19. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2016

Luther und die Juden

von Wolfgang Brauer

Bevor das Land im Jahre 2017 im Reformationsrausch versinkt, ist es angebracht, sich auch der dunklen Seiten des Reformators zu erinnern. Natürlich klebte das Blut der Bauern an seiner Hand, er sah das später selbst so. Martin Luther hatte auch seinen Anteil daran, dass gerade in protestantischen Landstrichen Deutschlands die Hexenverfolgungen mit großer Brutalität abliefen. Er warf den als Hexen verfolgten Frauen Teufelsbuhlschaft vor, die schlussendlich in der „schwarzen Magie“ kulminiere. Auch die „schwarze Kunst“ der Zigeuner basiere auf einem Pakt mit dem Teufel. Es war folgerichtig, dass der sächsische Kurfürst August I. 1556 das Ertränken von Zigeunern mit der Lutherschen „Argumentation“ legitimierte. Das Wort des großen Wittenbergers hatte erhebliches Gewicht, zumindest in Predigerkammern und Amtsstuben. Und die erwähnten Massenverfolgungen waren staatlich organisierte.
Den Vorwurf der „Teufelsbuhlschaft“, schlimmer noch: der „Teufelskindschaft“, richtete Luther auch an die Juden. Ausfluss seines fürchterlichen Weltbildes wurde 1543 die Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“, die der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, einen „abstoßenden Text“ nannte. Auch – und das ist bemerkenswert, weil es die tradierten Entschuldigungsmuster Martin Luthers zur Seite schiebt – meint der EKD-Vorsitzende, dass „ein rein historisierendes Verständnis“ gleichwohl nicht ausreiche. Eine offene Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus Martin Luthers ist gerade heute unumgänglich. Die zitierte Bewertung Bedford-Strohms entstammt dem Geleitwort zur Neuausgabe der Lutherschen Schrift, die jetzt bei Berlin University Press erschien. Es handelt sich um eine Neubearbeitung des Luthertextes, versehen mit einer gründlichen Kommentierung – beides besorgt vom Tübinger Judaisten Matthias Morgenstern. Auch Morgenstern betont die Notwendigkeit, dieses „Dokument der Schande“ in einer ungekürzten Fassung neu herauszugeben: „[…] im Vorfeld des Reformationsjubiläums […] muss im Hinblick auf den Sachverhalt Luther und die Juden wirklich alles auf den Tisch. […] Damit ist die Erwartung verbunden, etwas von der Entstehung und von den Konstitutionsbedingungen des modernen Antisemitismus zu begreifen – und zugleich vom Zusammenwirken dieses Antisemitismus mit der aus christlicher Tradition ererbten Judenfeindschaft.“ Er spricht in diesem Zusammenhang von „seit dem 16. Jahrhundert in das evangelische Christentum eingegangene[n] Lebenslügen“.
Luthers Antisemitismus wird auch aus innerkirchlicher Sicht noch als offene Wunde angesehen. Die Bremer Tagung der 12. Synode der EKD vom November 2015 formulierte dies in ihrer Kundgebung „Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum“ deutlich: „Wir tragen dafür Verantwortung zu klären, wie wir mit den judenfeindlichen Aussagen der Reformationszeit und ihrer Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte umgehen. Wir fragen, inwieweit sie eine antijüdische Grundhaltung in der evangelischen Kirche gefördert haben und wie diese heute überwunden werden kann.“ Theologen formulieren vorsichtig: „Wie“ eine solche antijüdische Grundhaltung „überwunden werden“ könne impliziert, dass diese immer noch als real angesehen wird. Die Synode spricht von einem „belastenden Erbe“.
Martin Luthers geradezu rabiate Position des Jahres 1543 gegenüber den Juden war nicht von Anfang bei ihm angelegt. Noch 1521 äußerte er sich vergleichsweise moderat. In „Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt“ meinte er, es sei nicht nur möglich, sondern im Sinne Christi geradezu notwendig, die Juden zu bekehren. Deshalb dürfe man sie „nicht so unfreundlich behandeln“, notfalls solle man sie „mit Frieden“ davonziehen lassen. Keineswegs seien alle „verstockt“. Die Missionierungsnotwendigkeit wiederholte der Reformator im Jahre 1523 mit seiner Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“. Dieses Pamphlet liest sich oberflächlich sehr harmlos – für die luthersche Theologie ist allerdings der Nachweis der Abstammung Jesu aus dem Geschlechte Davids in direkter Linie ein konstituierender Fakt. Wenn die Juden dies nun anzweifeln, so legen sie nach Luthers Auffassung die Axt an die Wurzeln seines weit ausgreifenden theologischen Baumes. Aber 1523 ist er noch frohen Mutes und sah offenbar den Erfolg seiner „Judenmission“ in greifbarer Nähe.
Nach 1537 wendete sich das Blatt. Luther war inzwischen unter den Einfluss des Konvertiten Antonius Margaritha geraten. Zudem glaubte er den durch den Grafen Wolfgang Schlick von Falkenau an ihn herangetragenen Missionierungslegenden die Sekte der Sabbater in Böhmen betreffend. Dem von Kaiser Karl V. als „Vorgänger und Befehlshaber der Juden des Reiches“ anerkannten Josel von Rosheim schrieb er hingegen einen wütenden Brief, in dem er erklärte, die Juden hätten den ihnen von ihm erwiesenen Dienst missbraucht, und er werde sie daher nicht mehr freundlich behandeln. Der „erwiesene Dienst“ war die Bekehrungsabsicht. Ein Jahr später äußerte Luther sich im Brief „Wider die Sabbather an einen guten Freund“ (das ist Graf Schlick): Die Juden seien von Gott verlassen, darum säßen sie „noch immer für und für im Elende“. Dieses Volk sei „böse“ und „verstockt“. Diejenigen, die die Juden nicht bekehren könnten, müssten das Schicksal der Propheten erleiden, „welche von diesem bösen Volk wiederholt erwürgt und verfolgt worden sind“. Irgendjemand muss ihm widersprochen haben, vermutlich der Baseler Humanist Sebastian Münster, das konnte der Choleriker Luther nicht durchgehen lassen.
Frucht seines heiligen Zornes wurde dann 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“. Er gab seiner Hassschrift die Form eines Briefes, adressiert an den schon erwähnten Wolfgang von Schlick. Dieses unappetitliche Machwerk könnte man getrost auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen, wenn es nicht so fürchterliche Langzeitwirkungen gehabt hätte. Es gibt kaum eine auch der unsinnigsten Behauptungen Martin Luthers, die sich nicht auf die eine oder andere Weise im Repertoire der Antisemiten des 20. und des 21. Jahrhunderts wieder findet. Von noch fürchterlicherer Wirkung ist sein „treuer Rat“ zum Umgang „mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden“: „Erstens, dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, […] Zweitens, dass man auch ihre Häuser zerbreche und zerstöre.“ Er empfiehlt dann ihre Unterbringung in Ställen „wie die Zigeuner“. „Drittens, dass man ihnen alle ihre Betbüchlein und Talmudisten wegnehme […].“ Viertens solle den Rabbinern unter Androhung der Todesstrafe verboten werden zu lehren. Fünftens solle man für die Juden das freie Gleit und das Recht zur Benutzung der Straßen aufheben, sowie („sechstens“) ihnen den Wucher verbieten und alle Barschaft und allen Gold- und Silberschmuck abnehmen. Siebentes rät er, jungen und starken Jüdinnen und Juden körperliche Zwangsarbeit aufzuerlegen. Auch solle man die Juden, nachdem man ihnen abgerechnet habe, „was sie uns abgewuchert“ (also nachdem man sie ausgeplündert hat) „zum Land hinaustreiben“. Die Fürsten im „Kernland“ der Reformation ließen sich nicht lange mahnen. Sie folgten dem „treuen Rat“ gern…
Luther fasste seine Schlüsse am Ende der Schrift (der Herausgeber nennt diesen Abschnitt „Wiederholung des Maßnahmekatalogs für Pfarrer“) in Kurzform zusammen. Hier findet sich – obzwar verschlüsselt – eine deutliche Aufforderung an die Adresse „unserer Oberherren“. Sie sollten doch „wie die treuen Ärzte tun, wenn der Brand in die Knochen gekommen ist: Sie verfahren dann unbarmherzig und schneiden, sägen, brennen das Fleisch, die Adern und Bein und Mark ab. Ebenso tue man hier auch.“ Das ist der Punkt, an dem mir beim Lesen das Blut stockte. Im selben Jahre setzte Martin Luther seinem Pamphlet noch ein ekles Krönchen auf: Die Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ ist der Gipfelpunkt seines Judenhasses.
Martin Luther ließ diesem noch in seiner letzten Predigt am 15. Februar 1546 – er starb am übernächsten Tag – freien Lauf. Matthias Morgenstern hat recht: Die Lektüre dieses Textes hat „eine höchst unangenehme Mischung aus Widerwillen, Ekel und Hilflosigkeit zur Folge […]“. Die Sache ist noch lange nicht ausgestanden. Auch für die evangelischen Kirchen nicht. Sie gehört auf den Tisch, denn „entsorgte Texte tauchen wieder auf“. Die bevorstehenden Feiern zum Reformationsjubiläum machen nur Sinn, wenn wir uns auch mit den dunklen Seiten der lutherschen Reformation auseinandersetzen.
Eine wichtige Edition.

Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen. Neu bearbeitet und kommentiert von Matthias Morgenstern, Berlin University Press, Wiesbaden 2016, 328 Seiten, 19,90 Euro.