19. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2016

Zweiundvierzig Tage Mansfeld

von Tobias Schwartz

Ruhlos wälzt der Sand –
Märkischer, kiefernbestanden –
Jedwede Zeit. Und sie tropft
Harzig schwer in den Landen.

Jürgen Rennert, Märkische Depeschen

In die Prignitz fahre ich – wie es der Zufall will – über die Wilsnacker, vorbei an der Perleberger und schließlich, Richtung Autobahn, noch über die Putlitzer Straße und Putlitzbrücke, die über den Güterbahnhof Moabit führt, von wo aus tausende jüdische Berliner ins KZ deportiert wurden. Putlitz – der Name geht auf ein altes märkisches Landadelsgeschlecht zurück, dem es unter den Nazis auch nicht eben gut erging. Ein literatur-affines Geschlecht, sehr lesenswert die geschliffenen Memoiren des Wolfgang Gans Edler Herr zu Putlitz, der als Diplomat beinahe der gesamten Nazi-Führungsriege von Göring, Goebbels bis zu Hitler leibhaftig begegnete – und sie in „Unterwegs nach Deutschland“ trefflich karikierte. Ein ziemlich witziger Widerständler, in Abwesenheit vom braunen Pack zum Tode verurteilt (wegen „Hochverrats“) und um die halbe Welt geflohen, bis er in die dazumal neu gegründete DDR zurückkehrte.
Von Fontane kolportiert ist das Gedicht „Die Gans zu Putlitz“ über die Märkischwerdung einer pommerschen Gegend, in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ geht der Ostprignitzer ausführlicher darauf ein, nur leider nicht auf die sukzessive, doch nachhaltig für sich einnehmende Landschaft der Prignitz, die landläufig unterschätzt wird; die malerischen Dörfer, Feldsteinkirchen, die zugewachsenen Alleen oder die von Sonnenblumen und Klatschmohn gesäumten Kornfelder. Kraniche und Störche stolzieren umher, Seeadler kreisen am Himmel und an einem verborgenen Teich nahe des wilden Flüsschens Stepenitz schießt metallisch-grünblau schimmernd ein Eisvogel über die Wasseroberfläche. Schon dieser Anblick lohnt für mich als Hobby-Ornithologen den ganzen Prignitz-Aufenthalt.
Im April war ich schon einmal für sieben Tage da, auf der Suche nach der blauen Blume – der Kuh- oder Küchenschelle, die im Frühling in einem Waldstück vor Perleberg blüht, der Stadt mit der gotischen St.-Jakobi-Kirche, dem Stüler-Rathaus und dem Judenhof. Jetzt, im Sommer, bleibe ich für weitere fünf Wochen, um in aller Ruhe an meinem Roman „Emlichheimer“ zu arbeiten, im zum Städtchen Putlitz gehörenden Dorf Mansfeld, dem Geburtsort Gottfried Benns.
Noch so ein Zufall. Knapp fünfzehn Jahre lebte ich am Berliner Mehringdamm in der Nähe des Hauses, in dem der „Morgue“-Dichter zeitweise seine Hautarztpraxis unterhalten hatte. Jetzt also sein Geburtsort, mit Hinweistafel am alten Pfarrhaus, wo er das Licht der Welt erblickte. Eine ambivalente Figur dieser Benn, schwierig seine zunächst aufgeschlossene Haltung den Nazis gegenüber, seine Herrenmenschen-Denke, aber doch ein großer Poet – mit Hang zum Biertrinken beiläufig, weshalb er Einzug fand in mein Kneipenstück „Destille“. Benn – und meinem Stipendium – verdanke ich die wunderbare Bekanntschaft mit Jürgen Rennert, dem Lyriker sowie Nachdichter aus dem Jiddischen, und seiner Frau Johanna, die jahrelang nur zwei Straßen entfernt wie ich in Kreuzberg lebten und seit einiger Zeit im Putlitzer Ortsteil Krumbeck ansässig sind. Auf einer Veranstaltung Benn zu Ehren (in der kleinen, aber sehenswerten Mansfelder Kirche) las Rennert eigene und Bennsche Gedichte, wir kamen im Anschluss ins Gespräch.
Am selben, ersten Wochenende allerdings auch die Hölle, eine Hölle namens VooV. Das ist ein in Putlitz stattfindendes Goa-, also Elektromusik-Festival, dessen stumpf-stampfende Beats nun zu uns herüberschallen, von Freitag Abend bis Montag Morgen nonstop. Nachts ist es besonders schlimm. Einmal, tagsüber, trete ich ins Freie und wundere mich, dass der rhythmische Krach so besonders laut ist. Da steht aber nur ein Traktor, dessen Motor läuft. Mein Blick fällt auf die Wiese, auf der die Heuschrecken zirpen. Beethovens „Pastorale“ passt besser hierher.
In Mansfeld wie in Berlin schreibe ich frühmorgens und den Vormittag über. Da ich kein Smartphone mehr besitze, bedeutet kein Internet wirklich kein Internet und Ungestörtheit wirklich Ungestörtheit. Die Handlung meines Romans ist in einer ländlichen Region angesiedelt, der Prignitz in vielerlei Hinsicht ähnlich: Nachts ist es dunkel und still, morgens krähen Hähne. Es geht in „Emlichheimer“ – auch – um deutsche Historie, um gerne in Vergessenheit geratende Fragen wie: Woher kommen wir eigentlich?
Wenn nachmittags nichts mehr zu feilen bleibt, erkunde ich mit Frau und Sohn, die mitgekommen sind, die Gegend. Wir fahren nach Perleberg und Pritzwalk, nach Ludwigslust, nach Waren an die Müritz oder Plau am See. In Mecklenburg Kopfschütteln über die Wahlplakate von AfD und NPD, die sich nicht mehr nur inhaltlich annähern. Am Plauer Strand sich an Hässlichkeit überbietende Tattoos offenkundig völkisch Gesinnter. Unschöne Brüche der Idylle. Ich lese – traurige Gedanken über den grassierenden neuen Nationalismus in Europa im Kopf und den Brexit-Schock noch nicht verdaut – „Die Welt von Gestern“, also die 1941, ein Jahr vor seinem Selbstmord im Exil abgeschlossenen und posthum erschienenen Erinnerungen Stefan Zweigs. Er hält darin unerschütterlich – und das erschüttert vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs – am Glauben an ein geeintes Europa fest. Sic transit gloria mundi.
Zurück im kleinen Mansfeld, im Garten des Bauernhauses der Familie zu Putlitz – die dem Stipendiaten darin eine Wohnung zur Verfügung stellt –, hält die Internationalität des Hühnerhofes gegen die finsteren Mecklenburger Impressionen. Da laufen deutsch-englische Zwerg-Orpington, eine japanische Chabo-Henne und südamerikanische Araucana zusammen und vertragen sich bestens. Der Hahn Herkules selbst ist ein Antwerpener Bartzwerg, mithin Belgier. In der Prignitz, erzählt mir ein Lokal-Reporter, funktioniert die Integration von Flüchtlingen soweit alles in allem gut – auch weil Neuankömmlinge überwiegend in leerstehendem Wohnraum untergebracht werden können. Vieles hier widerspricht den gängigen Klischees von Brandenburger No-Go-Areas und sonstigen Trostlosigkeiten. Mancherorts soll der Bevölkerungsrückgang bereits gestoppt sein, die Geburtenrate steigen. Natürlich gibt es Zuzügler – vor allem aus Berlin und Hamburg, in der Prignitz sind Grundstücke noch halbwegs erschwinglich. Am Teich treffe ich regelmäßig den Berliner Christian Morgenstern [sic!], einen großen Hans-Fallada-Fan.
Die Erfahrungen sind satt, überwiegend schön. Eine gut besuchte Lesung im Putlitzer Herrenhaus, die ohne den Einsatz Jürgen Rennerts, der sie auch moderierte, nie stattgefunden hätte, macht den Aufenthalt am Ende rund. Nach einem angeregten Publikumsgespräch kehren wir zusammen mit einem Großteil der Gäste, darunter der Alexander-von-Humboldt-Forscher Michael Strobl, die Schauspielerin Monika Lennartz, Heidemarie Böwe, die Witwe der DDR-Schauspiellegende Kurt Böwe und viele mehr bei „Otto“ ein. So nennen ihre Freunde die Wirtin der charmanten Dorfkneipe, die ihre Gaststube und Küche aufgrund der Lesung exklusiv geöffnet hielt. Später sitzen wir noch mit den zu Putlitzens in Mansfeld auf der Balkonterrasse, trinken Wein und lassen den Abend – und Aufenthalt – ausklingen. Am nächsten Morgen geht es mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück nach Berlin – nach der Autobahnabfahrt irgendwann über die Putlitzbrücke, an der Perleberger vorbei auf die Wilsnacker Straße. Tja, alle Zeichen stehen wohl auf Wiederkehr.

Der Schriftsteller Tobias Schwartz, Jahrgang 1976 und gebürtig in Osnabrück, studierte Literatur und Philosophie, war zehn Jahre in der Psychiatrie tätig und lebt in Berlin.