20. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2017

Luftnummer

von Sarcasticus

Der 6. April hatte in den USA schon seit längerem historische Bedeutung. Vor exakt 100 Jahren war Amerika an diesem Tag in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Nunmehr ist der 6. April auch als der Tag in den Annalen vermerkt, an dem ein amtierender US-Präsident einen massiven Militärschlag gegen ein anderes Land anordnete und wenig später vergessen hatte, gegen welches. In einem Interview jedenfalls meinte er „Irak“. Es war jedoch Syrien.
Vorangegangen war am 3. April ein Chemiewaffeneinsatz in dem syrischen Ort Khan Sheikhoun. Es soll sich um das Nervengas Sarin gehandelt haben. 85 Menschen kamen zu Tode, darunter zahlreiche Kinder. Die grauenhaften Bilder der Opfer gingen um die Welt. Drei Tage später feuerten zwei US-Zerstörer aus dem Mittelmeer 59 Tomahawk-Marschflugkörper auf die syrische Luftwaffenbasis Al-Schairat ab, von denen – nach russischen Angaben – nur 23 trafen; die sollen sechs Kampfjets zerstört, die Startbahn hingegen intakt gelassen haben. Nach syrischen Angaben starben bei dem Angriff auch sieben Zivilisten, darunter vier Kinder. Nach offizieller US-Lesart war der Schlag eine direkte Reaktion auf den Giftgas-Einsatz, der von Al-Schairat aus erfolgt sein soll.
Der US-Angriff sollte zugleich ein globales Signal setzten. Das machte kurz darauf US-Außenminister Rex Tillerson deutlich, als er erklärte: „Wir verschreiben uns wieder dem Ziel, jeden in der ganzen Welt zur Rechenschaft zu ziehen, der Verbrechen an Unschuldigen verübt.“ Allerdings war Tillersons moralisierendes Pathos dabei reinste Hollywoodschmiere, denn es war zuvor natürlich keine Bombardierung jener Navy Seals erfolgt, die bei einem ihrer Hit-and-Run-Einsätze im Jemen im Januar 20 Dorfbewohner, darunter Kinder, getötet hatten, und auch jene US-Bomberpiloten waren nicht behelligt worden, die am 17. März bei einem Luftangriff auf einen Wohnblock in West-Mossul geschätzte 200 Zivilisten massakriert hatten.
Bereits vor dem jetzigen US-Luftschlag gegen Syrien hatte Thomas Wiegold in seinem Blog „Augen geradeaus!“ die bisherigen Monate der Trump-Administration folgendermaßen bilanziert: „Die Luftangriffe der US-geführten internationalen Koalition gegen die islamistischen ISIS-Milizen im Irak und in Syrien haben […], nach allen bisher bekannt gewordenen Informationen, zu zahlreichen zivilen Opfern geführt. Vor allem die USA stehen in der Kritik und müssen sich die Frage gefallen lassen, ob seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump und seinem angekündigten härteren Kurs gegen ISIS weniger Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen wird.“ Wiegold zitierte anschließend die jeglichen Anti-Amerikanismus‘ unverdächtige US-Soldatenzeitschrift Stars & Stripes: „Ein scharfer Anstieg der Zahl der […] bei US-geführten Luftangriffen in Irak und Syrien getöteten Zivilisten verbreitet Panik, vertieft Misstrauen und löst Anklagen aus, dass die Vereinigten Staaten und ihre Partner mit einer präzedenzlosen Missachtung des Lebens von Nichtkombattanten agieren könnten.“
Doch zurück zu dem amerikanische Luftschlag gegen die Basis Al-Schairat und dessen Begründung. Während seines Aufenthaltes in Moskau in der Woche nach dem US-Angriff versicherte Tillerson, der Schlag sei auf der Grundlage überzeugender Beweise für die Schuld Assads erfolgt. Die sind bisher nicht vorgelegt worden. Nicht einmal in so trüglicher Weise wie weiland vor dem zweiten Irakkrieg durch den damaligen US-Außenminister Colin Powell im UN-Sicherheitsrat. Da kommt selbst ein ausgewiesener Alt-Atlantiker wie der frühere Chefredakteur der ZEIT, Theo Sommer, nicht umhin festzustellen: „Waren es wirklich Assads Kampfjets, welche den entsetzlichen Giftgasangriff ausgeführt haben? Die US-Generäle Mattis und McMaster, Verteidigungsminister der eine, Nationaler Sicherheitsberater der andere, erklärten sich ‚highly confident‘, sehr zuversichtlich, dass es so war. […] Aber wen beschlichen da nicht Zweifel, der sich an Präsident Johnsons Tongking-Fälschung im Vietnam-Krieg erinnerte, oder auch an den herbeigelogenen Krieg George W. Bushs gegen den Irak, dem wider besseres Wissen der Besitz von Massenvernichtungswaffen angedichtet wurde?“
Was das Stichwort Beweislage anbetrifft, so sei nicht zuletzt an einen weiteren „Giftgaseinsatz Assads“ erinnert – jenen vom 21. August 2013 in der Region Ghuta östlich von Damaskus, bei dem weit über 1.000 Menschen getötet worden waren. Die Schuldzuweisung an die Adresse des syrischen Regimes war im Westen auch seinerzeit schnell zur Hand, obwohl sich allein wegen des zu erwartenden verheerenden internationalen Echos und des zweifelhaften militärischen Sinns des Einsatzes zumindest die Frage stellte, welches Kosten-Nutzen-Kalkül des Diktators diesem barbarischen Akt eigentlich zugrunde gelegen haben sollte. Später wiesen gravierende Verdachtsmomente eher auf eine Aktion des türkischen Geheimdienstes MIT in Kooperation mit der damaligen dschihadistisch-salafistischen al-Nusra-Front hin. Amerikanische Geheimdienste hätten frühzeitig davon Kenntnis gehabt, so der US-Enthüllungsjournalist Seymour Hersh bereits im Dezember 2013 in seinem Beitrag „Whose sarin?“, weswegen Präsident Obama damals kein grünes Licht für einen Angriff auf Syrien gegeben habe.
Ohne Beweise ist der jetzige Luftschlag ein Kriegsverbrechen, nämlich ein völkerrechtswidriger Aggressionsakt gegen einen anderen Staat und dessen Souveränität. Eine solche Bewertung wird auch nicht dadurch falsch, dass der russische Präsident Wladimir Putin sie ebenfalls getroffen hat. (Nur in Klammern: Trump dürfte sich damit en passant schon einmal dafür qualifiziert haben, zu einem der nächsten evangelischen Kirchentage hierzulande als Stargast eingeladen zu werden. Das war ja auch seinem Vorgänger Obama widerfahren – jenem Friedensnobelpreisträger, der durch zahlreiche von ihm autorisierte völkerrechtswidrige Tötungsangriffe via Drohnen in Pakistan, Somalia, Jemen und anderenorts den Tod von Zivilisten billigend verschuldet hatte. Eine offizielle US-Schätzung während Obamas zweiter Amtszeit sprach zwar von „nur“ 64 bis 116 Personen allein bis Ende 2015, andere Quellen aber listen bis zu 2.000 Opfer und mehr auf.)
Und noch ein weiterer Aspekt von politischem Gewicht: Manche Kaffeesatzdeuter in den Medien ergingen sich nach dem Angriff vom 6. April in Deutungsversuchen, ob dieser Akt Zeichen eines Strategiewechsels von Trump sei, und DER SPIEGEL fragte sich, was „Trumps Wende in der Außenpolitik zu bedeuten“ habe. Ein Schweizer Blatt titelte gar: „Trump greift Syrien an: Radikaler Kurswechsel“. Aber: Eine Syrien-Strategie, die diesen Namen verdiente, war zuvor ebenso wenig erkennbar gewesen wie irgendeine andere und konnte schon von daher jetzt weder „gewendet“ noch „gewechselt“ werden. 2013, nach dem Ghuta-Massaker, hatte Trump gefordert: „Präsident Obama, greifen Sie nicht Syrien an.“ Noch wenige Tage vor dem jetzigen Luftschlag hatte der nunmehrige US-Präsident zu verstehen geben lassen, der Sturz Assads sei nicht mehr oberste amerikanische Priorität. Und nach dem Luftschlag? Nun also doch Sturz, wie jetzt verlautbarte? Mal sehen, wie lange das Verfallsdatum dieser Volte währen wird…
Vor diesem Hintergrund scheint Theo Sommers kürzliches Resümee im Großen und Ganzen zuzutreffen: „Es waren wohl eher innenpolitische Motive, die Trump zum Losschlagen veranlassten. An der Heimatfront hat er in 70 Tagen nichts zustande gebracht. Die Gesundheitsreform und das Einreiseverbot sind krachend gescheitert und die Umfragewerte des Präsidentenlehrlings sind im Keller. Da musste es verlockend erscheinen, sich ungehindert von Kongress und Justiz an der auswärtigen Front hervorzutun. So konnte er von seinem innenpolitischen Scheitern ablenken; konnte sich von seinem Vorgänger absetzen; konnte gleichzeitig die Unterstellung entkräften, er sei eine Marionette Putins; und konnte obendrein den Eindruck vermitteln, er habe sich vom Amateur zum ernsthaften Staatsmann gewandelt. […] Ich wäre froh, wenn ich mich täuschen sollte. Wenn der syrische Warnschuss sich wider Erwarten als Auftakt zum Friedensgeläut herausstellen würde, nicht als erste Salve in einer vermeidbaren, kriegsträchtigen Konfrontation. Und wenn der alte Trump, der sich kaltherzig der Aufnahme syrischer Flüchtlinge verschließt und sich ansonsten durch Sprunghaftigkeit, Unbelehrbarkeit und schlichte Ahnungslosigkeit hervortut, nicht doch immer wieder in dem neuen Präsident im Oval Office durchbräche.“