21. Jahrgang | Nummer 6 | 12. März 2018

Schwarze Null oder „sparen bis es quietscht“

von Stephan Wohanka

Wirtschaftspolitik hat wie Religion eine Menge mit Glauben zu tun; auch Monstranzen tragen beide vor sich her: Im Falle der Wirtschafts- und Finanzpolitik war und ist das hierzulande noch immer die „schwarze Null“.
Zumindest Berliner werden sich erinnern: Ein Regierender Bürgermeister des „armen aber sexy“ Berlins wollte „sparen bis es quietscht“. Einig war er sich darin mit dem Gottvater aller etatistischen Sparer – Wolfgang Schäuble. Der meint, man habe „irgendwann mal gesagt, wir nehmen die schwarze Null, weil die so eindeutig ist“. Schäubles Mutter war eine schwäbische Hausfrau, die sich nie hätte träumen lassen, einmal als Typus zum Vorbild deutscher Politik zu werden: „Man hätte einfach nur die schwäbische Hausfrau fragen sollen, sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.“ Doch nicht die Mutter, sondern eine spät berufene und selbsternannte Wiedergängerin in Gestalt von Angela M. war es, die Schäuble mit diesen Sätzen in seinen Sparbemühungen assistierte.
Inzwischen sind die Worte des – nun schon in der politischen Versenkung verschwundenen – Bürgermeisters wahr geworden: Es quietscht allenthalben; nicht nur in Berlin, aber hier mit am lautesten: „Die überlastete Behörde muss nach dem Ende der Sparpolitik neu aufgestellt werden.“ Oder: „Aber auch beim Personal werde man aufstocken, versprach der Senator. […] Damit solle die Lücke geschlossen werden, die die Sparpolitik der Vorgängerregierungen gerissen habe.“ Und noch mal: „Anderthalb Jahrzehnte lang mussten Berlins Beamte einstecken, denn im Zuge der Sparpolitik wurde ihnen der Sold gekürzt. […] Sie haben in den vergangenen Jahren Opfer erbracht und auf Sold verzichtet, um Berlins Haushalt zu sanieren.“ Weiter: „Die über die Jahre des Sparens aufgestaute Unzufriedenheit vor allem an der Basis bricht sich in anonymen Statements […] Bahn.“
Sparmeister unter den Bundesländern war (!) jedoch der Freistaat Sachsen. Man fuhr seit Jahren die Sollstärke der Polizei herunter und sparte an Lehrern; es gäbe „zu viele Staatsdiener in Sachsen“. Nachdem Ministerpräsident Stanislaw Tillich auch an seinem Ehrgeiz, Sachsen zum Land mit der geringsten Verschuldung zu machen, kleinlaut gescheitert war, lautete eines der ersten Versprechen des neuen Manns an der Spitze: „Wir werden Geld in die Hand nehmen.“ So verkündete es jedenfalls Michael Kretschmer bei einer CDU-Werbetour durchs Land, nachdem seine Partei bei der Bundestagswahl die Mehrheit an die AfD verloren hatte.
Doch nicht nur Länder, auch Institutionen des Bundes sind kaputtgespart; so die Bundeswehr, wie schon verschiedentlich im Blättchen ausgeführt. Eine neueste Einlassung lautet: „Weitere Gründe (für die mangelnde Einsatzbereitschaft von Waffensystemen – St.W.) seien zu geringe Ersatzteilvorräte nach langem Sparkurs …“ Nun könnte man nicht nur als Pazifist der Meinung sein: Alles halb so schlimm, die Einsätze der Bundeswehr im Ausland sind eh umstritten und je weniger davon desto besser. Aber darum geht es nicht. Die selbst von Der Linken geteilte Rückbesinnung auf die territoriale Landesverteidigung ist nicht gewährleistet. Diese Versäumnisse einschließlich der Pannenserie und der Teuerungswelle bei den schon laufenden Rüstungsprojekten kosten uns alle zusätzliche Milliarden; ganz zu schweigen davon, wie mit dem „Staatsbürger in Uniform“ umgegangen wird, wenn sogar Winterbekleidung, Zelte und andere derartig banale Ausrüstungsstücke Mangelware sind. Ich verzichte darauf, Belege beizubringen über marode Straßen und Brücken, baufällige und unhygienische Schulen, lückenhaftes Breitbandnetz – die Liste der Investitionen, die der Staat sinnvollerweise hätte tätigen können, es aber unterließ, ist lang. Zugleich – das gehört in diesen Kontext – waren und sind die Zinsen wegen der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank so niedrig wie nie. Teilweise waren sie sogar negativ: Zehnjährige Bundesanleihen hatten bereits negative Renditen; das heißt, Gläubiger zahlen dem Finanzminister sogar noch Geld dafür, dass sie ihm Kredit geben durften. Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich sind staatliche Investitionen nicht per se produktiv; es nützt wenig, beispielsweise Schulgebäude zu sanieren, wenn nicht zugleich die Lehrerausbildung und die Ausstattung der Schulen angegangen wird. Nur beides zusammen sichert Zukunft.
Es ist nur ein Fazit zulässig: Die Sparpolitik ist grandios gescheitert. Der Streit unter Feuilletonisten und Wirtschaftsjournalisten über Sinn oder Unsinn der schwarzen Null, obschon er Bibliotheken füllt, geht jedoch weiter. Immer noch scheinen die Befürworter der Sparorgien in der Mehrzahl zu sein – mir angesichts obiger Sachstände völlig schleierhaft. Aber das öffentliche Bild wandelt sich gerade. Dass das bis dato anders war, dass es also den Verfechtern einer – vorgeblich – „soliden Haushaltspolitik ohne Neuverschuldung“ leicht fiel, weite Teile der Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen, erklärt sich vielleicht dadurch, dass auf dem Hintergrund der Max Weberschen Ethik des Protestantismus der „Tugend des Sparens“ das „Laster des Schuldenmachens“ gegenübersteht. Ein weiterer Grund mag in den Begrifflichkeiten liegen: So steckt in dem Ausdruck „Schulden“ das Wort „Schuld“ und der Begriff „Defizit“ gibt laut Duden einen „Mangel“ oder „Fehlbetrag“ an (Diese Konnotation von „Schulden“ mit „Schuld“ besteht nur im deutschen Sprachgebrauch. Im Englischen trennt man zwischen „debt“ und „guilt“, desgleichen im Französischen – „dette“ und „culpabilité“). Die öffentlichen Vorbehalte wuchsen noch, wenn Schulden in Kombination mit dem Staat auftreten, dem ohnehin oft mit Skepsis begegnet wird und der einer weit verbreiteten Ansicht zufolge so wenig wie möglich in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen sollte, da er zumeist mit seinem Tun nur Sand ins Getriebe streue. Unter solchen Voraussetzungen ist in der Öffentlichkeit eine gesamtwirtschaftlich rationale Auseinandersetzung um das Thema Defizite und Schulden schwierig.
Dabei sind die angeführten Begrifflichkeiten in höchstem Maße irreführend. So zeigt zwar der Ausdruck „Defizit“ – bezogen auf den Staatshaushalt – buchhalterisch korrekt einen Fehlbetrag an, unterschlägt aber gänzlich den positiven Beitrag eines staatlichen Budgetdefizits für die Bildung von Netto-Geldvermögen auf Seiten des nichtstaatlichen Sektors, das heißt des inländischen Privatsektors (Haushalte und Unternehmen) und des Auslandssektors zusammengenommen. Tatsächlich sind Staatsdefizite die einzige Quelle des Netto-Geldvermögens des nichtstaatlichen Sektors. Denn alle Transaktionen zwischen den wirtschaftlichen Akteuren im nichtstaatlichen Sektor gleichen sich zu null aus. Wenn der nichtstaatliche Sektor also netto sparen möchte (das heißt in einer Periode weniger ausgeben als einnehmen, also einen Einnahmenüberschuss erzielen), muss der Staat ein Budgetdefizit verzeichnen: Das staatliche Defizit ist immer gleich dem nichtstaatlichen Überschuss. Etwas vereinfacht formuliert: Staatliche Haushaltsdefizite erhöhen das nichtstaatliche Vermögen. Gewisse Grenzen sollten dabei nicht überschritten werden und dazu kam es hierzulande auch nicht.
Der Wirtschaftsjournalist Roland Tichy lobt: „Die schwarze Null bedeutet, dass wir erstmals seit 1969 keine neuen Schulden aufnehmen. Eine großartige Leistung! Damit hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sich einen Platz in den Geschichtsbüchern erobert.“ Es soll nicht bestritten werden, dass Schäuble tatsächlich Eingang in die Geschichtsbücher finden könnte, aber nicht wegen seiner angeblichen Erfolge, sondern als ein Hauptantreiber einer destruktiven, an sinnlosen Sparvorgaben orientierten prozyklischen Politik nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa, die von Fachleuten treffend als „fiskalischer Vandalismus“ bezeichnet wurde und die viel wirtschaftlichen Schaden und politische Zerstörung hinterlässt.