Verunglückte Fallbeschreibungen

von Frank-Rainer Schurich

Wer das Buch gelesen aus der Hand legt, fragt sich, ob das die neue Art ist, authentische Kriminalfälle aus der DDR aufzuschreiben. Es ist ein bisschen wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, von Robert Louis Stevenson in der gleichnamigen Erzählung aus dem Jahr 1866 so eindrucksvoll beschrieben. Gut und schlecht zugleich. Vier Kriminalfälle werden lang und breit erzählt. Die ersten beiden sind unter dem Gesichtspunkt der Aufklärung unspektakulär; die Spannung hält sich also sehr in Grenzen.
Die dritte Geschichte, die Kremserfahrt in den Tod, die dem Buch den Titel gab, wird zwar fesselnd erzählt, ist aber sachlich und juristisch falsch. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass sich die Morde so gar nicht abgespielt haben. Rainer F., der bei dem Autor Ralf Romahn Manuel Schneidereit heißt, wird nicht in der DDR zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, sondern erst nach dem Ende der DDR zu zehn Jahren Gefängnis, und zwar für den Mord an Gino S., der in keinem Kremser gesessen hatte. Nur in diesem Fall reichte die objektive Spurenlage für eine Verurteilung aus. Die Geständnisse zu den beiden anderen getöteten Kindern widerrief Rainer F. – es waren die Morde an Melanie M., auch nicht in einem Kremser, und Christian G., den Rainer F. am 17. September 1988, und nicht am 7. Oktober 1988, dem Tag der Republik, wie Romahn demonstrativ schreibt, bei sich in einem Kremser aufgenommen haben soll.
Das Loch in der Mauer, so der Titel des vierten Kriminalfalls, meint einen Sprengstoffanschlag auf die Berliner Mauer von Westberliner Seite mit einem Zentner TNT, und zwar am 27. Juli 1988 gegen vier Uhr morgens in der damaligen Reinhold-Huhn-Straße/Ecke Charlottenstraße 79. Romahn jagt natürlich nicht den Täter, was mehr oder weniger Aufgabe der Westberliner Polizei war, sondern begutachtet die volkswirtschaftlichen Verluste. Fast eine Millionen DDR-Mark Schaden hatte die Detonationswelle an und in Gebäuden angerichtet, bis zur Leipziger Straße und darüber hinaus.
Romahn, zuletzt nach dem Text auf der Rückseite des Buches Leiter des Dezernats „Leben und Gesundheit“ in Berlin-Ost (er war dafür im Sommer 1990 zwar dafür vorgesehen, die neue Struktur wurde aber nicht mehr realisiert), berichtet selbstbewusst, dass er Mitte 30 schon Oberstleutnant der K war: „[…] das sind die meisten nicht mal mit fünfzig“. Ansonsten rühmt er sich damit, dass er Erich Honecker vernommen hat, was ja keinerlei Nachweis von kriminalistischer Meisterschaft darstellt. Dass er über ehemalige Kollegen herzieht, macht das Buch nicht besser. Über Manfred Kolbe, den Chef der Kriminalpolizei in Berlin, schreibt er: „Er war schon ein rechter Einfaltspinsel.“ Ein solches Nachtreten macht man einfach nicht.
Und das Gute am Buch? Sowohl die politische Wertung des Mauerbaus als auch das Staatsverbrechen „Celler Loch“ findet man im Buch. 1978 hatten GSG-9 Experten im Auftrag des niedersächsischen Verfassungsschutzes ein Flucht-Loch in die Mauer der JVA Celle gesprengt. Die Aktion sollte V-Leuten den Eintritt in die Terroristenszene der RAF verschaffen. Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), dessen Tochter Ursula von der Leyen später in der BRD noch eine Rolle spielen sollte, verteidigte Auftraggeber (Minister!) und Bombenleger im Interesse einer „wehrhaften Demokratie“: „Wir mussten die Öffentlichkeit täuschen, um die Terroristen zu täuschen.“ Das Verhältnis zur Spezialkommission IX/7 des MfS wird von Romahn sachlich geschildert, und die dort agierenden Personen werden als gut ausgebildete Kriminalisten beschrieben.
Das Buch glänzt nicht gerade durch vielerlei Nebenstränge, die nach dem System der Ideenflucht wahllos aneinandergereiht werden, beispielsweise Gedanken zum Alkohol am Steuer in der DDR. Zwei Kommentare aus der Prawda und aus dem Neuen Deutschland vom 12. August 1986 werden auf fast vier Seiten nachgedruckt, obwohl sich ein lesbares Faksimile aus Letzterem in das Buch aufgenommen wurde. Irgendwie musste man ja auf 207 Seiten kommen… Auch einige Abbildungen haben mit dem Thema rein gar nichts zu tun, wie zum Beispiel der „Streichelzoo für Kinder am Rande vom Volksfest“.
Man hat überhaupt den Eindruck, dass ein Ghostwriter schnoddrige („Gitti erfüllte zwar die Volksweisheit, derzufolge dumm gut ficke …“) und ausholende Zwischentexte geschrieben und der Autor dazu ein paar Formulierungen geliefert hat, wobei er wohl aufs notwendige Aktenstudium gänzlich verzichtete. Einfach nur schade. Die Kriminalisten der DDR haben eine andere Fallaufarbeitung verdient.

Ralf Romahn: Kremserfahrt in den Tod. Authentische Kriminalfälle, Das Neue Berlin, Berlin 2017, 207 Seiten, 12,99 Euro.