27. Jahrgang | Nummer 10 | 6. Mai 2024

Heinrich Mann über Grundgesetze

1923 hat Heinrich Mann eine Verfassung, 1937 und 1947 zwei Verfassungsentwürfe kommentiert. Beim ersten Mal folgte er im August der Einladung des damaligen, der SPD angehörenden und von der KPD tolerierten sächsischen Ministerpräsidenten Erich Zeigner zu einer Festrede – die Weimarer Republik stand seit acht Monaten im „Ruhrkampf“ gegen die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen und kurz vor der Ausgabe von Geldscheinen mit Billionen-Nennwert. Im Mai 1937 nahm er auf Bitten einer Moskauer Zeitung den Wortlaut der für die Autonome Republik der Wolgadeutschen vorgesehenen Verfassung ernst. Im März 1947 schrieb er das Vorwort zu einem in Mexiko, aber nicht in der Sowjetischen Besatzungszone veröffentlichten Kommentar seines kommunistischen Vertrauten Paul Merker zu dem Verfassungsentwurf der SED für eine Deutsche Demokratische Republik. Die folgenden Auszüge, in denen die Auslassungen nur innerhalb von Absätzen markiert sind und die Orthographie normalisiert ist, wurden zum Jubiläum des Grundgesetzes versammelt.

Wolfgang Klein

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Wir sollen feiern, und die Stunde ist kritisch. Wir sollen die Verfassung feiern und wissen doch nicht: was ist inzwischen geworden aus der Verfassung? Was wird aus ihr noch werden? Das Jahr 1919 ist lange her.

Suchen wir uns zu vergegenwärtigen, wenn anders wir es heute noch können: was sollte die Verfassung einst sein? Es sind doch Ideale hineingearbeitet worden im Jahre 1919. Die Revolution, ob sie nun ganz freiwillig kam oder nicht, hatte in jedem Fall die Köpfe freier gemacht. Vieles schien auf einmal möglich und naheliegend, was nicht nur die Herrschenden, sondern auch die große Mehrheit niemals sehr dringlich gefunden hatte. So die Vereinheitlichung Deutschlands, ohne übertriebene Rücksichten auf Eigenarten und Sonderrechte. So die Freiheit im Innern, was nur heißen kann: es sollte dauernd im Sinne der meisten regiert werden, nie wieder zum Vorteil und Vorrecht weniger. Im Sinne der meisten, also friedlich, ohne Kriegsgesinnung. Im Sinne der meisten, also ausgleichend, auch den Besitz. Konsequenter Sozialismus war in Weimar nicht die treibende Kraft, aber soziale Gesinnung hat doch mitgewirkt. Man wollte keine gefährlichen Kapitalanhäufungen. “Freie Bahn dem Tüchtigen”, und nicht auf seinem Wege jene absichtlichen Hindernisse, wie Vorrechte oder der alles aufsaugende Reichtum. Das war der Geist der Weimarer Verfassung. Darum feiern wir sie. Keineswegs war es der Geist einer republikanischen Plutokratie.

Der Geist der Verfassung ist inzwischen verkannt, verleugnet, entstellt, er ist ihr fast ausgetrieben worden. Der kriegstolle Nationalismus treibt es wieder wie je und reicht schon wieder bis an den Sitz der Macht, die jetzt doch dem Volk entstammt und ihm Rechenschaft schuldet. Das Kapital ist erst jetzt wahrhaft überwältigend geworden. Seine Herrschsucht vergreift sich erst jetzt ganz offen an jedem einzelnen von uns, wie am Staate selbst. Wir feiern darum erst recht die Verfassung, die dies alles nicht mehr kennen wollte, die befreien und Menschlichkeit verbreiten wollte. Sie hat es noch nicht gekonnt. Aber sie soll es einst können.

1919 schrieben wir in die Verfassung etwas über Vergesellschaftung privater wirtschaftlicher Unternehmungen, über Beteiligung des Reiches an diesen Unternehmungen, und dass allermindestens die Bodenschätze unter die Aufsicht des Staates kommen sollten. Steht das 1923 nicht mehr in der Verfassung? Ach! ein Artikel der Verfassung verlangt auch, der selbständige Mittelstand sei gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen. Ich merke nichts.

Es gibt Patrioten aller Art. Der eine denkt an sein Geschäft, ein anderer an Staat und Volk, an das geistige und das wirtschaftliche Schaffen seines Landes, die es anderen Ländern friedlich und segensreich verbinden sollen. […] Echte Vaterlandsliebe, die ebenso gut auch Menschenliebe heißen kann, braucht Besinnung, braucht Rechtlichkeit. Aber im Unrecht, in der Zerrüttung gedeiht Nationalismus. […] Der Nationalismus und seine Verbände könnten unmöglich die heutige große Rolle spielen; sie wären Privatsache, wären öffentlich gar nicht vorhanden ohne die schlechte Luft, die diese naturwidrigen Kapitalausschweifungen wie ein Leichenhaufen um sich verbreiten; denn wirklich sind sie getötete Volkskraft. Der Nationalismus wäre nicht vorhanden ohne die auswärtigen Verwicklungen, in die uns unser paradoxaler Hochkapitalismus stürzt, nicht vorhanden ohne die Not, die zu allem fähig macht. Der Nationalismus ist das Geschöpf unserer Schwäche, die zuerst auf den Ausgleich des Besitzes verzichtet hat. Daraufhin kam auch er. Alles und jedes auf das blinde Schicksal und den bösen Feind abwälzen, ist billig, es ist zu billig für diese teuern Zeiten.

Der bessere Geist jedes Volkes will Freiheit; und das bedeutet sowohl inneren Ausgleich wie internationale Gerechtigkeit. Aus der Weimarer Verfassung spricht der bessere Geist Deutschlands. Wir müssen ihn wieder hören lernen. In Weimar 1919 lebte doch republikanische Begeisterung. Die müssen wir mitwirken lassen in unserem öffentlichen Erleben, nicht allein unsere wirtschaftliche und politische Not. […] Es wird doch täglich deutlicher, dass einzig als freier Volksstaat das Reich noch fortbestehen kann.

Wir sollen feiern. Der Geist der Weimarer Verfassung erlaubt jedes Vorwärts, jeden menschlichen Gewinn, aber er verbietet Zurückweichen und Verluste an Humanität. Der Mensch – worauf sonst käme es an. Ist etwa der Staat Selbstzweck, oder die Wirtschaft oder Interessenkämpfe, womit das Leben hingeht? Anfang und Ziel ist der Mensch. Der Staat, die Wirtschaft sind tauglich oder verfehlt, je nachdem sie den Menschen fördern oder hemmen. Humanität im Sinne Weimars, Menschenpflege, sie sollte der Kern der Politik sein. 

Und sogar schon heute sollen und können wir alle in unseren Tageskämpfen festzuhalten trachten, worauf es dem Menschen und seiner Zukunft ankommt. Das Ziel ist gerechter Sinn, Vernunft, Reinheit. Das Ziel ist Friede. Auf dem noch dunklen Weg, der dorthin führt, werden von Zeit zu Zeit Fackeln angezündet. Die Geschlechter reichen sie einander. Eine Fackel ist die Weimarer Verfassung. Wir wollen sie hochhalten.

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Sie haben alle politischen Rechte, bei ihnen herrscht die wirtschaftliche Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Sie folgen nur ihrem eigensten Bedürfnis, wenn sie im Heer dienen. Das Heer ist nicht für Andere da, sondern für sie. Es deckt den Staat, der sie selbst sind, erhält ihn, macht ihn unangreifbar. Der Staat, das sind Arbeiter und Bauern. Die Heimat der Deutschen […] wird von ihnen selbst regiert, von deutschen Arbeitern und Bauern. Daher sind sie Soldaten, im eigenen Auftrag, für eine Heimat, die wirklich ihre Heimat ist, und für den Staat, der nur um ihretwillen Macht übt. […] Es ist merkwürdig leicht, unter solchen Umständen ein Vaterlandsfreund zu sein. Man wird mühelos staatstreu und militärfromm. Ein Reich und Heimatland müssen nur den Arbeitern und Bauern gehören.

Indessen ist es auch wieder schwer, denn Freiheit, sie darf nicht bequem genommen werden: das bemerkt nur, wer sie kennen lernt. Sie ist bei Weitem mehr Pflicht als Recht. Freiheit, das ist eine Gesamtheit sittlicher Aufgaben. Ihr letzter Ausdruck heißt: Halt auf dich und sei in Wahrheit Mensch. Das Evangelium hat schon längst gelehrt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Jetzt wird gefordert, dies nicht auf das bloße Gefühl zu beschränken, und weder die Eigenliebe noch die Nächstenliebe sollen, jede für sich, ihren privaten Charakter behalten. Sondern sie werden öffentliches Recht. Das Gesetz verlangt, dass der persönliche Nutzen und das öffentliche Wohl in einander aufgehen.

Eine Verfassung, eine lebendige, nach der gelebt werden kann, ist zuerst das sichtbare Zeugnis, dass etwas gelungen ist: Einrichtungen haben sich gehalten und bewährt; ein Staat und Volk sind im Aufstieg; nach harten Leiden und einem unerbittlichen Weg an Abgründen vorbei erreichen die Gesamtheit und der Einzelne den Bezirk, der an das Menschenglück grenzt. 

Artikel 4: Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Artikel 6: Der Boden, die Großbetriebe, die Wohnhäuser in den Städten, Staatseigentum und Gemeingut. Aber – persönliches Eigentum für jeden Bauern, neben seinem Grundeigentum aus der gesellschaftlichen Wirtschaft. Artikel 9: Privatwirtschaft von Bauern und Handwerkern gesetzlich zugelassen. Artikel 10: Das persönliche Eigentumsrecht der Bürger […]. Artikel 84: Die Bürger der Republik haben das Recht auf Arbeit. 85: das Recht auf Erholung. 86: auf Versorgung. 87: auf Bildung.

Ihr dürft arbeiten und erwerben für euch und die Euren, ihr habt alle Rechte mitsamt dem Erbrecht. Ihr sollt keine Lohnarbeiter, Mietshäuser und kein verzinsbares Kapital haben. Wenn euch das alles erlaubt wäre, würdet ihr es wollen? Das ist es. Zuerst die Einrichtungen, Verstaatlichung des großen Besitzes und der Banken, die gesellschaftliche Wirtschaftsform ist die herrschende. Dann wird erwartet, dass dies alles von der Außenwelt bis in die Gemüter dringt, womit erst die ernstesten Fragen anfangen. Einrichtungen sind veränderlich, der Mensch gilt für unwandelbar. Die natürliche Ungleichheit der Menschen, homo homini lupus, und ohne den Antrieb des Eigennutzes täten sie bekanntlich gar nichts mehr. Hattet ihr diese redensartliche Gemütsverfassung hinter euch gelassen, als ihr eure neue Staatsverfassung niederlegtet?

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Ohne listige Zwecke und versteckte Vorbehalte einfache Klarheit üben, das allein gibt einem politischen Schriftsteller tatsächlich Autorität. Die Autorität dagegen ist falsch, ist kurz bemessen, wenn sie erreicht wird mit schlauen Rücksichten und dem Appell an unkontrollierte Gesinnungen. Wahr und klar muss ein Verfassungsentwurf sein.

Die Rechtfertigung einer Konstitution hätte schon früher darin bestanden, dass sie die Mittel gewährt um auszugleichen. Eine Neuverteilung der Macht und des Wohlstandes war lange fällig, gerade die Neuverteilung, den Ausgleich hätte zu ihrer Zeit die Weimarer Verfassung gewährleisten sollen. Sie hat vorgegeben demokratisch zu sein, wollte es wohl sein, aber konnte nicht. Ihr war verboten, den Existenzkampf zu mildern, wenn nicht abzuschaffen. Der Sinn einer zeitgemäßen Verfassung läge in den gesetzlichen Handhaben, die sie gibt, um ein Volk, das ganze Volk, zu befreien von der Not und dem Zwang des Existenzkampfes.

Damit entfällt der entscheidende Vorsprung einer kapitalistischen Klasse, die übrigens verschwindet, sobald der Grundbesitz aufgeteilt, die Grundstoffe der Wirtschaft, mitsamt den Banken öffentlicher Besitz werden.

So behandelt man eine Verfassung, wenn das Zeitalter nach verwirklichtem Sozialismus drängt, nach einer – nur sozialistisch erreichbaren – Demokratie, einer richtigen Bewertung des Lebens, und die ist jetzt sozialistisch. Beiseite bleibt, als unrealistisch, die Diktatur einer Partei. Der Vorstand des Parlamentes, der die Exekutive bildet, soll mehrere Parteien enthalten. Vorausgesetzt wird offenbar die allseitige Anerkennung der Demokratie als einer sozialistisch begriffenen Gegebenheit, – was immerhin Optimismus bedingt. Wer stark ist, darf Optimist sein. Wer die ganze Wahrheit wünscht, rechnet mit der Verschiedenheit der Meinungen, und der relativen Vernünftigkeit aller.