20. Jahrgang | Sonderausgabe | 30. Oktober 2017

„Wir müssen noch einmal ganz von vorn anfangen.“

von Ulrich Kaufmann

Pünktlich zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution erschien der zweiaktige Dramentext „Von der Spiegelgasse in den Kreml – Lenins Reise nach Russland 1917“. Autor ist Matthias Steinbach, ein Braunschweiger Historiker mit Jenaer Wurzeln. Unter anderem hat sich Steinbach mit der Jenaer Universitätsgeschichte im Allgemeinen und mit Ferdinand Hodler (dem Maler des berühmten Bildes „Auszug der Jenaer Studenten“) im Speziellen beschäftigt. Hodler war sein erster dramatischer Held, nunmehr ist es Wladimir Iljitsch Lenin.
In zwei Akten wird vorgeführt, wie die berühmte Reise der russischen Revolutionäre unter Lenins Führung vorbreitet wurde. Diese Reise selbst und die Ankunft der Gruppe in Petersburg sind dem zweiten Part vorbehalten.
Einem historischen Drama, das ein Mann der Quellen verfasste, sollte man vertrauen können. Steinbachs Lenin ist ein Gegenbild zu dem Heroen, als den man ihn in der DDR zu sehen hatte.
Wir erleben ihn als arbeitsbesessenen Schreibtischmenschen. Er war ein Mann der Theorie, den viele Fragen des praktischen Lebens nicht interessierten. Belletristik las er kaum, dafür Fachliteratur, vor allem Zeitungen. Von den Ereignissen der Februarrevolution 1917 wurde Lenin, der seit Jahren einen Plan zu einer sozialistischen Revolution schmiedete, völlig überrollt.
Gezeigt wird Lenin als Asket, dem es zumindest in der Züricher Spiegelgasse materiell schlecht ging. Lediglich in den Gesprächen über die Frauenfrage, die er mit seiner Geliebten, der französischen Sozialistin Inessa Armand führt, wird der private Uljanow in Umrissen erkennbar. (Die Französin gehörte mit der Krupskaja dem Tross an.) Inessa fordert programmatisch die „Freiheit der Liebe“ und hält diese für „die eigentliche Revolution“. Ihr Wolodja geht indessen davon aus, dass „auch Liebesdinge“ der objektiven Logik von Klassenbeziehungen“ unterlägen. „Niemand kann allein aus Liebe…“
Bekannt ist (und von Stefan Zweig in „Sternstunden der Menschheit“ bereits 1927eindrucksvoll geschildert), dass höchste Stellen des deutschen Staates Lenins Reisepläne unterstützten und finanzierten. Die deutschen Militärs brauchten Ruhe an der Ostfront. Dieses Faktum bildet den zweiten Handlungsstrang des Stückes. Spieler und Gegenspieler verfolgen im Hinblick auf Lenins Verbringung von Zürich nach Russland zwar das gleiche Ziel, haben indessen ansonsten ganz konträre Interessen.
Der Berufsrevolutionär ist von des Kaisers Gnaden abhängig, aber stolz genug, um Almosen abzulehnen. An einen vorbereiteten, gedeckten Frühstückstisch setzen sich die Russen nicht, sondern sie essen ihren mitgebrachten Schweizer Käse.
Das Stück ist mit Präzision und Witz geschrieben. Wiederholt werden direkt oder „versteckt“ Dichter wie Becher, Brecht, Majakowski und andere zitiert. Steinbachs Buch erinnert in Teilen an die vorzüglichen Materialbücher große Theater. Geboten werden reichhaltiges Bildmaterial, eine Zeittafel, Dokumente zu den dramatischen Parteiungen (der Gruppe um Lenin und der kaiserlichen Militärführung), ein Glossar und ein konzises Nachwort. Der Text, in der Tradition des dokumentarischen Theaters stehend, ist im Umfeld des Jubiläumsjahres bestens geeignet, in szenischen Lesungen Denkanstöße zu vermitteln.
Der 2. Akt läuft im Epilog auf eine – allerdings durch einen Witz aus der DDR-Zeit in Erinnerung gebliebene – Pointe hinaus: Der wiedererwachte Lenin wird Zeuge der Feierlichkeiten zu seinem 100. Geburtstag. In Breschnews Regie wird dieser mit Parade, Feuerwerk und Wodka für alle begangen. Der verwirrte Lenin will zurück in die Schweiz. Seine letzten Worte im Stück sind: „Wir müssen noch einmal ganz von vorn anfangen.“ (Im DDR-Witz hatte der Revolutionsführer dies angesichts der Zustände in der Sowjetunion ausgerufen.)

Matthias Steinbach: Von der Spiegelgasse in den Kreml. Lenins Reise nach Russland 1917. Szenische Lesung in zwei Akten, Metropol Verlag, Berlin 2017, 140 Seiten, 16,00 Euro.