20. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2017

Hommage an Sigrid Damm

von Renate Hoffmann

Ulrich Kaufmann, promovierter Germanist, Verfasser zahlreicher Arbeiten zur deutschen Literatur, begleitete Sigrid Damm, die Schriftstellerin, Herausgeberin, Rezensentin, Erzählerin, Essayistin – an die dreißig Jahre. Aus der Nähe, aus der Ferne. In Zwiegesprächen, als Kenner und aufmerksamer Betrachter ihrer Werke und in Verfolg ihres Reifegangs zur bedeutenden Autorin. Er tut dies in zwanzig Beiträgen kund, lenkt die Aufmerksamkeit auch auf Damms Frühwerk, das noch wenig beachtet im Winkel schlummert, und fügt zur Rundung des Bildes der klugen ungewöhnlichen Frau sieben ihrer Essays hinzu. Er ist der rechte Mann für eine angemessene Würdigung der Schriftstellerin.
Ulrich Kaufmann begibt sich mit derselben Genauigkeit, wie man sie auch von Sigrid Damm kennt, in ihre Themenwelt. Forscht, versucht zu ergründen, befragt die Texte und deren Verfasserin. Stets mit dem gebotenen Taktgefühl, wie es auch der Autorin eigen ist. Man erhält Einblicke in ihr Leben, das im thüringischen Gotha beginnt und sich in manchen ihrer Bücher spiegelt. Unter anderem in „Ich bin nicht Ottilie“ und „Wohin mit mir“.
Goethe? Ja! Aber nicht nur er. Caroline Schlegel-Schelling beschäftigte Sigrid Damm. Sie gab eine Auswahl ihrer Briefe heraus und verhalf dieser Vertreterin der Frühromantik wieder zur verdienten Wertschätzung. „Begegnung mit Caroline“. Christiane Vulpius, gewürdigt und neu gesehen in der großen Doppelbiografie „Christiane und Goethe. Eine Recherche“. Der Dichter vollbrachte in den achtundzwanzig Jahren des Zusammenlebens mit seinem „kleinen Naturwesen“ Großes. „Christiane hat … ihren Anteil daran, gibt ihm Freiheit und Rückhalt für sein Werk, lebt im Spannungsfeld dieser mit ständigen Krisen und Depressionen verbundenen Produktivität … Wie hat sie das geschafft? Welche Energie, Kraft musste in ihr sein.“ (Sigrid Damm im Gespräch mit dem Autor). – Diese andere Sicht auf Situationen und Handlungsweisen, abseits von Klischees und oberflächlicher Beurteilung, macht einen der großen Vorzüge im Werk der Schriftstellerin aus.
Man wird einen „neuen“ Schiller finden, meint Kaufmann, wenn er über Damms „Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung“ schreibt. Und er weist auf die Gründlichkeit ihrer Recherchen hin, die sie mit Beharrlichkeit betreibt; auch auf den gewissenhaften Umgang mit Fakten. Wo diese im historischen Ablauf Lücken hinterlassen, füllt sie vorsichtig auf. Mit Fantasie und sorgsam abwägend. Man denkt an „Dichtung und Wahrheit“. Doch kennzeichnet die Autorin solche Übergänge. Das besorgen Sätze wie: „Wir wissen es nicht“ oder „so mag es vielleicht gewesen sein.“
Schwierig in diesem Sinne gestalteten sich die Vorarbeiten zur Biografie eines Literaten des „Sturm und Drang“. Lenz. Der Jugendfreund Goethes. Lyriker, Erzähler, Dramatiker. Letztendlich aber ein gescheiterter, psychisch kranker Mensch, dessen Leben auf einer Moskauer Straße endet. Sigrid Damm zeichnet ein bewegendes Bild von ihm. Sie füllt die „Lücken“ mit dem Gespür für das Mögliche und enthält sich eines voreiligen Urteils. „Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz“.
Die Autorin ist eine langsame Schreiberin, wie sie selbst bekennt. „Ein Buch braucht seine Zeit. Muss wachsen.“ Ein Großteil dieser Zeit beansprucht das Auffinden von Material: „Die Aneignung der Orte, Räume, Landschaften ist für mich als Voraussetzung für das Schreiben wichtig“, betont sie. Jeder gewissenhafte Schreiber kennt das: ein Vielfaches aufsammeln, um getrost daraus zwei Sätze formulieren zu können. Was der Schriftstellerin hilft? „Meine Glücksumstände sind mir nahe Menschen, Freunde, die verstehen, warum ich während des Schreibens so zurückgezogen leben muss …“ (Sigrid Damm im Gespräch mit dem Autor)
Diese Zurückgezogenheit sucht und findet sie vor allem bei längeren Reiseaufenthalten. Schottland, Lappland, Italien. Den Besuch im Süden erlebt sie allerdings mit Einschränkungen, was die Ruhe angeht. „Diese Einsamkeit ohne Überfluss“, das Schottland-Buch. Ulrich Kaufmann nennt es „ein stilles Buch.“ – „Tage- und Nächtebücher aus Lappland“, in denen Stimmungen, Nachdenklichkeit, Gedankenspiel und Landschaft ineinander fließen. Im sehr persönlich gehaltenen Italien-Buch „Wohin mit mir“ ist Goethe – wie soll es anders sein – ihr Begleiter, zumal sie in Rom die „Casa di Goethe“ bewohnt.
Von den Freundschaften erfährt man zumeist aus den Gesprächen und Essays. Sie gelten, neben anderen, Franz Fühmann, Volker Braun und den Strittmatters. – Mit Sigrid Damm teile ich die Begeisterung über Franz Fühmanns Kinderbuch „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm zu Babel“. In ihrem Essay „Ein Spielbuch in Sachen Sprache“ schreibt sie: „Er lehrt Kinder auf vergnügliche Weise denken, indem er das Instrument des Denkens, die Sprache, erklärt. Spielerisch: in einem Sachbuch der Sprachspiele, einem Sprachbuch voll Spielsachen, einem Spielbuch in Sachen Sprache.“ Wie köstlich Sigrid Damm die Sprachspiele mitspielt … Es steckt so viel Vergnügen und Einfallsreichtum in ihrer Schilderung, dass man umgehend in Fühmanns Spielsprachsachbuch blättern möchte.
Der Anhang gibt Auskünfte über: Sigrid Damm – Buchveröffentlichungen, Editionen, Übersetzungen ihrer Bücher, Hörbücher, Nennung der ausgewählten Essays. Ulrich Kaufmann – Drucknachweise, Kurzbiografie, jüngste Arbeiten. Die Ausgabe ist mit Abbildungen versehen. – Eine gelungene und lesenswerte Würdigung.

Ulrich Kaufmann: Die Schmerzgezeichneten müssen es sein … Zum Werk von Sigrid Damm. quartus-verlag, Bucha bei Jena 2017. 192 Seiten, 17,99 Euro.