20. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2017

Eine Reise in die Lutherzeit

Der Bauer dient an Ochsen statt,
nur dass er keine Hörner hat.

 

In tausend Jahren ist keiner wie ich
für die Herren eingetreten.
Erst durch mich haben
die Herrschenden ein gutes Gewissen.

 

Die Vernunft ist der größte Feind des Glaubens.
Sie ist des Teufels größte Hure.

Martin Luther

 

(Aus: Dieter Forte – Martin Luther & Thomas Münzer
oder Die Einführung der Buchhaltung)

von Alfons Markuske

Bruno Preisendörfer erfreut sich zu Recht des Rufes, ein Sachbuchautor von hohen Graden zu sein. Bereits seine Reise in die Goethezeit fand in diesem Magazin unverhohlene Würdigung als detailreiches, im übertragenen Sinne farbenpralles Sitten- und Epochepanorama, in dem die Lebenssphären aller wesentlichen Bevölkerungsschichten der damaligen Zeit mit ihren jeweiligen Charakteristika entfaltet wurden, angereichert mit Hintergrundinformationen zur Politik, zur Alltagskultur, zu Ernährung, Medizin, Mode und dergleichen mehr – und dies auf einer rühmenswert breiten Basis an fundierten Quellen, die der Autor in ungewohnt häufigem Maße auch selbst sprechen ließ.
Das Buch wurde ein Bestseller.
„Never change a winning scheme“, mag Preisendörfer sich in Abwandlung des bekannten Slogans gesagt haben, als er sich als nächstes nunmehr die Lutherzeit vornahm. Und siehe da – die Rezeptur ist ein weiteres Mal aufgegangen und hat zu einem erneut auch sehr unterhaltsamen Buch geführt. Wiederum ein unaufdringliches Bildungserlebnis in einer Zeit, in der der Begriff in seiner bildungsbürgerlichen Bedeutung weitgehend verschwunden, respektive in Schule, Gesellschaft und Medien durch markt- und vermarktungskonformes, also vorsätzlich kanalisiertes, utilitaristisch begrenztes Wissen ersetzt scheint.
Buchtitel sind, wie Zeitungsüberschriften, in der Regel dem Hoheitsrecht der Autoren vom Verlag oder von der Redaktion entzogen. So soll „Als unser Deutsch erfunden wurde“ Preisendörfer nicht angelastet werden. Aber erstens bildet die Sprachentwicklung nicht den Schwerpunkt des Buches, bei dem es sich wieder um die Gesamtschau auf ein Zeitalter handelt, noch ist das, worauf der Titel vor allem anspielt, nämlich die Sprache von Luthers Bibelübersetzung, „unser Deutsch“. Es ist vielmehr ein Frühneuhochdeutsch, dessen Verstehen dem heutigen Leser schon einiges abverlangt.
Öfter noch tritt diesem bei Preisendörfer, der das Zitieren originaler Quellen geradezu zelebriert, jedoch ein Deutsch entgegen, das Luthersches Format noch gar nicht erreicht hatte, und an diesen Stellen stände dem üppigen Apparat des Bandes, der ein Fülle von Zusatzinformationen – etwa unter der Überschrift „Gruppenbilder“ zu Humanisten, Reformatoren, Päpsten, Kaisern und anderen Herrscherdienstgraden, Malern, Holzbildnern, Komponisten, Schriftstellern und Druckern – offeriert, ein weiteres Angebot gut zu Gesicht: nämlich von Übertragungen dieser Zitate in ein uns Heutigen leichter eingängiges Idiom. Womit auch schon die einzige Kritik an diesem Bande formuliert wäre.
Doch natürlich kommt Sprachgeschichte auch vor. Unter anderem in Kombination mit des Autors Faible, verbreiten Klischees und beliebter Überlieferungsfolklore den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. So lautet bekanntlich eine häufig gehörte Erklärung dafür, warum ausgerechnet Luthers Bibelübersetzung – nur eine von etlichen zu seiner Zeit – so großen Anklang fand und die Entwicklung der deutschen Sprache so nachhaltig geprägt hat, dass der halt „dem Volk aufs Maul geschaut“, soll heißen: dadurch dem Volke besonders verständlich geschrieben und gepredigt habe. Hätte er jedoch ersteres getan, hätte ihm zweiteres schwerlich gelingen können, wie Preisendörfer herausarbeitet: „Seine Bibelübersetzung konnte deshalb sprachnormierende Kraft entfalten, weil regionale und dialektale Wendungen im Interesse überregionaler Verständlichkeit vermieden wurden. Der ‚gemeine Mann‘, der sich in jedem Kirchspiel, auf jedem Marktplatz anders ausdrückte und dessen Äußerungen immer lokal gefärbt waren, kann zwar als Adressat, aber eben gerade nicht als Normgeber für Luthers Spracharbeit gelten.“
Apropos des Autors Faible – hier noch eine weitere Kostprobe, allerdings mit notwendiger Teilkorrektur: Die berühmten Lutherthesen – wurden „nicht an die Schlosskirchentür genagelt, sondern einem Brief an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg beigelegt“. Richtig – die Thesen kamen nicht über die Schlosskirchentür in die Welt, sondern mittels des erwähnten Briefes. Aber angenagelt an benannter Stelle wurden sie hernach nichtsdestotrotz.
Dass Preisendörfer sein Buch just ein Jahr vor dem nächsten großen Reformations- und Luther-Gedenken auf den Markt gebracht, zeigt mindestens ein Gefühl für gutes Timing. Aber auch ein ebensolcher Geschäftssinn geht völlig in Ordnung, zumal der Autor dem Reformator keine Huldigung darbringt, sondern ein ziemlich differenziertes Porträt zeichnet, das auch dessen aus heutiger Sich unsympathische bis unappetitliche Facetten nicht unter den Tisch fallen lässt. Bei Preisendörfer finden sich die entsprechenden Belege zu Luthers Verhältnis zu den Bauern, zu seiner Obrigkeitsverhaftetheit und zu seinem tief verwurzelten religiösen Fanatismus, zu Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen also, die Dieter Forte in seinem Stück „Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung“ schon 1970 mit jeweils knappen Zitaten auf die Bühne brachte. Das gilt bei beiden auch für Luthers rigiden gesellschaftlichen Konservatismus und bei Preisendörfer darüber hinaus für dessen abstoßenden Antisemitismus sowie Hexenglauben.
Einem Rezensenten der FAZ ging das wohl insgesamt zu weit: Preisendörfer würde „gelegentlich die Fairness des Historikers“ verlassen. Der hiesige Rezensent vermag allerdings in korrekt Zitiertem nichts Unfaires zu erkennen, wenn das Zitat etwa lautet: „Die Bauern wollten auch nicht hören, ließen sich gar nichts sagen, da mußte man ihnen die Ohren mit Geschossen aufknöpfen, daß die Köpfe in die Luft sprangen.“ Höhnisch von Luther so formuliert im „Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern“ nach der Schlächterei von Frankenhausen, die tausende von Bauern das Leben kostete. Aufseiten der fürstlichen Truppen hingegen, Zitat Preisendörfer, „soll es gerade einmal sechs Tote gegeben haben“. Damit war praktisch beendet, was bis heute „Bauernkrieg“ genannt werde, tatsächlich aber „ein Krieg gegen die Bauern war“.
Als Zeitgenossen Luthers treten in Preisendörfers Buch – mehr oder weniger ausführlich porträtiert – unter anderem in Erscheinung:
Katharina von Bora, ausgebüchste und ausgebuffte Nonne, die den heiratsunwilligen Luther doch ins Ehebett bekam;
Kaiser Karl V., auf dem Reichstag zu Worms Luthers erfolgloser Gegner;
Thomas Müntzer, Luthers erfolgloser Gegner aufseiten der Bauern;
Jakob Fugger, der damals reichste Mann der Welt, der sich Kaiser, Könige und Kardinäle kaufte;
Albrecht Dürer, dessen Frau einen lukrativen Kunsthandel mit des Gatten Werken aufzog, sowie Götz von Berlichingen, Raubritter seines Zeichens, der die Erpressung von Lösegeld nach Geiselnahme zwar nicht erfunden, aber betrieben hat.
Und nicht zuletzt sind es „Fußnoten“ der Zivilisations- und Kulturgeschichte wie die folgende, die Preisendörfer immer mal wieder einstreut und so dem Charme seines Werkes jeweils noch ein Gran hinzu fügt: „Dass man sich auf einem Holzgestell über den Nachttopf setzte, der von einem Hausknecht im Nebenraum durch eine Wandklappe entnommen werden konnte, war ein seltenes Privileg. Diesen ‚Stuhlgang‘ hatte man nur in Patrizierpalästen und Residenzen.“

Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurde. Reise in die Lutherzeit, Verlag Galiani, Berlin 2016, 472 Seiten, 24,99 Euro.