19. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2016

„Nachdenken über Europa“

von Hannes Herbst

Unumkehrbar ist weder die europäische Integration
noch der durch sie geschaffene Frieden und Wohlstand.
Martin Schulz,
Präsident des Europäischen Parlaments,
in seinem Geleitwort zu diesem Buch

„Nachdenken über Europa“ präsentiert eine 19 Beiträge umfassende Auswahl aus über 80 Einzelveröffentlichungen in vier Jahrzehnten, in denen sich Winfried Böttcher mit Europa, den Problemen des Kontinents und immer wieder mit möglichen Lösungsansätzen befasst hat. Im Fokus des Autors, der 1973 zum Professor für Politische Wissenschaft mit den Schwerpunkten Internationale Politik, Europa- und Friedenspolitik berufen wurde, stand dabei der westeuropäische Integrationsprozess – von Böttcher verstanden als ein wertebasiertes Befriedungs- und Entwicklungsmodell westlicher Prägung.
Dieser Integrationsprozess griff nach dem Ende des Kalten Krieges auch auf mittel- und osteuropäische Staaten über, ohne dass die EU allerdings das Verhältnis zu Russland ebenfalls auf eine neue, belastbare Basis gestellt oder gar dem größten europäischen Staat zumindest eine Assoziierung angeboten hätte – ein Defizit, das zusammen mit den diversen NATO-Osterweiterungen zu einer maßgeblichen Quelle für die erneuten gefährlichen Spannungen im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland wurde, die mit der Ukraine-Krise 2014 offen ausbrachen.
Winfried Böttcher gehörte dabei allerdings nie zu jenen westlichen Vordenkern (und Entscheidern), die, wenn sie von Europa sprachen oder sprechen, ausschließlich die EU beziehungsweise ein Teileuropa unter Ausgrenzung Russlands meinen und damit zugleich ihrer grundsätzlichen kognitiven Hürde für ein gleichwertiges Verhältnis zu Russland Ausdruck verleihen. Dem setzt Böttcher sein klares Statement entgegen, „dass sich Russland und die anderen europäischen Länder zueinander verhalten wie die Häuser einer Stadt“ und „dass Russland integraler Bestandteil europäischer kultureller Identität ist und bleibt. Wenn wir Russland ausgrenzen, grenzen wir einen Teil der europäischen Identität aus.“
Als Haupthindernisse „für eine Umkehr“ im Verhältnis zu Russland identifiziert Böttcher: „Selbstgerechtigkeit, Kritikunfähigkeit gegenüber eigenem Verhalten, Verteufelung des Gegners […].“
Tatsächlich fehlt eine entscheidende Voraussetzung, „das alte Denken in Einflusssphären auf beiden Seiten“ zu korrigieren, wie Böttcher sehr zu Recht fordert, wenn etwa Russlands Agieren im Hinblick auf die Krim und die Ostukraine genau als Ausdruck solchen Denkens diagnostiziert wird, die EU- und NATO-Osterweiterungen hingegen nicht im Entferntesten einer ähnlichen Messlatte unterworfen werden. Belege für diese Art Selbstgerechtigkeit hat nicht nur die Bundeskanzlerin wiederholt abgeliefert.
Winfried Böttcher soll also in seinem Befund keinesfalls widersprochen werden, allerdings greift er hier, wenn er EU und NATO insgesamt im Blick hat, meines Erachtens trotzdem auf eine Weise zu kurz, die Ansätze wie seinen eigenen Vier-Phasen-Plan für eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland von 2015 (in der vorliegenden Sammlung in dem Essay „Russland und der Westen“ nachzulesen) konterkariert.
Dieser Ansatz soll über Signalisierung guten Willens (Phase eins), Sanktionsabbau (Phase zwei) und Einstellung gegeneinander gerichteter Propaganda (Phase drei) bis zur vollständigen Beseitigung der westlichen Handelsschranken und zur Revision von Teilen der aktuellen russischen Militär- und Sicherheitsdoktrin (Phase vier) führen.
Solchen Überlegungen steht auf westlicher Seite derzeit jedoch mehr entgegen als nur Selbstgerechtigkeit, Kritikunfähigkeit und Verteufelung des Gegners:

  • Da ist zum einen die Washingtoner Attitüde, Russland dauerhaft auf den Rang einer Regionalmacht zurückstufen zu wollen, mit der man allenfalls selektiv und in Bereichen kooperiert, in denen man auf Moskau angewiesen ist.
  • Da sind zum anderen die Falken in den baltischen Staaten und in der derzeitigen polnischen Regierung, die im Verhältnis zu Russland vordergründig auf militärische, auch nukleare Abschreckung setzen. Dafür verfügen sie selbst zwar über kein wirklich substanzielles Potenzial, drängen aber stattdessen auf weiteren Ausbau der Vornepräsenz von Kampftruppen der NATO auf ihren Territorien und laufen damit in Washington, London und Ottawa offene Türen ein. Nach der Beschlusslage des jüngsten NATO-Gipfels in Warschau ist auch die Bundeswehr führend involviert.
  • Und da ist zum Dritten eine Bundesregierung, die in Gestalt der Kanzlerin und insbesondere des Außenministers zwar verbal, jedoch weitgehend substanzlos darauf besteht, den Gesprächsfaden zu Moskau keinesfalls abreißen zu lassen. Praktisch aber trägt sie die antirussische Frontstellung von NATO und EU mit.

Angesichts derart widriger Rahmenbedingungen, zu denen es noch dazu an Entsprechungen auf russischer Seite nicht mangelt, wird es auf absehbare Zeit wohl schon als Erfolg gewertet werden müssen, wenn sich die Eskalationsspirale im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland nicht weiterdreht.
Höchst Lesenswertes bietet die vorliegende Auswahl nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise der EU, der Entsolidarisierungserscheinungen zwischen den Mitgliedsländern, der Renaissance von Nationalismus und Nationalstaatlichkeit. Da erscheint Böttchers „‚kategorischer Imperativ‘ für Europa“, Herausgeber Jürgen Lauer hebt ihn in seinem Vorwort besonders heraus, zwar geradezu wie aus der Zeit gefallen, ist aber von desto größerer programmatischer Relevanz: „Wir brauchen mehr Europa, weniger Nationalstaat und mehr Demokratie.“
Unter dem Blickwinkel der Perspektive ist Böttchers Kernthema sein Plädoyer für ein „Europa der Regionen“ – mit einer Kontinuität seinerseits, die bereits Jahrzehnte währt. „Europafähigkeit durch Regionalisierung“ ist ein Aufsatz betitelt, den Böttcher 1990 veröffentlichte. Seine darin angesichts der „Auflösung des Ostblocks“ geäußerte Hoffnung, der Westen könnte „die Radikalität der historischen Situation als Chance […] nutzen“, zerschlug sich zwar binnen weniger Jahre, und seine Prognose, die Entwicklung werde „die bequemen, einfachen Bündnisstrukturen zerstören“, erfüllte sich nur im Osten, im Westen hingegen wurden sie ausgeweitet und verfestigt. Die europäische Situation 25 Jahre später jedoch lässt die damit verbundenen Fehlentwicklungen offen zutage treten. Dies ließ Winfried Böttcher bereits 2014 mit Überlegungen „Von der Staatsräson zur Regionsräson in einem anderen Europa“ an die Öffentlichkeit gehen. Im Februar 2016 folgten aktualisierte Gedanken „Zur Zukunft Europas in seinen Regionen“. Darin seine Feststellung: „Der Nationalstaat hat seine wichtige historische Funktion erfüllt. […] Er ist […] erschöpft und ein Störenfried eines großen gesamten europäischen Zukunftsentwurfs.“
Vor diesem Hintergrund dekliniert Böttcher dann seinen „kategorischen Imperativ“ eingehend durch. „Was für eine Fülle von Einsichten über Europa, was für ein Geschenk zur rechten Zeit!“, attestiert Johan Galtung, der Gründervater der Friedens- und Konfliktforschung, in seinem Geleitwort. Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

Winfried Böttcher: Nachdenken über Europa. Eine Auswahl aus vierzig Jahren. Herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Lauer, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2016, 291 Seiten, 29,00 Euro.