dagegen – sie hätten ihn lieber „Union“ oder „Gemeinschaft“ genannt. Johannes R. Becher, der den Namen vorgeschlagen hatte, beherrschte allerdings nicht die russische Sprache, weshalb er das Wort „бунt“ nicht kannte. Es stand für Aufruhr und Empörung. Tulpanow musste die eigenen Genossen beruhigen, dass die deutschen Intellektuellen für die demokratische Erneuerung ihres Landes arbeiteten und nicht gegen die Besatzungsmacht zu räsonieren vorhatten. Im Mai 1947 erfolgte der 1. Bundeskongress des Kulturbundes, auf dem der Kulturoffizier Tulpanow eine bemerkenswerte Rede hielt. „Es genügt nicht, ‚Nie wieder Krieg!‘ zu rufen, sondern es ist endgültig mit den Überlieferungen der Vergangenheit zu brechen. Das deutsche Volk muss den Mut aufbringen, sich von falschen Propheten loszusagen.“ Nun, die westlichen Besatzungsmächte sagten sich erst einmal vom Kulturbund los. Im Herbst 1947 verboten deren Militärregierungen die Organisation in ihren Berliner Sektoren und Zonen.

Zu den Missverständnissen ist auch Tulpanows Rede auf Gerhart Hauptmann zu rechnen, die er im Juli 1946 im Stralsunder Rathaus hielt, bevor Tausende den Sarg zum Schiff geleiteten, das den verstorbenen Literaturnobelpreisträger nach Hiddensee brachte. Der antifaschistische Oberst aus Leningrad warnte eindringlich davor, bei der Abrechnung mit dem Nazismus das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ja, der Autor der „Weber“ sei empfänglich gewesen für die Schmeicheleien der Nazis, aber dennoch ein bedeutender humanistischer Künstler. Damit habe er nicht nur junge Antifaschisten irritiert, wie Tulpanow später einräumte. „Ältere Knaben waren es auch.“ Womit nicht nur deutsche „Knaben“ gemeint waren.

Oberst Sergej Tulpanow kämpfte bis zum 9. Mai 1945 nur gegen einen Feind. Danach gegen viele. Auch in den eigenen Reihen. Das wird in einem spektakulären Buch deutlich, das dieser Tage erscheint. Es könnte darüber Streit geben. Die einen werden sich möglicherweise entrüsten, wenn „in dieser Zeit“ das begründete Hohelied auf einen russischen Offizier gesungen wird, der erfolgreich Brücken baute zwischen verfeindeten Völkern. Andere wird empören, dass in diesem Buch Moskaus Deutschlandpolitik nach dem Krieg kritisch beurteilt wird und dass die sowjetische Führung mit den eigenen Leuten und mit den Verbündeten nicht immer sehr klug umging. Es widerspricht dem verfestigten Narrativ, das in der DDR gepflegt wurde, was damals eine verständliche Reaktion auf die antisowjetische Stimmungsmache im Westen war. Dessen Hetze war oft nichts anderes als in demokratisches Karbol getauchte Faschistenpropaganda, mit der die Deutschen einst in den Krieg gegen Russland getrieben worden waren. Auch wenn wir dieses wissen, wie wir eben auch mit Entsetzen heute die Wiederholung mit Spionagehysterie und Kriegsertüchtigungsparolen erleben, so gebietet es die Wahrhaftigkeit, auch den unangenehmen Dingen auf den Grund zu gehen.

Die beiden Autoren der in wenigen Tagen erscheinenden Biographie über Tulpanow tun dies. Inge Pardon ist Historikerin, sie hat in Leningrad bei Tulpanow promoviert, ihr – im Vorjahr verstorbener – Mann studierte als NVA-Offizier an der Akademie in Leningrad. Beide waren mit Tulpanow bis an dessen Lebensende befreundet. Sie gruben jahrzehntelang in seinem Privatarchiv und in anderen Sammlungen, sprachen mit Weggefährten und Zeitzeugen. Man merkt dem Buch die Fülle des Materials an, obgleich darin nur ein Bruchteil des Erfahrenen und Entdeckten verarbeitet werden konnte, das sie akribisch sichteten. Und die Vorsicht, mit der sie Unerhörtes hier auf 256 Seiten mitteilen.

Tulpanow war nicht nur ein militärischer Stratege, was Schukow an ihm in Stalingrad beobachtete, sondern auch ein guter Psychologe, der wusste, warum Menschen in bestimmten Situationen so reagieren, wie sie reagieren. Im Unterschied etwa zur Führung im Kreml kannte er sich aus mit der politischen Psychologie. Der Nürnberger Trichter erzielte weniger Wirkung als die Stalinorgel, doch dies wollte man nicht wahrhaben. Viel hatte auch im Krieg immer geholfen, hieß es. Und wenn die eigene massive Propaganda nicht half, hatten eben die Kommandeure versagt.

Namentlich der Oberst wurde für die vermeintliche Niederlage der SED verantwortlich gemacht. Bei der Wahl des Abgeordnetenhauses von Großberlin im Oktober 1946 war die ein halbes Jahr zuvor formierte Einheitspartei mit 13,7 Prozent auf Platz 3 gelandet. Der für Kader zuständige ZK-Sekretär Alexei Kusnezow kannte genau den Grund. Mehr noch: Nach der von Tulpanow im Sekretariat in Moskau vorgetragenen Analyse erklärt Kusnezow, er sei „erstaunt“, geradezu „erschrocken, dass Tulpanow in Deutschland über allgemeine politische Fragen entscheidet, dass er (de facto) ein Führer ist. Das ist über die Maßen kühn.“ Selbst sie, die ZK-Sekretäre, legten Fragen zur Entscheidung „sehr häufig“ dem Genossen Stalin vor. „Und zu allen Fragen erhalten wir Ratschläge, zu allen Fragen erhalten wir Weisungen. Aber Sie entscheiden über alle Maßen selbstständig.“

Danach wurde eine elfköpfige Kommission gebildet, die Tulpanow auf die Finger schaute. Hinzu kamen Anschuldigungen und Intrigen, Hausdurchsuchungen bei Tulpanow in Berlin und Vorladungen nach Moskau, wo er – obgleich doch wenige Wochen zuvor zum Generalmajor ernannt – im August 1949 unter Hausarrest gestellt wurde. Er blieb verschollen, die Familie und Freunde sorgten sich.

Am 18. Oktober 1949 wurde Tulpanow auf Beschluss des Sekretariats des ZK der KPdSU als Leiter der Informationsverwaltung der SMAD abgelöst. Teil des Beschlusses: nur noch Einsatz im Inland, keine Ausreise nach Deutschland. Erst 1965 ließ man ihn erstmals in die DDR, nachdem er Einladungen aus Berlin immer ausschlagen musste. Selbst die Ehrung mit dem Vaterländischen Verdienstordens durch Präsident Pieck zum 15. Jahrestag der Befreiung musste er absagen, weil man ihn nicht ausreisen ließ. Und als Honecker 1971 vorschlug, Tulpanow zu dessen 70. Geburtstag mit dem Karl-Marx-Orden zu würdigen, kam aus Moskau die schmallippige Auskunft, die DDR möge doch zunächst verdienstvolle Politiker aus der Führung der Sowjetunion mit Auszeichnungen dieser Art ehren. Der amtierende sowjetische Staats- und Parteichef Leonid I. Bresch­new erhielt den Karl-Marx-Orden mehrfach – Tulpanow nie.

Trotz allem, dessen war sich Tulpanow dankbar bewusst, hatte er Glück: Er durfte 1950 in die Wissenschaft zurückkehren – noch Jahre zuvor hätte er erschossen werden können. Wie seine Mutter 1940 und sein Vater, der in einem Lager in Kasachstan verstarb.

Prof. Dr. Viktor Torkanowski urteilte 2014, dreißig Jahre nach dem Tod seines Freundes: „Hätte ein solch kluger, integrer Mann wie Tulpanow an der Spitze des Sowjetstaates gestanden, wären unsere eigene und die Weltgeschichte anders verlaufen.“ Da irrte Torkanowski, Wirtschaftswissenschaftler wie auch Tulpanow und zwanzig Jahre jünger als dieser, vermutlich nicht. Aber Geschichte ist Geschichte. Doch es ist gut, dass Inge und Michael Pardon die von Tulpanow ausgegraben haben. Und dass sie eben jetzt, in dieser konfusen Zeit der Spionagehysterie und des blindwütigen Völkerhasses, gedruckt vorliegt. Zum Beweis, dass sich scheinbar unüberwindbare Gräben doch überwinden lassen. Wenn man Charakter und Verstand hat.

Inge und Michael Pardon: Tulpanow. Stalins Macher und Widersacher. Mit einem Vorwort von Moritz Mebel. edition ost, Berlin 2024, 256 Seiten, 28,00 Euro.