21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Was Gorbatschow hörte…

von Petra Erler

Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, hat im Januar ein bemerkenswertes Interview in der Zeitschrift Internationale Politik gegeben. Er stellte darin fest, dass 2008, mit dem Krieg in Georgien, der Ost-West-Gegensatz neu aufgebrochen sei, der sich heute zum Konflikt ausgewachsen habe. Er weist auch darauf hin, dass noch Mitte der 90er Jahre, mit der NATO-Russland-Grundakte, erwartet worden wäre, „dass das Ende der Geschichte des West-Ost-Konflikts erreicht war.“ Damit schließt er sich der Lesart an, dass die tiefe Störung im Verhältnis des Westens zu Russland ausschließlich von Russland (unter Putin) verursacht worden sei. Seine direkte Bezugnahme auf die NATO-Russland-Grundakte verdeutlicht, dass die Regelung des Verhältnisses zwischen der NATO und Russland eine Schlüsselfrage war und ist.
In Euromaidanpress vom 24. Dezember 2017 war zu lesen, dass die russische Behauptung, man habe 1990 das Versprechen bekommen, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, Teil der russischen Propaganda sei. Zur Beweisführung wurde auf eine Website der NATO verwiesen. In einem „fact sheet“ stellt dort die NATO kühl fest, dass es keinen entsprechenden Beschluss des NATO-Rates gab. Außerdem wäre die Frage der Osterweiterung der NATO erst Jahre nach der deutschen Einigung aktuell geworden. Es gäbe überhaupt keine Belege für die falsche russische Behauptung, so die NATO in ihrem „fact sheet“.
Nun sind aber am 12. Dezember 2017 unter der Überschrift „Was Gorbatschow hörte“ 30 historische Dokumente durch das National Security Archive der USA freigegeben worden, die die russische Sichtweise, es habe im Prozess der deutschen Einigung das Versprechen gegeben, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, belegen. Nur zur Erinnerung: Voraussetzung für die deutsche Einigung war die Zustimmung der 4 Alliierten, die im 2+4 Vertrag fixiert wurde. Es ging unter anderem um die Frage der NATO-Mitgliedschaft der neuen Bundesrepublik Deutschland, um den Status von Ostdeutschland, um den Abzug der sowjetischen Streitkräfte. Nicht vertraglich fixiert wurde dagegen, wie sich die Beziehungen zwischen der damaligen Sowjetunion und der NATO entwickeln sollten.
Das führte dazu, dass Genscher und Baker, die damaligen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und der USA später behaupteten, ihre Aussagen vom 31.1.1990 in Tutzing, und vom 9.2.1990 in Moskau, die eine Osterweiterung der NATO ausschlossen, seien lediglich auf die Modalitäten für das Territorium Ostdeutschlands bezogen gewesen.
Genau diese Behauptungen widerlegen die jetzt veröffentlichten Dokumente. Sie zeigen, dass Präsident Bush, Kanzler Kohl, Präsident Mitterrand und die Premierministerin Thatcher sehr wohl der Sowjetunion (Gorbatschow) versprachen, dass die NATO nicht nach Osten ausgedehnt würde. Alle erklärten 1990 ihre Bereitschaft, die legitimen russischen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen, Osteuropa und die Sowjetunion nicht gegeneinander auszuspielen, die NATO zu politisieren und eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur schaffen zu wollen. Im Jahr 19991 wiederholten der britische Premier Major und der damalige Generalsekretär der NATO, Wörner die Zusicherung, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. „Nichts davon wird passieren“, so Major.
Aber diese Dokumente belegen ebenfalls, dass sich die USA als Gewinner des Kalten Krieges ansahen, die Sowjetunion als Verlierer und damit nicht als ebenbürtig. Mehr noch, in einem Strategiedokument des State Department vom Oktober 1990 ist zu lesen, dass eine sowjetische Bedrohung fortbestehe und dies die NATO rechtfertige. An anderer Stelle ist dort vermerkt, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht im Interesse der USA wäre, mittel- und osteuropäische Staaten in die NATO aufzunehmen und eine „anti-sowjetische Koalition“ zu organisieren, die an der sowjetischen Grenze endet. Man befürchtete dadurch Rückschläge im Demokratisierungsprozess in Mittel und Osteuropa, einschließlich in der Sowjetunion. Das Pentagon war schon zu diesem Zeitpunkt der Auffassung, man solle eine NATO-Osterweiterung nicht ausschließen.
Das Thema NATO-Osterweiterung hat auch die amerikanisch-russischen Beziehungen unter Jelzin umgetrieben. Jelzin wurde ebenfalls versprochen, die NATO nicht nach Osten, an die russische Grenze, zu verschieben. Stattdessen erhielt er die Zusicherung, die NATO arbeite an einer Partnerschaft mit allen mittel- und osteuropäischen Staaten, einschließlich Russland (Partnership for Peace). Das war, so schreibt Goldgeiger in warontherocks 2016, eine Idee, die Jelzin damals „brillant“ fand. Goldgeiger macht in seiner Analyse aber auch keinen Hehl daraus, dass sich seit 1990 zwei Konzepte gegenüberstanden: das der USA, die der europäischen Ordnung nach 1990 ihren Stempel aufdrückten, während Russland, das unter Jelzin den Kommunismus überwunden hatte und als gleichberechtigter Partner geachtet werden wollte, zu schwach gewesen sei, seine Interessen durchzusetzen.
1997 wurde die NATO-Russland-Grundakte beschlossen. Präsident Clinton verlautbarte damals, dass die „neue NATO“ niemanden bedrohe, sondern die Sicherheit aller Staaten, auch die der Nichtmitglieder stärke. Gleichzeitig wurde die NATO-Osterweiterung beschlossen, wobei man sorgfältig darauf achtete, dies erst nach der Wiederwahl von Jelzin in Gang zu setzen.
Der Kosovo-Krieg der NATO führte zur nächsten Ernüchterung auf der russischen Seite. Russland wollte damals um keinen Preis eine militärische Lösung. Die NATO-Russland-Grundakte bot allerdings keine Handhabe, diesen Krieg zu verhindern. Eine Befassung des UN- Sicherheitsrates wiederum hintertrieben die USA, die längst im Kreise der NATO-Verbündeten auf einen Militärschlag drängten. Die entsprechenden  Dokumente, die im Clinton-Archiv zugänglich sind, sind eindeutig. So wurde der Kosovo-Krieg zum ersten völkerrechtswidrigen Krieg nach dem Ende des Kalten Krieges und umriss sehr scharf die Grenzen der „neuen Partnerschaft“ zwischen der „neuen“ NATO und Russland.
2002 wurde schließlich einem Versuch Russlands, der NATO beizutreten, eine Abfuhr erteilt. Stattdessen sollte der in Rom formierte NATO-Russland-Rat eine neue „gleichwertige“ Partnerschaft begründen, auf allen Gebieten, bei denen gemeinsame Interessen bestünden. Für diese Partnerschaft schluckten die Russen, dass die USA den wichtigen ABM-Vertrag 2002 einseitig aufkündigten. Russische Bedenken gegen die NATO-Erweiterung wurden im NAT0-Russland-Rat angesprochen und zur Kenntnis genommen. Gleichzeitig entwickelte sich in der ersten paar Jahren eine punktuell durchaus bemerkenswerte Zusammenarbeit.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2006 war es Senator John McCain, der es üblicherweise nicht genau nimmt mit dem Völkerrecht, wenn es um den Feldzug gegen andere Länder geht, der Russland als Erster vorwarf, nicht mehr im „Camp des Westens“ zu stehen und Autokratie zu exportieren. Im darauffolgenden Jahr wurden im NATO-Russland-Rat die Konfliktlinien zwischen beiden Seiten sehr deutlich. Russland warf der NATO vor, seine Sicherheitsinteressen dramatisch zu verletzen. Die NATO fand und findet das bis heute absurd.
Nun gibt es Stimmen, die sagen, dass Gorbatschow selbst schuld daran wäre, dass er sich 1990 auf mündliche Zusicherungen des Westens verließ. Sie sind an Zynismus und Geschichtslosigkeit kaum überbietbar. In der kurzen Zeitspanne, die für eine völkerrechtskonforme Durchführung der deutschen Einigung zur Verfügung stand, wäre ein solches Unterfangen unmöglich gewesen, mit nicht auszudenkenden Risiken für die gesamte europäische Stabilität. Zudem gab es im Jahr 1990 auch noch das Konzept von Vaclav Havel, der über die Auflösung beider Militärbündnisse nachdachte. Ähnliche Überlegungen stellte damals auch Mitterand an. Und schließlich ist jede Diplomatie am Ende, wenn das Wort von demokratischen Führungspersönlichkeiten nichts mehr gilt. Das einzige völkerrechtliche Dokument, das Spuren der politischen Zusagen des Westens an Gorbatschow enthält, ist die Charta der KSZE vom November 1990.
Ein anderes Argument, das auf das Recht der Völker auf freie Bündniswahl verweist, ist wesentlich ernster zu nehmen. Danach musste sich die westliche Politik darauf einstellen, dass es Zeit braucht, bis die jungen Demokratien ihre eigenen außenpolitischen Koordinaten bestimmt hatten. Allerdings beißt sich dieses Argument mit der amerikanischen Sichtweise, die die NATO keineswegs als ein Bund von Gleichen, sondern zuallererst als Anker für die militärische Präsenz der USA in Europa (zu dessen Stabilisierung) ansieht. Das ist sehr unverblümt in einer Notiz von Wolfowitz über sein Gespräch mit Vaclav Havel nachzulesen, das am 27. April 1991 in Prag stattfand. Dank der amerikanischen Archivpolitik ist es nunmehr der Öffentlichkeit zugänglich.
Herr Ischinger hat in dem eingangs erwähnten Interview auch ausgemacht, dass es in der deutschen Russland-Politik ein „emotionales Element“ gäbe, das mit der Vergangenheit zu tun habe. Auf welche Vergangenheit er sich bezieht, bleibt offen. Wenn mit „emotional“ gebrochene Versprechen gemeint sind, die im Vorfeld der deutschen Einigung gemacht wurden, hat er Recht.
Auf jeden Fall täte die Bundesrepublik Deutschland sehr gut daran, in ihrer Russlandpolitik ins Kalkül zu ziehen, dass auch die Russen (in Gestalt der damaligen Sowjetunion) den Weg in die deutsche Einheit freimachten und dabei darauf vertrauten, dass dies zu einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur führen würde. Es ist nicht allein die Schuld Russlands, dass wir heute davon weiter entfernt sind, als vor 27 Jahren. Das sollte man ganz rational auch in Deutschland begreifen.