20. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Weltrekordler, ein Jubiläumsrad, eine Schatzkiste voll Fotos…

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Sein erstes Engagement unterschrieb er am 9. September 1940 bei den Schlesischen Landesbühnen; Monatsgage: 180 Reichsmark. Und im Stadttheater Brieg bei Oppeln (heute: Brzeg/Polen) gab’s für den 19-jährigen Anfänger Herbert Köfer die erste Rolle: Den Kronprinzen Friedrich im Historiendrama „Katte“, das von der süßen, verbotenen Freundschaft zwischen dem preußischen Königssohn und dem Leutnant Hermann von Katte erzählt, von der Flucht der beiden aus der Militärmaschinerie und schließlich von der Hinrichtung Kattes auf der Oder-Festung Küstrin; Friedrich wurde gezwungen, Zuschauer des grausigen Spektakels zu sein – eine anspruchsvolle Rolle für den Jungschauspieler, der es da allen gleich zeigen konnte, was er drauf hat.
Das war vor 77 Jahren. Damit ist der heute 96 Jahre alte und in allen Fächern von Satire bis Tragödie erprobte Schauspieler der, wie es korrekt heißt, „dienstälteste, noch aktive Schauspieler der Welt“. Ein sensationeller Titel, mit dem ihn das Rekord-Institut für Deutschland jetzt ganz amtlich mit Urkunde ehrte. Auf die Frage von Journalisten, wann er denn abtreten wolle, sagte der rüstige Rentner, der vor drei Jahren erst seine 153-Quadratmeter-Neubauvilla am Seddiner See im Brandenburgischen bezog: „Das entscheide ich nach meinem Befinden. Im Moment bin ich fit und plane bis zum 100. Geburtstag.“ – Mit seinem Ensemble „Köfers Komödiantenbühne“ geht der Volksschauspieler im Herbst mit dem Schwank „Ein gesegnetes Alter“ von Curth Flatow wieder auf Tour.

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Das Riesenrad im Wiener Prater: Vor einem Jahr erst wurden die 15 Waggons aus der Nachkriegszeit gegen neue getauscht, die nach den Originalplänen von 1896 aus Holz gefertigt, aber mit neuzeitlichem Komfort (Klimaanlage!) ausgestattet wurden. Ursprünglich hatte das weltberühmte Wahrzeichen der Stadt im Prater-Vergnügungspark 30 Kabinen, doch bei seinem Wiederaufbau 1946 nach beträchtlichen Kriegsbrandschäden fürchtete man um die Stabilität der Konstruktion.
Der Anlass zum Bau des populären Monstrums mit genau 60,96 Metern Durchmesser war primär kein volkstümlicher. Vielmehr wollte man das Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph spektakulär mit Hightech feiern und aller Welt Kakanien als modern und fortschrittlich präsentieren. Aber: man musste importieren: Die Ingenieure Walter Basset und Hubert Booth kamen aus England; eigens engagierte Dolmetscher übersetzten deren Anweisungen für die Wiener Monteure; der verarbeitete Stahl kam aus Schottland. Offiziell eingeweiht wurde das Rad im Sommer vor 120 Jahren, aber nicht als das erste seiner Art in der Welt, wohl aber als das damals höchste: 64,75 Meter vom Erdboden bis zum höchsten Punkt. Heutzutage gibt es doppelt so hohe: London Eye misst 135 Meter. Trotzdem und trotz des womöglich spektakuläreren Panoramablicks vom Kahlenberg am Stadtrand, wo einst die Zweite Wiener Türkenbelagerung durch polnische Panzerreiter 1683 rigoros beendet wurde: Es gehört sich einfach für jeden Touristen, die zehn Euro zu berappen und in 30 Minuten im gemächlichen Tempo (2 km/h) zwei Mal zu kreisen. Am besten, man hat eine Büchse Ottakringer Bier dabei.

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1883 geschah die Sensation: Das erste gedruckte Foto. Was bis dato nur als Zeichnung oder Holzschnitt ging, machte die Leipziger Illustrierte Zeitung mit einem Foto. Das Motiv – die Ablichtung eines Gralsbechers aus einer „Parsifal“-Inszenierung – war zwar auch damals nicht sonderlich aufregend, doch die technische Innovation war epochal. Ein globaler Aufreger!
Möglich wurde das optische Wunder durch Autotypie, die Erfindung des Rasterdrucks von Fotos. Damit war die Foto-Illustration geboren, das Genre der Fotoreportage kam auf ‑ mithin das Fotomagazin. Eine mediale Revolution, der die Sachsen leider nicht gewachsen waren, weshalb sie ihr Blatt ein Jahr später (1884) verkauften an den Berliner Ullstein-Verlag mit seiner Berliner Illustrierten Zeitung (BIZ). Der investierte sofort in eine eigene Bildätzerei sowie in Rotationsdruckmaschinen. Und die BIZ-Auflage stieg von 23.000 zur Jahrhundertwende auf 52.000. 1915 überstieg sie die Millionengrenze, 1931 waren es dann sagenhafte zwei Millionen, womit die BIZ zur reichweitenstärksten und einträglichsten deutschen Zeitschrift avancierte. Sie machte Ullstein zu einem Großkonzern und die Fotografie zur eigenständigen Kunstform. Im Schoß der in jeder Hinsicht scharfsichtigen BIZ-Redaktion mit ihren kühnen Layoutern sowie ihren inzwischen berühmt gewordenen, bestbezahlten und experimentierfreudigen Fotografen entwickelte sich die Fotoästhetik immer weiter, immer wirkmächtigerer. Hier nur drei Namen aus der Bestenliste: die Brüder Otto und Georg Haeckel mit ihren Berlin- und Afrika-Fotos, Erich Salomon mit seinen Promi-Fotos, Martin Muskacsi mit seinen großen Fotoreportagen aus aller Welt.
Diesen grandios technisch-künstlerischen Prozess dokumentiert erstmals in dieser Fülle eine Ausstellung im Berliner Deutschen Historischen Museum (Pei-Bau) in Zusammenarbeit mit der Axel Springer Syndication; Titel: „Die Erfindung der Pressefotografie. Aus der Sammlung Ullstein 1894–1945“.
Die profunde Darstellung des Fotojournalismus in Deutschland von der Pionierzeit bis 1945, dem Ende des Verlags – 1934 wurde Ullstein arisiert und bis zuletzt in den Dienst der NS-Propaganda gestellt –, diese einzigartig fulminante Schau wurde dadurch möglich, dass per Zufall das nach 1943 ausgelagerte Ullstein-Bildarchiv mit fünf Millionen Fotos – was für ein kunst- und kulturgeschichtlicher Schatz! – den Zweiten Weltkrieg überlebte. Die dazugehörige papierne Ausschnittsammlung hingegen verbrannte.
Der legendäre Chefredakteur der BIZ von 1905 bis 1933, Kurt Korff, über die Leitidee seiner Arbeit: „Die Zeitschriften der früheren Jahrzehnte brachten im Wesentlichen mehr oder minder ausführliche Texte, die durch Bilder illustriert wurden. Aber erst zu einer Zeit, in der das Leben ‚durch das Auge‘ eine stärkere Rolle zu spielen anfing, war das Bedürfnis nach visueller Anschauung so stark geworden, dass man dazu übergehen konnte, das Bild selbst als Nachricht zu verwenden.“ – Übrigens, der große Korff emigrierte nach seinem Rausschmiss in die USA, wo er später die Arbeit des Life-Magazins mit prägte. Die zahlreichen, gleichfalls nicht mehr „tragbaren“ jüdischen Mitarbeiter, meist Stars ihrer Branche, flohen ins Ausland oder wurden ermordet. Die „arische“ Belegschaft schaute weg, passte sich mehr oder weniger schamlos an.
Natürlich war es Korff, der maßgeblich das BIZ-Themenspektrum beeinflusste und somit Sorge trug, dass es – als ein Garant für hohe Auflagen ‑ voll auf die Interessen eines Massenpublikums einging. Kurt Korffs Erfolgsrezept: Die permanente Suche nach dem überwältigend originellen Blick auf die Realität. Und: Ein geschickter, den Aktualitäten entsprechender Mix aus eigentlich allem; aus Politik, Weltgeschehen, Wissenschaft, Soziales, Sport, Mode, Kunst (auch sonderlich der Avantgarde), Abenteuer, Reise, Klatsch, Preisausschreiben, Rätsel, Fortsetzungsromane wie überhaupt Literatur und – mit Aufkommen des Kinos – Film; Filmkunst und BIZ-Fotokunst wurden quasi wie Zwillinge parallel erwachsen.
Grob gesagt gliederten die Kuratorinnen Carola Jüllig (DHM) und Katrin Bomhoff (Ullstein/Springer) die Schau in drei Kapitel. Erstens: Kaiserreich (Porträts der so genannten feinen Gesellschaft mit den ersten Paparazzi-Bilden etwa von der Abdankung des Kaisers, der Fotograf hatte sich in einem Heuwagen versteckt), Erster Weltkrieg mit dem Einzug des Politischen und grausam Dramatischen in die BIZ. Dann zweitens: Die Weimarer Republik mit dem programmatischen und höchst umstrittenen (weil als Skandal empfundenen) Titelbild Reichspräsident Ebert und Reichswehrminister Noske in sackartiger Badehose gemeinsam in der Ostsee bei Travemünde im August 1919. Und schließlich drittens: Die NS-Ära mit formal perfekten Fotos, freilich manipulativ aufgeladen mit nationalsozialistischer Propaganda – signifikantes Beispiel für Größe wie Hybris der Fotografie beziehungsweise des Bild-Journalismus. Der grandiose Parcours durch historische, technische, künstlerische Epochen ist ungemein lehrreich und obendrein höchst amüsant. Ein Bildungs- und Kunstereignis ohnegleichen.

(Noch bis zum 31. Oktober. Der Katalog kostet 19,80 Euro.)