19. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2016

Gustav Heinemann im Visier der Organisation Gehlen

von Erich Schmidt-Eenboom

Am 6. März 1954 erließ die Bundesregierung die Unkeler Richtlinien zur Zusammenarbeit zwischen dem Verfassungsschutz und der Polizei. Erst im Herbst 1958 folgten die Richtlinien des Bundes und der Länder für die Zusammenarbeit von Verfassungsschutz, BND, MAD und Polizei.[1] Bis dahin und vor allem bevor die Organisation Gehlen (Org) am 1. April 1956 als Bundesoberbehörde legalisiert wurde, war sie gezwungen, sich auf informelle Beziehungen zu stützen. Was die Kooperation mit den ab 1950 gegründeten Landesämtern für Verfassungsschutz betrifft, so bietet sich dabei ein wechselvolles Bild mit einem ausgeprägten Süd-Nord-Gefälle.
Zum Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) in Bayern und seinem stellvertretenden Leiter Max Nöth pflegte die Org von Anfang an schon deshalb sehr enge Beziehungen, weil der ehemalige Gestapo-Offizier und Beamte der Geheimen Feldpolizei 1948 in die Org eingetreten war, bevor er in die Spitze des neu gegründeten LfV wechselte.[2]
Besonders feindselig war das Verhältnis zwischen Org und Landesverfassungsschutz in den Anfangsjahren in Schleswig-Holstein. Anfang Mai 1953 berichtete das CIA-Büro in Bonn an die Zentrale, Org-Mitarbeiter würden das LfV in Kiel seit seiner Gründung im Jahr 1951 als inkompetent und von „SPD-Spitzeln“ durchsetzt diffamieren. Das Landesamt hingegen warf den Gehlen-Leuten vor, im Inland zu spionieren, und fand einen Beweis, der den CIA-Bericht zeitigte.[3]
„Nicht nachweisbar ist eine nennenswerte Zusammenarbeit des NRW-Verfassungsschutzes mit der Organisation Gehlen“[4], konstatierte die Arbeit zum Landesamt in Düsseldorf, die auf zuvor geheime amtliche Quellen zurückgreifen konnte. Der ehemalige Abwehroffizier Konrad Gallen (Deckname Gallwitz) war vor seinem Wechsel ins Bundesamt für Verfassungsschutz Ende 1950 Leiter der Org-Außenschule in Bad Homburg. Er berichtete dem ehemaligen Beschaffungsleiter SBZ und Österreich der Org, Siegfried Graber, er habe den Auftrag erhalten, beim damaligen Innenminister von Nordrhein-Westfalen Unterstützung für die Org zu erbeten. Beim Besuch Gustav Heinemanns habe er eine so brüske Abfuhr erhalten wie noch nie in seinem Leben, obwohl Heinemann doch CDU-Mitglied gewesen sei.[5]
Wenig später stieg Heinemann vom Landes- zum Bundesinnenminister auf und kam dabei in Kontakt mit Reinhard Gehlen. Bereits kurz nach der Bildung der ersten Bundesregierung führten Vizekanzler Franz Blücher, Innenminister Heinemann und Ministerialrat Herbert Blankenhorn als Vertreter des Bundeskanzleramts am 5. November 1949 ein Gespräch mit Gehlen, um sich über die Aufgaben und Möglichkeiten der Org unterrichten zu lassen.[6]
Am 10. Oktober 1950 trat Heinemann vom Amt des Innenministers zurück, weil Adenauer sein Kabinett bei der von ihm angestrebten Wiederbewaffnung hintergangen hatte. Gut dreizehn Monate später rief Heinemann die „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“ als Sammelbecken aller Gegner einer Remilitarisierung ins Leben. Zu seiner wichtigsten Mitstreiterin stieg die Vorsitzende der Zentrumspartei Helene Wessel auf. Nach seinem Austritt aus der CDU gründete er unter anderem mit Wessel im November 1952 die außenpolitisch auf Neutralitätskurs ausgerichtete Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP).
Damit wurde Heinemann für Konrad Adenauer zum Staatsfeind Nr. 1. Heinemanns Nachfolger im Amt des Bundesinnenministers, Robert Lehr, berichtete nicht nur im Kabinett über die „Umtriebe des Dr. Dr. Heinemann“, sondern nutzte 1952 auch ein Pressegespräch mit der konservativen Kasseler Zeitung, um vor seinem Vorgänger zu warnen. Der führende Verfassungsschützer Hans Josef Horchem sah die nachrichtendienstliche Überwachung der GVP noch 1993 als gerechtfertigt an, weil diese „als neutralistische und pazifistische Partei offen für Infiltrationsbestrebungen der SED“ gewesen sei.[7]
Heinemann galt als vorsichtig. Er hatte – so Der Spiegel 1952 – „bei seinem Telefon ein Schild angebracht, das er während des Krieges einmal in einem Eisenbahnwagen abmontierte: ‚Vorsicht bei Gesprächen! Feind hört mit!’ Heinemann ist überzeugt, sein Telefon werde überwacht.“[8] Zu den Vorsichtsmaßnahmen zählte auch die Beschränkung der Mitgliederzahl der Notgemeinschaft, die am 2. Januar 1952 beim Amtsgericht Essen als Verein eingetragen worden war, auf zehn Personen, „damit kein falscher Fuffziger hineinkommt“ (Heinemann). Wenn man Heinemann fragte, was er unter „falschen Fuffzigern“ verstehe, sagte er: „In diesem besonderen Fall die Kommunisten.“[9] Aber als für den Verfassungsschutz zuständiger Landes- und Bundesinnenminister war ihm auch klar, dass er in der Kanzlerdemokratie Adenauers nachrichtendienstliche Angriffe aus dem Regierungslager zu gegenwärtigen hatte.
Beim Symposium der „Unabhängigen Historikerkommission“ des BND (UHK) im Dezember 2013 hat deren Sprecher Klaus-Dietmar Henke einen ersten Überblick über die ausgeprägte Inlandsaufklärung Gehlens gegeben, die „mit Wissen und zu Willen des Bundeskanzlers“ erfolgte. Dezidierte Fallbeispiele legte er noch nicht vor.[10] Das übernahm der Chefhistoriker des BND, Bodo Hechelhammer, der einräumen musste, dass die Masse der diesbezüglichen Akten unter Gehlens Nachfolger Gerhard Wessel vernichtet worden war. Aus Parallelüberlieferungen konnte er jedoch in einigen Fällen darstellen, wie die Org die politische Prominenz der frühen Bundesrepublik ausgespäht hatte.[11] Auch Heinemann war – wie Hechelhammer angab – Opfer nachrichtendienstlicher Nachstellungen geworden. Aus den Altakten des BND war jedoch nicht ersichtlich, mit welchen Geheimdienstmethoden er und seine Partei von der Org bearbeitet worden waren.
Erhalten ist nur das 58-seitige Dossier mit dem 23-seitigen Anhang „Stimmen kommunistischer Rundfunk- und Pressestellen zu Heinemann“ einer Kölner BND-Dienststelle, das Heinemanns öffentliches Wirken von 1951 bis August 1961 aus offenen Quellen dokumentiert und kommentiert. Die Stoßrichtung, ihn als Parteigänger des Ostblocks zu diffamieren, spiegelt sich bereits in den Vorbemerkungen: „Seit Bundesminister a.D. Dr. Dr. Heinemann aus dem ersten Kabinett Adenauer ausschied, hat er vor allem die aussenpolitische und verteidigungspolitische Konzeption der Bundesregierung und der CDU/CSU bekämpft. In seinen vielen Äußerungen hat er dabei Thesen vertreten, wie sie in dieser Schärfe nicht überboten werden können. Eine Reihe seiner politischen Überlegungen zeigt fatale Parallelen zur Propaganda der Kommunisten.“[12]
Heinemanns Mitstreiter in der GVP und der Friedensbewegung waren nicht nur Opfer medialer Attacken, sondern auch tätlicher Angriffe, wie Der Spiegel im November 1952 zu berichten wusste: „Der Westberliner Journalist Heinz Krüger wurde am 9. November 1950 in seiner Hermsdorfer Wohnung (französischer Sektor) von ‚gangsterhaften‘ Gestalten überfallen, die die Polizei aber kurz darauf festnehmen konnte. Am nächsten Tag berichteten alle Westberliner Zeitungen von einem mißglückten Menschenraubversuch an dem Journalisten Krüger und forderten energisches Vorgehen gegen die Täter. Was die Öffentlichkeit nie erfuhr, war, daß diese Täter wenige Stunden nach ihrer Verhaftung wieder auf freiem Fuß waren. Auf der Polizeiwache stellte sich nämlich heraus, daß die beiden angeblichen Menschenräuber Karl Heinz Stabenow, 22, und Dieter Norden, 19, Agenten der ‚Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit’ waren, die Krüger ‚einen Denkzettel’ für sein neutralistisches Verhalten und seine Verbindungen zum ‚Nauheimer Kreis’ des Professor Noack verpassen wollten. Ein gewisser Seeberg, den Karl Heinz Stabenow und Dieter Norden von der Wache aus anriefen, hatte die Freilassung der Verhafteten verlangt. Seeberg war das Pseudonym des ‚Kampfgruppen’-Vorstandsmitglieds Tietze, das seine Leute bei solchen Pannen zu decken pflegte.“[13]
Vernehmungsprotokollen des Ministeriums für Staatssicherheit aus dem Jahr 1952 zufolge hatte die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) linke Gruppierungen und Friedensgruppen in West-Berlin ausgespäht und war so auf Krüger gestoßen.[14] Das Deutsche Historische Museum verwahrt ein Dokument, das die Bedeutung Krügers in der Notgemeinschaft widerspiegelt. Er war der Ko-Autor der Rede, die Helene Wessel im Juni 1952 vor den Berliner Arbeitsgruppen der Organisation hielt.[15]
Aus Sicht der von der CIA von 1948 bis 1959 gesponserten Terrororganisation KgU hatten ihre Schläger den Falschen verprügelt, denn ausgerechnet der Funktionär der GVP Krüger und Leiter der Notgemeinschaft in Berlin war die Innenquelle der Org im Umfeld von Heinemann. Er trug den Decknamen Gastwirt und wurde von der für die Spionageabwehr zuständigen Generalvertretung (GV) L der Org in Karlsruhe unter der V-Nr. 2951 geführt. Mit ihm hatte sich ein Org-Bericht vom 26. Dezember 1952 (EGB-816) befasst und am 9. Oktober 1953 war eine Spurensuche (trace request – EGLA-5868) über ihn eingeleitet worden.
Das geht an ganz unvermuteter Stelle aus dem CIA-Kommentar zum Bericht der für die Spionageabwehr und Gegenspionage zuständigen GV L vom 13. Juli 1953 hervor, der vermutlich zur Verkartung der Personenangaben diente. Abgelegt war dieses Dokument aus der Record Group 263 (CIA) im amerikanischen Nationalarchiv in der CIA-Personalakte des ehemaligen SS-Hauptsturmführers Hinrich Ahrens, Jahrgang 1911. Auf der Seite 40 ihres Berichts war die GV L irrtümlich davon ausgegangen, dass es sich bei ihm möglicherweise um den in Bremen ansässigen Heinrich Ahrens, Jahrgang 1896, handele, der im März 1950 ohne eigenes Verschulden von einem westlichen Nachrichtendienst abgeschaltet worden war.[16]
Zu Heinemann selbst führte die stichpunktartige Kommentierung der CIA aus: ehemaliger Innenminister und „führender deutscher Neutralist“, über den die Org in der EGQW-1218 und in vielen anderen Meldungen berichtet hatte.
Neben Heinemann war auch der Pfarrer Werner Koch aus Berlin-Neuköln ins Visier der Org geraten. Zu ihm lagen zwei Einzelberichte der Org vom 26. Dezember 1952 und vom 20. Oktober 1953 vor. Im Januar 1952 war er als Abgesandter der Notgemeinschaft hatte er Wladimir S. Semjonow in Ost-Berlin besucht. Drei Monate später setzte sich Der Spiegel in einer Titelgeschichte sehr kritisch mit dieser Visite im Osten auseinander: „Wladimir S. Semjonow, Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter und politischer Berater des Chefs der sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland, setzte sich wieder hinter seinen Arbeitstisch und bot auch seinem Gast einen Stuhl an. Die beiden Männer waren allein, alle hatten das Zimmer verlassen. Der Kalender zeigte den 16. Januar 1952. Der westliche Besucher Semjonows war der evangelische Pfarrer Werner Koch, ein 42jähriger rheinisch-aufgeschlossener Mann aus Berlin-Wedding im französischen Sektor. Er ist einer jener Leute, die den Ideen der ‚Notgemeinschaft für den Frieden Europas‘ anhängen, der Institution des Essener Rechtsanwalts und Notars Dr. rer. pol. Dr. jur. Gustav Heinemann … Um die Zeit des Kochschen Besuches bei Semjonow erstattete dieser Dr. Dr. Gustav Heinemann der Oekumenischen Kommission für europäische Zusammenarbeit ein Exposé ‚Die Rolle Deutschlands im heutigen Europa‘, in dem es heißt: ‚Wenn es zum Friedensvertrag aller Siegermächte mit Gesamtdeutschland und zur Räumung Deutschlands für alle Besatzungsmächte kommt, kann die Einordnung Deutschlands in die Gemeinschaft freier Nationen auf Grund wechselseitiger Garantierungen seines Gebietes und seiner Ordnung durch die Nachbarn oder durch Wiederherstellung einer defensiven deutschen Wehrmacht oder durch eine Kombination solcher Regelung erfolgen.‘ Vier Wochen nach diesem Exposé, bzw. dem Besuch Pfarrer Kochs bei Semjonow, schlug der Kreml den verblüfften Westmächten eben diese ‚defensive deutsche Wehrmacht‘ vor.“[17]

[1] Vgl. Borgs-Maciejewski, Hermann und Frank Ebert: Das Recht der Geheimdienste, Stuttgart 1986, S. 220f.

[2] Vgl. Winter, Robert: Täter im Geheimen. Wilhelm Krichbaum zwischen NS-Feldpolizei und Organisation Gehlen, Leipzig 2010, S. 108 und 126f.; ausführlich zum engen Verhältnis des LfV Bayern zu Org und frühem BND vgl. Meinl, Susanne und Schröder, Joachim: „Einstellung zum demokratischem Rechtsstaat: Bedenkenfrei“. Zur Frühgeschichte des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz (!949-1965), Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag (Hrsg.), München 2015.

[3] Vgl. SR REP Bonn to Director, CIA vom 1.5.1953, in: NARA RG 263 Flegel, Arwed.

[4] Buschfort, Wolfgang Geheime Hüter der Verfassung, Paderborn 2004, S. 125.

[5] Vgl. Graber, Siegfried: Splittersammlung, Straßlach 1994, S. 19, in: Critchfield German Collection, Box 4?, Swem Libary. The College of William and Mary, Wiliamsburg, VA.

[6] Vgl. Bundesnachrichtendienst (Hrsg.): 30 Jahre Bundesnachrichtendienst 1956 – 1986, Pullach 1986, S. 5f.

[7] Vgl. Horchem, Hans Josef: Auch Spione werden pensioniert, Herford 1993, S. 33.

[8] Der Spiegel vom 16.4.1952: HEINEMANN – Du bist jetzt Fisch.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. Henke, Klaus-Dietmar: Der Auslandsnachrichtendienst in der Innenpolitik: Umrisse, in: Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes (Hrsg.): Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945-1968: Umrisse und Einblicke, Marburg 2014, S. 90ff.

[11] Das betraf Willy Brandt, Franz Josef Strauß, Hans Globke, Wolfgang Döring, Rudolf Augstein, Elisabeth Noelle-Neumann, Vgl. Hechelhammer, Bodo: Die „Dossiers“. Reinhard Gehlens geheime Sonderkartei, in: Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968, a.a.O., S. 81ff.

[12] Zitiert nach Schmidt-Eenboom, Erich: Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER, Berlin 2004, S. 251.

[13] Der Spiegel vom 19.11.1952: „So etwas wie Feme“

[14] Vgl. Heitzer, Enrico: Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948-1959, Köln 2015, S. 178; Stabenow, recte Stabenau, im Herbst 1950 als DDR-Flüchtling unter dem KgU-Decknamen Ramdor verpflichtet, wurde Anfang 1951 von einem Volkspolizisten nach Ost-Berlin gelockt, von den Sowjets verurteilt und hingerichtet; Vgl. a.a.O., S. 405 und 426.

[15] Vgl. Wortlaut einer Rede vor den Arbeitsgruppen der „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“ zum Deutschlandvertrag 1952, Autoren Heinz Krüger und Helene Wessel, Herausgeber: Zentralbüro der Berliner Arbeitsgruppen der Notgemeinschaft für den Frieden Europas, Alfa-Druck Berlin 6.6.1952.

[16] Vgl. Attachment to EGL-A-10640: GV L Activity Report – 13 July 1953, in: NARA RG 263 Ahrens, Hinrich.

[17] Der Spiegel vom 16.4.1952, a.a.O.