21. Jahrgang | Nummer 6 | 12. März 2018

Weill auf die Bühne!

von Wolfgang Brauer

Dagmar Manzel in Dessau – dafür schlägt man sich durchaus die halbe Nacht auf der Autobahn um die Ohren. Um anschließend tagelang zu grübeln, was da eigentlich passiert war im Großen Haus des Anhaltischen Theaters. Das war gut gefüllt, immerhin hat es 1100 Plätze. Dagmar Manzel sang Friedrich Hollaender und Kurt Weill, schließlich ist Kurt-Weill-Fest. Sie präsentierte ihr Programm „MENSCHENsKIND“, das mittlerweile schon vier Jahre alt ist. Das spricht nicht gegen sie – aber gegen die Programmmacher des Weill-Festes. Auf dieser Bühne jedenfalls funktionierten weder die Programmauswahl noch der angeschlagene, überwiegend einschmeichelnd-melancholische Ton der Manzel. Da sprang kein Funke über, obwohl das Publikum ihr an den Lippen hing.
Ja, sie brachte die guten alten Songs aus Josef von Sternbergs „Blauem Engel“ und aus „A Foreign Affair“ von Billy Wilder. Sie zog sich mit großer Selbstverständlichkeit Marlenes Schuhe an und stolperte nicht in ihnen. Aber sie schwebte nicht über die Bühne, sie schlurfte. Nun ist „Black market“ aus dem Berliner Nachkriegsfilm der Dietrich ein tückischer Song, aber Manzel brachte ihn einfach viel zu „lieb“. Das war alles brav, zu brav gesungen. Dagmar Manzel hat weder die Höhen noch die Tiefen der großen Diseusen. Sie ist vor allem eine grandiose Schauspielerin, die singen und tanzen kann. Das ist selten genug, und die deutschen Filmgewaltigen und Theaterfürsten (Ausnahme: Barrie Kosky) mögen in der Nichtbesetzungshölle schmoren!
Wer hat die Frau eigentlich musikdramaturgisch beraten? Sie kann mehr. Es gab Momente, da blitzte das auf. In den „Liedern eines armen Mädchens“ zum Beispiel. Das träumt davon, wie es ist, „wenn ick mal tot bin“. Wenn die Manzel das Wort „Himmel“ in das Mikrofon juchzt und dabei das Gesicht für eine Sekunde vor Schalk glänzt… da scheint sie kurz auf, die „Großherzogin von Gerolstein“, vor der wir uns alleruntertänigst in den Staub warfen, als sie mit dem Säbel vom Papa herumfuchtelte. „Die hysterische Ziege“ kam in Dessau ziemlich depressiv, aber der „Circe“ (aus Hollaenders „Futschikato“) war wieder alles zuzutrauen. Manzel ist nicht die May. Das wird sie nie werden. Sie ist die Manzel. Das ist etwas anderes.

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Wir leben in einer Zeit, in der sich arme Leute wieder um kostenlose Lebensmittel prügeln. Die „Dreigroschenoper“ von Brecht und Weill, das wohl bösartigste Musiktheaterstück der Weimarer Zeit, sollte heutzutage seine ätzende Schärfe fast von selbst über das Publikum sprühen. Die Dessauer Inszenierung (Premiere war am 2. März) von Ezio Toffolutti aber überbietet sich von Bild zu Bild an inszenatorischer Harmlosigkeit. Toffolutti ist als Bühnen- und Kostümbildner toll. Nur: Er nimmt die Brechtsche Einteilung des Stückes in „Bilder“ allzu wörtlich und liefert Statisches ab, angeordnet um ein Loch, in dem das Orchester versenkt wurde. Die Bilder sind hübsch bunt garniert, irgendwie zwischen Konstruktivismus, Fin de Siècle und den Slapstick-Ideen Charly Chaplins angesiedelt – ach, wie possierlich: Constabler Smith erscheint im Knast mit einer Geburtshelferzange in der Hand, während Lucy Brown (Marie Therèse Albrecht) vor Macheath (Mathias Mosbach) gerade die Schwangere mimt. Albrecht gehört neben Mirjana Milosavljević (Polly) und Illi Oehlmann (Spelunkenjenny) zu den sängerischen Höhepunkten des Abends. Bei Oehlmanns Auftritten kann man die berühmte Stecknadel im Saal fallen hören, und das Eifersuchtsduett („Komm heraus, du Schönheit von Soho!“) zwischen Polly und Lucy ist grandios gesungen und gespielt. Den Damen zu folgen ist eine Freude. Gut, dass die Regie hier auf billige Publikumsanmache verzichtet. Der Abend wird ansonsten vom gesanglich recht durchschnittlichen Mathias Mosbach dominiert. Toffolutti gestattet ihm einige schauspielerische Albernheiten, die seit den Zeiten Hans Wursts zuverlässig Wirkung beim Publikum erzielen. Da, wo diese „Dreigroschenoper“ musikalisch am stärksten ist – im „Ersten Dreigroschenfinale“ und im Schlusschoral – stellt er seine Solisten wie Schaufensterpuppen am Orchesterloch ab. Die meisten anderen Songs kommen als gefällige Nachtbar- und Kaffeehaus-Musik daher. Das ausgezeichnet besetzte Orchester bleibt leider zu sehr – im wörtlich zu nehmenden – Untergrund.

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Das Kurt-Weill-Fest leistet sich alljährlich den Luxus eines „Artist in Residence“. 2018 ist das Star-Trompeter Till Brönner. Brönner bestritt mit der Anhaltischen Philharmonie Dessau am 23. Februar das Eröffnungskonzert, am 3. März gastierte er mit dem Bassisten Dieter Ilg im Anhaltischen Theater. Mit diesem Auftritt hielt der Weltgeist der Musik Einzug in die im urbanen Delirium liegende Muldestadt. Von Ornette Colemans „The Fifth of Beethoven“ über die höchst eigenwillige Auseinandersetzung mit „Rio“ bis hin zur Adaption von Paul McCartneys und John Lennons wunderbarer „Eleanor Rigby“ reichte der Spannungsbogen, den Brönner und Ilg aufbauten. Das Publikum tobte. Zugabe war der Choral „Ach bleib mit deiner Gnade“ (1609) von Melchior Vulpius. Danach herrschte einen Moment Schweigen im Saal… Am Rande bemerkt: Es ist völlig unverständlich, weshalb der Berliner Kultursenator Till Brönners Idee eines „House for Jazz“ in Berlin dermaßen hartnäckig blockiert. Eine kleine Ahnung von der mit großer Suggestivkraft und wunderbarer Klarheit daherkommenden Klangwelt dieser ungewöhnlichen Instrumentenkombination kann man mit der jüngsten CD „Nightfall“ der beiden Künstler erspüren – die erschien soeben beim Label Okeh.

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Am folgenden Vormittag zwitscherte der „kleine Vogel Kukuli“ durch den Saal der Villa Krötenhof: „Wo andre gehen, da muss ich fliegen“… Kukuli ist ein liebevoll-flattriges Gedicht Klabunds für seine Frau, die Schauspielerin Carola Neher. Die Chansonette Anna Haentjens stellte unter Begleitung Sven Selles (Klavier) den Lebensweg der beiden Ausnahmekünstler vor. Natürlich gab sie die „Harfenjule“, natürlich die „Seeräuberjenny“, aber auch politische Texte des Dichters wie „Die Ballade des Vergessens“ und Bertolt Brechts „Ballade vom Wasserrad“, beide Texte in der Vertonung Hanns Eislers. Ich habe das „Wasserrad“ und den „Surabaya-Johnny“ so das letzte Mal von der May gehört. Respekt! Carola Neher ging am 26. Juni 1942 im GULAG elend zugrunde. Anna Haentjens widmete ihr am Schluss ihrer Gedenk-Matinee die eigene Vertonung von Erich Mühsams „Wiegenlied“. Berührend. Schade nur, dass sie des Guten stellenweise ein wenig zu viel tat mit recht weitschweifigen Mitteilungen über Klabund und die Neher. Die Stärke dieser wunderbaren Sängerin ist das Chanson.

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Mit Verwunderung nahm ich die Programmgestaltung des Konzerts des Orchesters der Komischen Oper Berlin zur Kenntnis: „Klassik im Aufbruch“. Ein Mozartsches Kammermusikstück – Adagio und Fuge c-Moll KV 546 – aus dem Jahre 1782, dazu Beethovens opus 61, das Violinkonzert D-Dur, als Kronzeugen für Ferruccio Busonis Bemühungen um die Synthese umfassender, junger Klassizität mit allem Experimentellen „vom Anfang des 20. Jahrhunderts“? Das lässt sich in musikhistorischen Seminaren vermitteln, im Konzertsaal bleiben solche Verrenkungen gelinde gesagt ein Mysterium. Noch dazu, wenn das einzig hoch innovative Musikstück des 20. Jahrhunderts in diesem Konzert Heinz Tiessens „Vorspiel zu einem Revolutionsdrama op. 33“ aus dem Jahre 1926 war. Tiessens Komposition wurde ausgerechnet Philipp Jarnachs „Musik mit Mozart“ (op. 25) gegenübergestellt. Jarnach komponierte eine biedere, klanglich keine Wünsche offen lassende Mozart-Adaption, die dem „Geist der Zeit“ voll entsprach. Den bestimmte im Entstehungsjahr des Werkes die Reichsmusikkammer, das Stück wurde 1935 geschrieben. Die Behauptung der Programmmacher, Jarnach habe „keine ideologischen Vorgaben“ erfüllt, zeugt von einem merkwürdigen Missverstehen nationalsozialistischer Kulturpolitik. Natürlich zitierte er nicht das Horst-Wessel-Lied!
Das Orchester der Komischen Oper unter Jordan de Souza spielte die genannten Stücke überzeugend – lief aber beim Beethoven zu Hochform auf. Das lag auch am Solisten, dem 2001 geborenen Ausnahmetalent Daniel Lozakovich. Der spielte den Violin-Part mit äußerster Zurückhaltung, das große Solo des ersten Satzes mit seltener Zartheit. Der Saal lag ihm am Schluss voller Berechtigung zu Füßen… Leider war er nur mäßig gefüllt. In der jetzigen Konzipierung des Festes steckt der Wurm des „Masse statt Klasse“: Mittlerweile wird es über fast drei Wochen gestreckt und mit knapp 50 Veranstaltungen an 26 Orten gefüllt. Ein stringentes Konzept ist damit kaum noch möglich. Dass die „Kurt Weill Foundation for Music“ die erteilte Aufführungsgenehmigung für eine konzertante Fassung des Weill-Musicals „Lady in the Dark“ (1941) nach der Veröffentlichung des Festivalprogramms wieder zurückzog und Ute Lemper das Abschlusskonzert retten musste, hat viel mit dieser Praxis zu tun. Die nebulösen Ankündigungen des Intendanz-Teams für das Jahr 2019 lassen nicht auf einen Kurswechsel hoffen.