19. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal ein Totenbündel vom Humboldtstrom in einer Infobox und ein Singsang vom Verwehen des Daseins…

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Vor dem bereits fertigen Rohbau des Berliner Schlosses steht, dem Lustgarten gegenüber, ein futuristisches Gehäuse: die so genannte Infobox. Dort wird auf zwei Etagen darüber aufgeklärt, was künftig in der wieder hergestellten hochbarocken Hülle des königlichen Großbaus sein soll, nämlich das hochmoderne Humboldt-Forum (HF). Und dessen Direktorium verkündete jetzt schon mal, dieses Forum, das einem gigantischen Universalmuseum gleichen werde, soll seinen Besuchern quasi das Basislager sein für eine Weltreise. Und in besagter Informationskiste gibt es dafür ab sofort einen Probelauf. Hier soll schon mal im Kleinen modellhaft vorgeführt werden, was später, nämlich ab Herbst 2019, im alten neuen Hohenzollernschloss in der Mitte Berlins stattfindet. Denn dann endlich wird der königliche Monumentalbau in seiner historischen Kubatur mit Bundestagsbeschluss und allerhöchstem Aufwand wieder hergestellt sein.

Zunächst erklärten im rappelvollen, novemberlich eiskalten Betonrohbau die drei HF-„Gründungs-Intendanten“, der hauptstädtische Zentralbau werde ein täglich weit und viele Stunden lang geöffnetes „Haus fürs Volk“ sein; ähnlich dem hier abgerissenen DDR-Palast der Republik. Zweitens soll er ein Ort der Unterhaltung sowie – und das vor allem! – der Bildung sein. Deshalb programmatisch sein weltweit bekannter Gelehrten-Name Humboldt-Forum. Übrigens, Goethe bemerkte gelegentlich über Alexander von H., er könne in acht Tagen alles das nicht lesen, was dieser ihm allein in einer Stunde erzähle. Nämlich, wie alles in der lebenden wie toten, also gegenständlichen Welt mit jedem zusammen hängt. Dementsprechend werde das HF, so deren Intendanten, ein Museum „ganz neuen Typs“ sein, das sehr viele ganz unterschiedliche Museen raffiniert in eins bringt: Ethnologie, Naturkunde, Geschichte, Kunst – allein die Berliner Ressourcen sind ja beträchtlich… Motto: Aller Arten Objekte zeigen aus aller Welt und sich damit die „ganze eine Welt” denken – oder (halbwegs) erklären. Was wiederum den hübschen Slogan vom „Basislager für eine Weltreise“ erklärt.
Und weil es bis 2019 noch etwas dauert, hat man in der Infobox eine Art HF-Probebühne installiert für Tests, wie alles kommunikativ funktioniert; also eine Übung in Sachen Optimierung. Dafür jetzt die Show „Extreme! Natur und Kultur am Humboldtstrom“. Es geht da (bis Ende Februar 2017) um frühe Kulturen und frühe Kulturpflanzen, um alte Völker, ihre Kunst und ihre Riten, ums (gefährdete) Getier zu Lande und zu Wasser und also neuzeitliche Umweltverschmutzung sowie um das gefährliche Naturphänomen El Nino. – Viel Text, viel Film, viele kostbare historische Präparate von Pflanzen und Tieren nebst einem peruanischen Grabungsfund, einem so genannten „Totenbündel mit der Bestattung eines Mannes“ aus Ychsma, 900–1470 n. Chr. Damit wird eins gleich klar: Unterhaltung ja. Aber: Man muss sich auch bilden lassen wollen, was ganz ohne Anstrengung im Kopf wohl nicht abgeht.
Zwischen 2017 und der HF-Einweihung werden in der Box zudem noch zwei weitere Test-Ausstellungen als Vor- und Einspiel gezeigt. Die Themen: „Schutz der Kinder“ und „Gold“ – der griechische Großdichter Hesiot schrieb allzeit gültig: „Aufsteigt das Gold, aufsteigt der Krieg.“
Apropos Einweihung in drei Jahren: Die Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters frohlockt, man sei – Überraschung! – im Zeit- und auch im Kostenplan, was besonders in Berlin ja keine Selbstverständlichkeit sei. Zudem erwäge man: Keine Tickets für den HF-Besuch; das Eintrittsgeld wird der Steuerzahler blechen. Das sei bereits eingerechnet in den avisierten Etat: nämlich mindestens 50 Millionen Euro, was in etwa dem Budget eines respektablen Opernhauses entspricht. Wow! Da werden so manch Bedürftige neidisch dreinschauen.
Nebenbei erwähnte Frau Grütters, dass gerade jetzt eine Steigerung der Ausgaben für Kultur, Kunst und Bildung wichtig sei (der Bund sehe sich da sonderlich in der Pflicht), anstatt sie, wie vielerorts, „aus total falsch verstandener Sparsamkeit“ zu kürzen. Die frohe Botschaft: Der Kulturstaat Deutschland lässt sich nicht lumpen. Und, auch das schwingt mit in der Ministerin Wort, er wird sich künftig auch jenseits des Kulturstandorts Berlin nicht lumpen lassen wollen. Sonderlich die klammen Provinzen haben da genau hingehört.

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Er ist unser Großmeister in Sachen musikalisch verwobener Melancholie, vertrackter Entrücktheit, absurdem Scherz: Christoph Marthaler (65), Schweizer, von Haus aus Musiker (studierte Oboe), dann Regisseur, zeitweilig Theaterintendant (Schauspielhaus Zürich), danach freier Künstler. Ein sanguinisch lustig-lustvoller Familienvater mit Bart, Brille, Schlitzohrigkeit nebst abgründigem, die Menschen skeptisch liebendem Humor.
Sein Wechsel vom sagenhaften Geheimtipp zum richtig großen Ruhm als Theatermacher begann 1993 in Berlin. Frank Castorf holte ihn an seine Volksbühne für eine damals ziemlich neuartige Musik-Gesang-Theater-Performance mit dem kryptisch anmutenden Titel „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ Es war ein zarter, befremdlich zirpender Abgesang auf den Krach des 20. Jahrhunderts mit seinen gigantischen Weltverbesserungs- und Weltumbau-Entwürfen, seinen Euphorien, seinen Schlachten und monströsen Verbrechen. Die triste Bühne von Anna Viebrock, der Meisterin (und Marthaler-Partnerin) im Bau kunstvoll verschlissener, mit absurden Einbauten versehener Räume, war bevölkert von lauter Verlorenen, die ratlos aber tapfer ausharrten oder grotesk verstört um sich selbst kreiselten und alte klassische, alte volkstümliche, alte revolutionäre oder neue Lieder summten. Zugleich war dieser Abgesang ein rührender, mitleidvoller Grabgesang auf die von der Geschichte abgeschaffte DDR. Eine Inszenierung, die 13 Jahre lang im Spielplan der Volksbühne stand. Womöglich eine Jahrhundertinszenierung.
Und jetzt also zum Abschied noch einmal ein Marthaler mit Viebrock an diesem so besonderen Theater. „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ versteht sich auch als Echo auf deren Volksbühnen-Anfang mit „Murx!“ vor 23 Jahren – zum Teil sind wieder dieselben Mitspieler dabei.
Und wieder ist es ein Wehgesang mit 13 hinreißenden Leuten, die alles in einem sind: Schauspieler, Sänger, Musiker, Tänzer, Artisten. Wieder geht es ums unaufhaltsame Vergehen. Um den nur scheinbaren Stillstand der Zeit, um ratlose Schicksalsergebenheit und verzweifelte Trotzgebärden im hohen, mal warm helllichten, dann wieder kalt-trüben, düsteren Warteraum des Daseins. Da flackern Irrsinn, absurdes Lachen, sarkastischer Witz, Daseinslust und Lebensgier. Dann wieder wuchern Vergeblichkeit und Bitternis. Ein nahezu wortloser Reigen aus Kreuz und Quer, Raus und Rein, Einpacken, Auswickeln, Aufbrechen und Stillstehen, Laut und Leise, Schnelle und Langsamkeit – ein Reigen, der sich fast immer zu eindringlichen, zaghaft entsetzlichen Bildern der Ausweglosigkeit formt. Eine virtuos artifizielle Revue aus lauter wunderlichen Lebens-Seltsamkeiten, die aber auf den zweiten Blick überhaupt nicht wunderlich und seltsam, sondern wesentlich sind. Poesie also.