19. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2016

Für eine Union der Vaterländer

von Holger Politt, Warschau

Die Chance ließ er nicht vorübergehen, schnell erklärte sich Jarosław Kaczyński der Öffentlichkeit. Zwar räumte auch er sofort ein, Polen sei mit dem Ausgang des EU-Referendums in Großbritannien und Nordirland in eine unerwartete und schwierige außenpolitische Lage geraten, doch war ihm gleichermaßen die Genugtuung anzumerken, nun den Regierungsgegnern in Polen die Leviten lesen zu dürfen. Doch der Reihe nach.
Die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft ist in Polen hoch geblieben, auch die Wahlsiege von Andrzej Duda im Frühjahr und der Nationalkonservativen im Herbst vergangenen Jahres haben daran wenig geändert. Allerdings verraten die öffentlichen Proteste gegen die Regierungspolitik der Nationalkonservativen im ersten Halbjahr dieses Jahres eine deutliche Polarisierung, die zuvor weniger auffällig gewesen war. Die Regierungsgegner traten von Anfang an unter den polnischen weiß-roten Nationalfarben und dem EU-Blau auf – ein sichtbares Zeichen des Unmutes über den Kurs der nationalkonservativen Regierung. Wenn hingegen die Regierungsanhänger mobilisierten, reichte denen natürlich das weiß-rote Nationaltuch.
Tatsächlich hatte Jarosław Kaczyński, wenn er sein Programm der Stärkung der nationalen Gemeinschaft zu begründen suchte, keine Gelegenheit ausgelassen, mit dem Finger in Richtung Brüssel zu zeigen. Viele seine Gegner verstanden das als Drohung, den bisherigen Weg Polens im Prozess der EU-Integration aufkündigen und verlassen zu wollen – zum Schaden des Landes. Da die frisch ins Amt eingeführte Ministerpräsidentin Beata Szydło als einen ersten symbolischen Schritt die EU-Fahnen aus den Presseräumlichkeiten in ihrem Amtssitz entfernen ließ, war die Konfliktlinie schnell ausgemacht. Auf der einen Seite diejenigen, die sich wieder mehr nationale Souveränität und Unabhängigkeit gegenüber Brüssel wünschten, auf der anderen Seite aber die anderen, die den bislang eingeschlagenen Weg der Integration mit der Gemeinschaft für überaus erfolgreich halten.
Das Abstimmungsergebnis der Briten nutzte nun Kaczyński sogleich, um Anhängern wie Gegnern die Richtung vorzugeben. Polen werde EU-Mitglied bleiben, die Regierung verfolge keine anderen Absichten. Aber die Abstimmung beweise, dass der bisherige Weg der EU-Integration gescheitert sei. Wenn etwas die EU gefährde und untergrabe, dann sei es dieses leichtsinnige Rufen nach einem „mehr Europa“, also nach weitergehender und tieferer Integration, was ja nichts anderes sei, als noch mehr Macht an Brüssel abzugeben – also de facto an Paris und Berlin, an Berlin vor allem!
Und Kaczyński sah sich bestätigt. Nicht er, sondern Donald Tusk – der amtierende Präsident des Europäischen Rates – sei gescheitert, denn das zusammenwachsende Europa könne nichts weiter sein als eine Gemeinschaft souveräner Staaten, eine Union von Vaterländern gewissermaßen. Wenn also jemand in Polen zu der Verantwortung stehe, die sich aus der EU-Mitgliedschaft ergebe, dann sei er das, nicht die lauthals auf den Straßen und Plätzen protestierenden Gegner, die hinter der EU-Fahne ihre wahren, gegen die Bewahrung der nationalen Identität gerichteten Absichten versteckten.
Soweit Kaczyński in aller Deutlichkeit, er wusste die Vorlage, die ihm der Ausgang der britischen Abstimmung plötzlich zugespielt hat, geschickt zu nutzen. Doch natürlich liegt der Teufel im Detail, denn sowohl Staatspräsident Andrzej Duda als auch die führenden Außenpolitiker der PiS-Regierung hatten in den letzten Monaten immer wieder erklärt, dass Polens wichtigster Verbündeter innerhalb der EU eben Großbritannien sei, weil man in London auf größeres Verständnis für die PiS-Vision einer Union von Vaterländern hoffte als anderswo. Dabei störte weniger, dass den Briten insbesondere der EU-Agrarhaushalt, dessen großer Nutznießer vor allem die polnische Landwirtschaft ist, ein Dorn im Auge war. Wichtiger war immer die bremsende Wirkung, die die Londoner EU-Politik auf die Integrationsmechanismen ausgeübt hatte. Hier wurde der starke Verbündete gesucht, um der in PiS-Augen überaus kritisch gesehenen Achse Paris-Berlin standhalten zu können.
Allerdings spielte die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens im Beitrittsprozess Polens tatsächlich keine unwichtige Rolle. Aus der Sicht des Beitrittskandidaten hatte London zum alten Inventar der EU gehört, dessen bremsende Funktion gegenüber Paris und Berlin ein überaus wichtiger Faktor gewesen war. Selbst die überzeugten Befürworter einer tiefgehenden EU-Integration des Landes rechneten immer sehr stark mit der britischen EU-Mitgliedschaft: Man ließ sich auf die Herausforderung der Mitgliedschaft ein, weil im Konzert der Großen um das ausgleichende Gewicht Großbritanniens gewusst wurde. Einer allein dominierenden Achse Paris-Berlin wäre die politische Elite Polens nur höchst ungerne beigetreten. Insofern hat all das nach innen gerichtete giftige Gerede der PiS-Leute über die Zumutungen aus Brüssel, mit denen eine vorgebliche nationale Identität der Landeskinder untergraben werde, einen höchst wichtigen außenpolitischen Rahmen, der durch den nun wohl feststehenden Auszug Großbritanniens aus den Gemeinschaftsstrukturen kräftig ramponiert wird. Warschaus jetzige Versuche, die Visegrád-Gruppe zu aktivieren oder gar in einen festeren Bund mit den baltischen Staaten und Kroatien einzubinden, werden die Leerstelle nicht ausgleichen können.