20. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2017

Iskander-Raketen in Kaliningrad

von Jerry Sommer

Satellitenbilder deuten darauf hin, dass Russland begonnen hat, in seiner Exklave Kaliningrad Hallen zu bauen, in denen die sogenannten Iskander-Raketen permanent untergebracht werden können. Wiederholt hatte Moskau diese mobilen, auf Lastwagen montierten Raketen bereits zeitweise für Manöverübungen nach Kaliningrad verlegt – zuletzt im Oktober 2016.
Die Bild-Zeitung titelte damals: „Putin verlagert Atom-Raketen an EU-Grenze“. Die Iskander-Stationierung „destabilisiere die Sicherheit in Europa“, hieß es aus dem Außenministerium der USA, und der estnische Außenminister behauptete, mit der Verlegung verletzte Russland den Mittelstreckenraketenvertrag zwischen den USA und der Sowjetunion von 1987, der jegliche landgestützten Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern verbietet. Denn die Iskander könnten 700 Kilometer weit fliegen und damit sogar Berlin treffen.
Militärexperte Hans Kristensen von der US-Wissenschaftlerorganisation Federation of American Scientists warnt hingegen: „Man sollte nicht zu hysterisch auf die Iskander reagieren.“
Die Iskander sind punktzielgenaue Kurzstreckenraketen. Es gibt zwei Varianten: eine ballistische Rakete und einen Marschflugkörper. Besonders der Marschflugkörper ist wegen seiner geringen Flughöhe nur sehr schwer abzufangen. Mit den Iskander-Raketen ersetzt Russland im ganzen Land die noch aus den 1980er Jahren stammenden Kurzstreckenraketen vom Typ SS-21. Bis 2020 soll diese Umrüstung abgeschlossen sein. Dann wird es circa 120 Iskander-Raketenabschussvorrichtungen in zehn Stationierungsorten an Russlands östlichen, südlichen und westlichen Grenzen geben. Die wichtigste Aufgabe der Iskander ist, im Falle eines Krieges militärische Ziele wie Flughäfen und Kommandozentralen mit konventionellen Sprengköpfen zu zerstören. Die Iskander kann aber auch mit einem nuklearen Gefechtskopf bestückt werden. Hans Kristensen: „Man muss beachten, dass die SS-21, die jetzt in Kaliningrad stationiert sind, ebenfalls nuklearfähig sind. Es ist also nicht so, dass mit der Iskander zum ersten Mal eine Kurzstreckenrakete mit nuklearen Fähigkeiten in Kaliningrad stationiert wird.“
Der in Genf lebende unabhängige russische Militärexperte Pavel Podvig ist nicht so sicher, dass die Iskander Atombomben transportieren kann: „Vermutlich kann sie es. Aber wir wissen nicht genau, ob es wirklich einen nuklearen Sprengkopf für sie gibt. Allerdings: Wir wissen, dass alle russischen Nuklearsprengköpfe, die für Kurzstreckenraketen bestimmt sind, in zentralen Lagern aufbewahrt werden. Wir können deshalb ziemlich sicher sein, dass die stationierten Iskander-Raketen keine nuklearen Sprengköpfe bei sich haben.“ In Kaliningrad soll es auch kein solches zentrales russisches Atomwaffenlager geben.
Die SS-21 hat eine Reichweite von maximal 120 Kilometern. Die Iskander ist zielgenauer, schwerer abzufangen und hat eine größeren Aktionsradius: Nach Aussagen der US-Luftwaffe kann sie 280 bis 300 Kilometer weit fliegen. Der Militärexperte Wolfgang Richter von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik vermutet eine etwas größere Reichweite: „Wenn es um die Entfernung geht, dann sind wir im Bereich von 280 und 420 Kilometer Reichweite. Das hängt vom exakten Typ ab. Sie bleibt eine Kurzstreckenrakete.“
Die Annahme, die Iskander verletze den Mittelstreckenraketenvertrag und könne von Kaliningrad aus selbst Berlin erreichen, hält Richter für an den Haaren herbeigezogen. Kristensen sieht das genauso: „Wenn die Iskander eine Reichweite von 500 oder 700 Kilometern hätte, würde das US-Außenministerium sie als eine Verletzung des Mittelstreckenraketenvertrages eingestuft haben. Das hat es aber nicht.“
Die USA und Russland werfen sich zwar gegenseitig vor, durch Tests und Stationierung von Waffensystemen den Mittelstreckenraketenvertrag zu verletzten. Aber Washington hat wiederholt klargemacht, dass seine Vorwürfe eine andere Waffe betreffen. Die damals im Außenministerium für Rüstungskontrolle zuständige Staatsekretärin Rose Gottemoeller sagte 2014 auf einer Veranstaltung des Brookings Institute in Washington: „Unsere Vorwürfe beziehen sich auf einen landgestützten Marschflugkörper, den Russland getestet hat und entwickelt. Aber es geht nicht um die Iskander.“
Russland wird mit in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen sein militärisches Bedrohungspotenzial erhöhen. Allerdings ändert sich dadurch nichts an der generellen militärischen Überlegenheit der NATO gegenüber Russland. Außerdem schaffen diese Raketen für Moskau auch keine grundsätzlich neuen Militäroptionen, schätzt Pavel Podvig ein: „Sie verhelfen Russland nicht zu irgendwelchen bahnbrechenden neuen Fähigkeiten, die es nicht auch vorher schon besaß. Russland kann zum Beispiel schon jetzt mit seinen seegestützten Marschflugkörpern noch weit größere Teile von Polen, Deutschland und Europa erreichen als mit der Iskander.“
Diese Bewertung teilt der Berliner Rüstungsexperte Wolfgang Richter. Zugleich weist er darauf hin, dass auch NATO-Staaten ihre konventionellen Fähigkeiten modernisieren. In Europa stationierte Kampfflugzeuge der USA könnten mit weitreichenden luftgestützten Marschflugkörpern ausgerüstet werden. Und: „Wir haben entsprechende Waffen, die von See aus gestartet werden. Ich denke da an Zerstörer wie Donald Cook, die auch seegestützte Cruise Missiles an Bord haben. Hier reden wir über Reichweiten zwischen 1000 und 2000 Kilometern.“
Das sind Reichweiten, mit denen man von Polen, aus der Ostsee und dem Schwarzen Meer auch Moskau erreichen könnte. Kürzlich hat die US-Regierung zudem dem Verkauf von 70 luftgestützten Marschflugkörpern mit einer Reichweite von 1000 Kilometern an Polen zugestimmt. Auch mit diesem System könnte noch vom polnischen Luftraum aus Moskau bedroht werden.
Die gegenwärtige Aufrüstung Russlands und der NATO wird mit der jeweils von der anderen Seite ausgehenden Bedrohung gerechtfertigt. Russland begründet die geplante Stationierung von Iskander-Raketen in Kaliningrad seit vielen Jahren mit der vorgesehenen Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen im polnischen Redzikowo. Russische Streitkräfte müssten in der Lage sein, diese Stellungen im Falle eines gegnerischen Angriffs auszuschalten, um die eigene nukleare Zweitschlagsfähigkeit zu erhalten, lautet die Moskauer Rechtfertigung. Die Bautätigkeiten für den US-Stützpunkt in Polen haben im Frühjahr 2016 begonnen. Es dürfte kein Zufall sein, dass die Vorbereitungen für die Iskander-Stationierung in Kaliningrad ein halbes Jahr später angefangen haben. Denn im Unterschied zu den bisher dort stationierten SS-21 sind die Iskander-Raketen in der Lage, von Kaliningrad das rund 300 Kilometer entfernte Redzikowo zu erreichen.
In der NATO, aber auch in Russland werden gegenwärtig viele Waffensysteme modernisiert. Das macht eine Deeskalation und Vereinbarungen zum Beispiel über Begrenzungen offensiver Waffensysteme in Europa nicht einfach. Beim Streit um die Iskander-Raketen wäre es allerdings sinnvoll, wenn die NATO Russland beim Wort nähme: Sie könnte anbieten, auf die US-Raketenabwehrstellung in Polen zu verzichten oder ihre 2018 geplante Indienstnahme zumindest zu verschieben. Denn die ursprüngliche Begründung für das System, die Abwehr von iranischen Atomraketen, ist durch den Atomdeal mit Teheran entfallen. Im Gegenzug könnte Russland auf die Stationierung von Iskander-Raketen in Kaliningrad verzichten. Wolfgang Richter: „Das wäre sicherlich ein Gesprächsangebot, das man ausprobieren könnte.“
Für die Obama-Regierung war ein solches Angebot jedoch offensichtlich keine Option. Ob Russland auf eine solche Initiative überhaupt eingehen würde, ist ebenfalls nicht abzusehen. Sicher ist nur: Ohne ein solches Verhandlungsangebot wird man das auch niemals erfahren. Und: Ohne ein solches Verhandlungsangebot wird die gegenseitige Aufrüstung weitergehen – und bald auch wieder die Verstärkung der US-Nuklearwaffen in Europa gefordert werden.

Der Artikel ist eine leicht veränderte Version eines Beitrags für „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 17.12.2016).