19. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2016

Düstere Impressionen

von Renate Drommer 

Der folgende Beitrag entstand vor den Amokläufen
und Terroranschlägen in Deutschland.
Er bleibt dessen ungeachtet aktuell in seiner Aussage.
Die Redaktion 

Die Szene könnte aus einem amerikanischen Film stammen:
Sonntag in der Kleinstadt, irgendwo in den Südstaaten. Ein junger Mann sitzt am geöffneten Fenster seines Zimmers, er langweilt sich. Auf der Straße erscheinen zwei Menschen schwarzer Hautfarbe. Er nimmt das Gewehr, legt an und schießt.
So geschehen am Sonntag, 12. Juni 2016 gegen 15 Uhr in Deutschland, im niedersächsischen Lingen. Sechs Kugeln aus dem Luftgewehr schießt der Täter auf seine Opfer. Schwarz ist ihre Haut nicht. Sie sind Flüchtlinge. Das fünfjährige Mädchen kommt aus Mazedonien, der achtzehnjährige Junge ist ein Syrer. Beide werden verletzt. Der Schütze ist einundzwanzig. Er schießt auf die Fremden. Sie stören sein Blickfeld. Das macht ihn wütend. Sie gehören nicht in seine Straße, nicht in seine Stadt, nicht in sein Land. Das tönt täglich aus den Mündern der Politiker, die ihm etwas bedeuten. Sie denken wie er, wie der „kleine Mann von der Straße“. Sie kennen seine Sorgen und sie schüren seine Angst: Angst vor Überfremdung, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Angst vor Überfällen. Doch die Politiker reden nur. Er greift zum Gewehr und schießt.
Das ist eine Straftat. Die Polizei kommt. Sie nimmt dem jungen Mann das Gewehr ab und die Munition. Verhaftet wird er nicht. Er ist frei. Staatsschutz und Staatsanwaltschutz Osnabrück ermitteln gegen ihn wegen gefährlicher Körperverletzung. Gehen sie davon aus, dass der Täter ruhig wartet bis er abgeholt wird? Was, wenn er in der Zwischenzeit einen Brandsatz in die Flüchtlingsunterkunft wirft, die sich ihm gegenüber befindet? In Thüringen und Sachsen müssen sich gerade mutmaßliche Brandstifter wegen eines ähnlichen Deliktes vor Gericht verantworten. Ihre Straftaten datieren vom Oktober und Dezember vergangenen Jahres. Wie schnell die Behörden im niedersächsischen Osnabrück arbeiten, ist unbekannt.
894 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte seien 2015 verübt worden, verkündeten Innenminister Thomas de Maiziere und der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen Ende Juni. Sie verkünden es, als hätten sie nichts damit zu tun, als gehörten Staatschutz und Polizei nicht in ihre Zuständigkeit. Warum hat die Polizei in Lingen den Täter nicht mitgenommen und verhört? Hatten sie kein Auto, keine Handschellen oder keine Zelle frei? Waren sie unterbesetzt an diesem Sonntag? Oder schlimmer noch: Gefiel ihnen die Tat?
Der Fremdenhass hält unvermindert an, Flüchtlinge werden angegriffen, ihre Unterkünfte brennen. Dabei kommen sie kommen doch gar nicht mehr durch zu uns.
Die Politiker tun alles, um Europa abzuschotten. Sie verbauen die Flüchtlingsrouten mit Stacheldraht, kontrollieren mit Frontex, Eurosur und Nato-Schiffen den Seeweg übers Mittelmeer, vereinbaren faule Deals mit der türkischen Regierung. Tun sie all das, um dem „kleinen Mann“ zu gefallen, ihm seine Ängste zu nehmen?
Derweil ertrinken Männer, Frauen und Kinder, die vor Krieg und Verfolgung flüchten müssen, im Meer, 3694 in den ersten sechs Monaten dieses Jahres. Sie riskieren ihr Leben. Auf legalem Weg bekommen sie keine Reisepapiere. Es gibt keine Behörde, die Anträge von Bedrohten und Kriegsopfern entgegen nimmt oder bearbeitet. Flüchtlinge müssen sich in die Hände von Schleppern begeben, eine teuer erkaufte Hilfe, die immer öfter tödlich endet. Die aus den Wellen Geretteten bekommen goldene Wärmedecken nach europäischem Standard. Golden umstrahlt sitzen sie wie Könige aus dem Morgenland an Deck des seetüchtigen Schiffes, das sie an das sichere Ufer bringt. Dort werden sie erneut einem ungewissen Schicksal übergeben. Und selbst die, die es bis nach Deutschland schaffen, sind nicht Bürger wie du und ich. Es sind Fremde. Sie warten geduldig, heute auf dies, morgen auf das, aber immer auf ihre Anerkennung. Das kann dauern. Viel kann passieren, während sie warten. Eines schönen Tages nimmt ein junger Mann sein Gewehr und schießt, weil ihm das Gesicht des Syrers nicht passt, der da gerade an seinem Fenster vorüber geht.
Ursachenbekämpfung? Ein zynisches Politikerwort! In diesem Krieg geht es nicht um Glaubensfragen, Freiheit oder mehr Demokratie. Es geht um den Einfluss Amerikas und der westlichen Großmächte in der arabischen Welt, um ihren Zugang zum kostbaren Öl. Länder wurden überfallen, destabilisiert und ins Chaos gestürzt. Aus dem Chaos erwuchs der Terror der Gotteskrieger. Sie rekrutieren ihre Anhänger auch in Europa. Die Gewalt, die von uns ausging, kehrt zu uns zurück. 65 Millionen Männer, Frauen und Kinder sind auf der Flucht, rund um den Erdball. Was werden wir tun, wenn sie per Handy-Verabredung beschließen, sich gleich Morgen auf den Weg zu machen, zu uns, nach Europa?