20. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2017

Nachdenken unterwegs

von Erhard Weinholz

Zu Weihnachten wollte ich einmal etwas Besonderes auf dem Teller haben. Die Restaurants waren mir jedoch zu teuer, selber zu kochen hatte ich wenig Lust. Am Imbiss im Kaufpark draußen in Eiche aber gab es gebratene Enten für elf Euro das Stück. Vier Mahlzeiten sind das immerhin. Ente – Flugente – hatten wir zu Hause bei meinen Eltern fast jedes Jahr am 1. und am 2. Feiertag gegessen.
Drei Tage sind es noch bis Heiligabend, da fahre ich mit der Straßenbahn hinaus an den östlichen Rand Berlins. Spätherbstlich kühl ist es an jenem Vormittag, windstill und sonnig; an Winter und Weihnachten erinnern nur die Dekorationen. Die Sache lässt sich gut an: Die Bahn kommt pünktlich und ist nur mäßig besetzt. Während wir rasch dahinfahren, vorbei am Friedrichshain, an Alt- und immer mehr Neubauten, denke ich über dies und jenes nach, unter anderem über die Macht des Unglücks: Wenn so eine Fahrt schlecht beginnt, mit einer Strafzahlung zum Beispiel, dann ist sie einem im Grunde bis zuletzt vermiest, egal wie sie endet. Beginnt sie hingegen angenehm, dann bringt einem das, sollte sie schlecht enden, auch nicht viel.
Nach einer guten Viertelstunde, der Ringbahnbereich liegt schon hinter uns, kommen wir in ein weites Gelände, das der Stadtatlas als Industriegebiet ausweist. Linkerhand die große Brache, das war einmal das Areal des VEB Elektrokohle Lichtenberg. Von hier aus wurden im Auftrag des ZK Wettbewerbe der Betriebe gestartet. Und der demolierte Bau, durch dessen Tor man auf die Hallen vom Asiamarkt schaut, das war das Kulturhaus des VEB. In den Häusern links und rechts davon hatte man längere Zeit Flüchtlinge oder Übersiedler untergebracht, jetzt stehen sie leer und verfallen vollends. Es wechseln nun Auto-Center mit Werkstätten und Bürobauten, dazwischen ein altes Mietshaus, das aussieht, als habe man es in Pankow oder Weißensee aus einer Straßenzeile fein säuberlich herausgeschnitten und mit allen seinen Kellern hier wieder eingepflanzt.
An der Rhinstraße, wo die Allee der Kosmonauten beginnt, ändert sich das Bild noch einmal: Von nun an herrscht über lange Strecken der Neubau unumschränkt. Und zwar der typische DDR-Neubau, passend zum System in diesem Lande: Wohnungen vom Erdgeschoß bis unters Dach, kein Platz für Eigeninitiativen, für Werkstätten, kleine Läden, Cafés. In jedem Wohngebiet die immergleiche Kaufhalle, immergleiche Klubgaststätte, die mal so, mal so ausstaffiert wurde und hier Kalinka, dort Schillerglocke hieß, vielleicht noch eine kleine Kneipe unten in einem der Turmhochhäuser, das war’s. Und die Straße war nicht mehr Ort der Begegnung, des Gesprächs, war nur noch Verkehrsader. Besonders deutlich habe ich das 1992 bei der antirassistischen Demo in Rostock-Lichtenhagen gespürt: Wir liefen mitten im Viertel durch menschenleeres Gelände.
Missfallen hatte mir diese Art von Stadtgestaltung aber schon viel früher. Für eine Veranstaltung im Pankower Friedenskreis hatte ich zu dem Thema auf großen Bögen Packpapier allerlei Thesen notiert, ein paar Ideen stammten aus der aktuellen Nummer von form + zweck, der Fachzeitschrift für industrielle Formgestaltung. Um innerstädtische Rekonstruktion ging es in diesem Heft 1/1983; ich wollte daraus auch zitieren, rief beim Chefredakteur an, doch der stöhnte nur: Kirche, das hat mir gerade noch gefehlt! Er hatte, wie ich dann hörte, wegen dieser Nummer ein Parteiverfahren am Halse und musste im Jahr darauf die Redaktion verlassen.
Inzwischen fahren wir durch Marzahn. Wie Marzahn aussieht, weiß man: Brachflächen, Neubauten, Einkaufszentren. Bald wird es Zeit umzusteigen, von meiner 8 in die 6. Es folgt auch gleich eine 6, sonderbar nur, dass sie laut Anzeige ins Stadtinnere fährt, während die 8 doch stadtauswärts unterwegs war. Wahrscheinlich eine Fehlanzeige. Ich denke weiter an dies und das, mitunter auch an nichts, draußen noch immer Brachflächen, Neubauten, Einkaufszentren – da erscheint auf der Anzeigetafel das Wort Rhinstraße. Staunen hilft nichts, ich muss raus. Doch wieder habe ich Glück: Nach zehn Minuten kommt der Expressbus Richtung Eiche, auf breiter Fahrbahn geht es zügig voran, rasch ist das Ziel erreicht. Der Kaufpark liegt zur Linken, ich wechsele die Straßenseite – und schon bin ich im Land Brandenburg. Müller hat hier nichts mehr zu melden, hier herrscht … wie heißt er denn bloß, Platzecks Nachfolger? Egal, auf alle Fälle bin ich jetzt unter die Ausländer geraten. Ja, so dachte man in Deutschland noch vor hundertfünfzig Jahren: Die Mecklenburger, Sachsen und so weiter galten den Preußen als Ausländer, umgekehrt war es ebenso. Im Übrigen genossen die Sachsen damals bei staatstreuen Berlinern keinen guten Ruf: Sie galten im Verein mit Juden und Franzosen als Revolutionsanstifter. Immer von draußen, von drüben kam das Böse hierzulande.
Der Grillstand ist bald gefunden, schön knusprig sehen die Enten dort aus, und ich muss auch nicht lange anstehen. Zuletzt fahre ich eine Treppe höher ins große Kaufpark-Selbstbedienungsrestaurant. Unten rasseln zu Hunderten die Einkaufswagen, hier oben ist es um die Zeit, halb elf, recht ruhig. Man kann vielerlei frühstücken, Käse, Wurst und Rollmöpse, Kuchen, Suppen und Desserts; die Brötchen sind allerdings verdammt teuer, es empfiehlt sich, nur eines als Feigenblatt zu kaufen und die übrigen einzuschmuggeln. Ich suche mir einen Platz am Fenster und genieße ungestört. Man könnte hier Stunden verweilen, dabei lesen, schreiben, nach draußen schauen, sich Gedanken machen über die Menschen, die hier verkehren. Vielleicht kommt man mit manchen auch ins Gespräch.
Die Ente, dies zuletzt noch, erwies sich als recht fleischig, doch so gut wie jene, die meine Mutter einst bei uns zu Hause aufgetischt hat, so gut schmeckte sie nicht.