von Peter Linke
In der Ende vergangenen Jahres von Präsident Putin abgesegneten „Strategie der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung Russlands bis 2035“ findet sich auch ein Abschnitt zum Verhältnis von Gesellschaft und Wissenschaft. Der wachsende Einfluss der Wissenschaft auf das Bildungssystem und die Gesellschaft insgesamt, heißt es da, befördere die Verzahnung von Wissenschaft, Technologie und Innovation. Als Beweis für diese These wird angeführt, dass zwischen 2013 und 2015 die Zahl massenmedialer Veröffentlichungen zu wissenschaftsrelevanten Themen jährlich um 1,5 bis 2 Prozent zugenommen habe…
Weniger optimistisch: die seit 2003 von der Moskauer Wirtschaftshochschule (WSchE) durchgeführten Umfragen zur wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung im Land. Zeigten sich 2003 noch 32 Prozent der Befragten „unbedingt überzeugt vom Nutzen von Wissenschaft und Technik“, so waren es 2015 nur noch ganze 18 Prozent, während der Anteil derjenigen, die meinten, „Wissenschaft schade mehr als sie nutze“, auf 4 Prozent kletterte – den höchsten Wert seit 2003 … Russlands Bevölkerung, so der bekannte Wissenschaftsjournalist Andrei Waganow, verliere ihren „Innovationsinstinkt“. Und er warnt: Die allermeisten wissenschaftsbezogenen Veröffentlichungen der letzten Jahre hätten nicht die Popularisierung der Wissenschaft als solche zum Inhalt, sondern zeichneten deren schleichende Zerstörung nach. Dies gilt insbesondere für die sogenannte Reform der Russische Akademie der Wissenschaften (RAW), dem größten Trümmerstück der 1991 gesprengten Akademie der Wissenschaften der UdSSR.
Seit Anfang der 1990er Jahre wird die Zukunft der RAW kontrovers diskutiert. Den Anstoß dazu gab kein Geringerer als Boris Saltykow, Russlands erster Minister für Wissenschaft und Technologie (1992–1996), als er öffentlich verkündete, in seinem Land gebe es zu viel Wissenschaft…
Faktisch seit ihrer „Neugründung“ litt die Akademie nicht nur unter chronischer Unterfinanzierung, sondern auch und vor allem unter staatlicher Ignoranz. In Zeiten hysterischer Selbstfindung, des Grabens nach imaginären historischen Wurzeln und neuer Geistigkeit, stand der Jelzinschen Führungsriege einfach nicht der Sinn nach Wissenschaft. Was folgte, war ein gewaltiger Exodus des wissenschaftlichen Mittelbaus: junge, vielversprechende Wissenschaftler verließen das Land; zurück blieben die Älteren – hochqualifiziert, erfahren, sowjetisch geprägt. Sie arbeiteten für geringstes Entgelt, wurden zu Gralshütern der russisch-sowjetischen Wissenschaft.
Unter den Ministern für Bildung und Wissenschaft Andrei Fursenko (2004–2012) und Dmitri Liwanow (2012–2016) verstärkten sich die Ausfälle gegen die RAW merklich. Lange Zeit schien es, als ob Russlands Akademiker dem nicht viel entgegenzusetzen hatten. Erst mit der Wahl Wladimir Fortows zum Akademiepräsidenten im Frühjahr 2013 begann sich Widerstand zu regen. Fortow – dem der Satz zugeschrieben wird: „Darüber zu spekulieren, ob das Land viel oder wenig Wissenschaft benötigt, ist ungefähr das gleiche wie zu fragen, ob der Mensch viel oder wenig Hirn braucht.“ – ging in die Offensive, legte erstmals ein tragfähiges Reformkonzept zur Erneuerung der RAW vor, für das er öffentlich warb.
Der Kreml jedoch schien andere Pläne zu haben: Nur einen Monat nach Fortows Wahl kündigte Premier Dmitri Medwedjew völlig überraschend an, die RAW mit den Akademien für Landwirtschaft und Medizin fusionieren zu wollen, was faktisch einer Zerschlagung der RAW gleichkam. Bewerkstelligen sollte dies eine neue bürokratische Superstruktur: die FANO („Föderale Agentur für wissenschaftliche Organisationen“). Unter Leitung Michail Kotjukows, eines wissenschaftsfernen Beamten aus dem Finanzministerium, wurde damit begonnen, planlos diverse akademische Institutionen in sogenannten Föderalen Forschungszentren (FIZ) zusammenzufassen. Gewachsene Forschungsstrukturen wurden auf diese Weise zur Disposition gestellt, die Akademie als zentraler Motor russischer Wissensproduktion merklich beschädigt.
Vor diesem Hintergrund wählten Ende vergangenen Monats gut 1.000 RAW-Mitglieder (von insgesamt rund 1.500) Alexander Sergejew zu ihrem neuen Präsidenten. Durchgesetzt hatte sich der Plasmaphysiker aus Nischni Nowgorod gegen vier Mitbewerber, darunter mindestens ein Trojaner des Kreml: Wladimir Pantschenko, Vorsitzender der mächtigen Russischen Stiftung für Grundlagenforschung (RFFI).
In seinen programmatischen Thesen konstatierte Sergejew, die Akademie habe gegenüber dem Kreml massiv an Vertrauen eingebüßt. Solange dieser Zustand anhalte, gebe es keinen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise der russischen Wissenschaft. Die RAW werde erst wieder effektiv funktionieren, wenn sich die neue Führung der Akademie den wissenschaftlichen und politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stelle, und der Kreml bereit sei, die Akademie in ihrer Gesamtheit zu erhalten – nicht nur als Gemeinschaft hervorragender Wissenschaftler, sondern auch als wissenschaftliche Infrastruktur: ein System finanziell und personell adäquat ausgestatteter Forschungszentren.
Was die Wahlen vom September sowie die ihnen vorausgegangenen Debatten deutlich gemacht haben: eine tiefe Spaltung der Akademie in – wie es der Leiter der sibirischen RAW-Filiale Alexander Asejew ausdrückte – „RAW-Patrioten“ und „FANO-Kollaborateure“. So anschaulich dieses Bild auch sein mag, die wahren Gründe für die Spaltung sind komplizierter, haben weniger mit Opportunismus zu tun als mit widersprüchlichen Vorstellungen hinsichtlich des Verhältnisses von Wissenschaft, Staat und Wirtschaft, der Rolle des Staates bei der Organisation von Innovation.
Der Forderung der „FANO-Kollaborateure“, Russlands Wissenschaft müsse endlich aus ihrem Jahrhunderte alten Elfenbeinturm befreit werden – will heißen: die Akademie solle künftig ‚praxisrelevante’ Forschung organisieren, während Russlands Universitäten endgültig das Joch der Lehre abschütteln – begegnen die „RAW-Patrioten“ mit der Feststellung, die russische Wissenschaft habe immer und vor allem im 20. Jahrhundert praxisorientiert gearbeitet: Während die Akademie (der Wissenschaften der UdSSR) notwendige Grundlagenforschung betrieben habe, hätten spezialisierte Wissenschaftsorganisationen in enger Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Komitee für Wissenschaft und Technik (GKNT) an der Lösung konkreter strategischer Aufgaben (Nuklearwaffen, Weltraum, Elektronik und so weiter) gearbeitet sowie viele Universitäten auf vertraglicher Basis aufs Engste mit der Industrie kooperiert. Es sei in erster Linie die FANO gewesen, die dieses über Jahrzehnte gewachsene Innovationsnetzwerk innerhalb kürzester Zeit zerrissen und damit die Kluft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft merklich vertieft habe.
Ob sich der Kreml für den im Juni vom Expertenrat des Duma-Ausschusses für Bildung und Wissenschaft unterbreiteten Vorschlag erwärmen wird, die FANO als Verwaltungsstruktur dem Präsidium der RAW zu unterstellen und damit der Akademie größere wissenschaftliche Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, bleibt abzuwarten.
Allerdings: dass Hochtechnologien, basierend auf den Erkenntnissen einheimischer Forschungsinstitute, bei der Modernisierung Russlands künftig die entscheidende Rolle spielen werden, dürfte dem Kreml nicht erst seit heute klar sein.
Davon zeugt nicht zuletzt das von ihm 2010 ins Leben gerufene Projekt einer „Innovationsstadt“ vor den Toren Moskaus: 2020 sollen in der „Innograd“ Skolkowo auf gut 2 Millionen Quadratmetern 35.000 Menschen leben und tätig sein. Herzstück des ambitionierten Projekts: ein Institut für Wissenschaft und Technologie (Skoltech), an dem in einigen Jahren mehr als 1.000 Graduierte interdisziplinär zu den Schwerpunkten IT, Energetik, Biomedizin, Nukleartechnologie und Weltraumforschung arbeiten werden. Skolkowo, so der damalige russische Präsident Dmitri Medwedjew, sei durchaus von Silicon Valley inspiriert, werde aber sehr schnell eigene Wege beschreiten.
Wie ernst dies gemeint war, zeigte sich bereits Anfgang 2011, als ein zentraler Projektpartner Skolkowos, das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit dem Versuch scheiterte, Skoltech nach seinem Antlitz zu formen und dementsprechend strukturell-organisatorisch zu dominieren. Durchsetzen sollte sich ein Ansatz, der neben internationalen auch russische Erfahrungen, wie sie etwa am renommierten Moskauer Institut für Physik und Technologie (MFTI) oder der Sankt Petersburger Akademischen Universität gesammelt worden waren, berücksichtigte.
Skolkowo, unterstreicht im Frühjahr 2011 der frischgebackene wissenschaftliche Leiter des Skolkowo-Projekts, Nobelpreisträger Schores Alfjorow, könne erfolgreich sein, wenn es finanziell und personell gut ausgestattet werde, die Wissenschaft in Russland wieder auf die Füße komme, indem sie ihr vorhandenes Potential, und hier insbesondere das der RAW, nutze, die politische Führung die Bedeutung der Wissenschaft für die Zukunft des Landes erkenne sowie eine enge Symbiose zwischen der Wissenschaft und Hochtechnologie-Startups gewährleistet sei.
Sechs Jahre später, im April 2017 zieht der inzwischen fast Neunzigjährige Zwischenbilanz: Das Grundproblem der russischen Wissenschaft sei weniger, dass sie unterfinanziert sei, sondern vielmehr, dass ihre Forschungsergebnisse weder von der Wirtschaft noch der Gesellschaft nachgefragt werden. Skolkowo löse dieses Problem. Unter den gegebenen Umständen komme ihm eine besonders wichtige Rolle zu.
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